von Lars Karl

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1. Mai 2005

 Veröffentlichung: Mai 2005

 

"Ich möchte einen Toast auf das Wohl unseres Sowjetvolkes und vor allem auf das des russischen Volkes ausbringen Ich trinke vor allem auf das Wohl des russischen Volkes, weil es die hervorragendste Nation unter allen zur Sowjetunion gehörenden Nationen ist."

(Stalin, 24. Mai 1945)

 


Ausschnitt des Dioramas „Die Stalingrader Schlacht. Vereinigung der Fronten“ (© Lars Karl)

 

22.11.1942, westlich von Stalingrad. Die sowjetischen Stoßkeile, die zur Einkesselung der 6. deutschen Armee unter General Paulus eingesetzt wurden, haben sich vereinigt. Rotarmisten springen von ihren Panzern, laufen durch den Schnee, fallen sich in die Arme. Unter dem rauchigen Himmel flattern rote Banner. Ein jugendlich wirkender und vor Kraft strotzender Infanterist feuert vor Freude MG-Salven in die Luft. Abseits der Verbrüderungsszene gefangene deutsche Landser - in Lumpen gehüllte Gestalten mit aschfahlen Gesichtern.

Die Darstellung des Schlachtendioramas im Erinnerungskomplex von Poklonnaja Gora trägt unverkennbar die Züge der zu Sowjetzeiten allzu exzessiv begangenen Heroisierung und Glorifizierung der Ereignisse an der Ostfront - jener Ereignisse, die schon während ihres Geschehens im sowjetischen Sprachgebrauch als der "Große Vaterländische Krieg" bezeichnet wurden. Die Handschrift der monumentalen, auf Dreidimensionalität ausgerichteten Schlachtengemälde, die dem Betrachter in chronologischer Reihenfolge die sechs wichtigsten Etappen des Sieges vor Augen führen, ist sowjetisch, ihre Erstellung geht jedoch auf das Jahr 1995 zurück. Im Auftrag der Regierung Jelzin erstellte das Grekov-Studio für Schlachtenmalerei in Moskau ein Potpourri im Stil des Sozialistischen Realismus.

 

Aufgang zum „Siegespark“ (Park Pobedy) mit Obelisk  von Z. Cereteli und Hauptgebäude (© Lars Karl)

Aufgang zum „Siegespark“ (Park Pobedy) mit Obelisk von Z. Cereteli und Hauptgebäude (© Lars Karl)

 

Seit nunmehr zehn Jahren ist im Park Pobedy, dem "Siegespark" im Westen Moskaus, dieser monumentale Erinnerungskomplex zu Ehren der russischen Toten des Zweiten Weltkriegs zu bestaunen. Schon die Geschichte des Ortes ist Symbol und Programm. Nach Tolstojs Epos „Krieg und Frieden“ hatte Kutuzov 1812 auf dem „Verneigungshügel“ (Poklonnaja Gora) einen Kriegsrat abgehalten, bevor er sich mit der russischen Hauptstreitmacht aus Moskau zurückzog. Kurz darauf erblickte Napoleon von derselben Stelle aus die zu seinen Füssen liegende Hauptstadt, die nur wenige Tage später in Flammen aufging – das Ereignis, welches den vernichtenden Rückzug der Grande Armée aus dem Osten einleiten sollte. Im Jahre 1941, während der Verteidigungsschlachten um Moskau, hatte das Areal dagegen keine besondere Rolle gespielt. Es war für den „Siegespark“ insbesondere wegen seiner mythischen Verbindung zum „Vaterländischen Krieg“ von 1812 bis 1813 gewählt worden, in dem die Armeen des Zaren den geschlagenen Bonaparte bis nach Paris verfolgt hatten. So schließt sich an diesem Ort der Kreis der Sakralisierung militärischer Siege in der russischen Geschichte.

Der Bau des auf einer Fläche von fast 140 Hektar verteilten Ensembles war von langer Hand geplant worden, der ZK-Beschluß für dessen Errichtung geht bereits auf das Jahr 1957 zurück. Unstimmigkeiten über die Konzeption, Materialmangel und andere Bautätigkeiten entlang des in unmittelbarer Nähe gelegenen Kutusovskij Prospekt verzögerten den Baubeginn jedoch bis ins Jahr 1984. Der damalige Entwurf ist typisch für die während der Brežnev-Ära errichteten Gedenkstätten: Ein zentraler Museumskomplex, umgeben von einem monumentalen Ensemble aus fünf Treppenaufgängen - stellvertretend für die fünf Kriegsjahre - und verziert mit pompösen Reliefs der wichtigsten Kriegsereignisse. Dazu Wasserfontänen mit exakt 1418 Düsen - je eine für jeden Tag des Krieges. Nikolaj Tomskij, damaliger Präsident der Akademie der Künste der UdSSR, lieferte den Entwurf für das gigantische Denkmal, das vor dem Museums- komplex errichtet werden sollte: ein 70 Meter hohes, wehendes Banner aus rotem Granit - stellvertretend für das in den letzten Kriegstagen über dem Reichstag gesetzte Banner der Sowjetarmee. Darunter ein pompöses Relief, auf welchem das Profil des in der damaligen Sowjetunion fast allgegenwärtigen Lenin zu sehen sein sollte. Lenin und Siegesbanner wurden nach diesem Entwurf von einer Gruppe auffällig klein wirkender Sowjetmenschen in die Höhe gehalten. Die aufgrund der Monstrosität des sie überragenden Revolutionsführers fast zu Zwergen degradierten Figuren waren schwerlich dazu geeignet, den Sieg des sowjetischen Volkes im Zweiten Weltkrieg zu versinnbildlichen.

Glasnost' und Perestrojka machten dem Ansinnen der Brežnev-Administration jedoch einen Strich durch die Rechnung. Die Diskussion um das zweifelhafte Vorhaben flammte auf, die Bauarbeiten mussten auf Druck der Öffentlichkeit eingestellt werden. Bis Anfang 1988 hatten sich etwa 470 Alternativentwürfe von Künstlern und Architekten aus allen Teilen des Sowjetreiches angesammelt.

Es blieb lange Zeit unklar, welcher der vielgestaltigen Entwürfe letztendlich in die Tat umgesetzt werden sollte, bis Präsident Jelzin sich persönlich der "Sache" annahm und im Mai 1993 verkündete, der Bau solle innerhalb einer Frist von zwei Jahren - pünktlich zum 50. Jahrestag des Sieges der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg - abgeschlossen sein. Mit der Durchführung seines Plans beauftragte das baufreudige Staatsoberhaupt den für seine termingerechten Lieferungen bekannten - und aufgrund seiner bisherigen Werke höchst umstrittenen - Künstler, Architekten und Bildhauer Zurab Cereteli. Der mittlerweile zum Präsidenten der Russischen Akademie der Künste aufgestiegene Georgier entwarf ein Ensemble, welches sich auch von Fachleuten nur schwer stilistisch einordnen lässt.

Nähert man sich der Anlage von Ferne, fällt zuerst die fast halbrunde Fassade des wuchtigen Hauptgebäudes in den Blick. Aufgrund seiner Monumentalität von den Moskauern oft als "Reichstag" oder "Reichskanzlei" tituliert, bildet der Bau den Hintergrund für das wohl gewaltigste Denkmal der russischen Hauptstadt, den Siegesobelisken: Symbolträchtige 141,8 Meter - zehn Zentimeter für jeden Kriegstag - ragt ein tausend Tonnen schweres Bajonett empor, geschmückt von den in verschiedenen Reliefs eingebetteten Namen der "Heldenstädte". Zu seinen Füßen - Georg der Drachentöter, Schutzheiliger von Moskau und Überwinder alles Bösen. In luftiger Höhe - eine 25 Tonnen schwere Allegorie der Siegesgöttin Nike, begleitet von zwei posaunenblasenden Barockputten. Die Handschrift Ceretelis ist unverkennbar.

 


St.Georg der Drachentöter am Fuße des Obelisken (von Z. Cereteli)... (© Lars Karl)

 

 


Reliefs der „Heldenstädte“ in der Mitte... (Obelisk von Z. Cereteli) (© Lars Karl)

 


... und die Siegesgöttin Nike an dessen Spitze (Obelisk von Z. Cereteli) (© Lars Karl)

 

Die Inneneinrichtung des Hauptgebäudes erinnert teilweise noch an die monumentalen Kriegsgedenkstätten der Sowjetzeit. Neben den bereits erwähnten Dioramen ist in diesem Zusammenhang vor allem die "Halle des Ruhmes" (Zal Slavy) erwähnenswert, die sich ohne weiteres auch in das Mahnmal am Mamaj-Hügel in Wolgograd oder in die Festung von Brest einfügen ließe. In der Mitte der von einer gewaltigen Kuppel überwölbten Marmorhalle strahlt ein überdimensionaler Siegesorden: ein rubinroter Stern mit der Aufschrift "Sieg" (Pobeda). Darunter die überlebensgroße Statue eines in Siegerpose verharrenden Rotarmisten. Entlang der kreisrunden Wand die in weißen Marmor gemeißelten Kolonnen derjenigen Sowjetsoldaten, denen während des Krieges der Titel "Held der Sowjetunion", die höchste militärische Auszeichnung der UdSSR, zuteil wurde. Darüber - ebenfalls in Marmor gehauen - Reliefs der zwölf "Heldenstädte".

 


Die „Halle des Ruhmes“ – das sakral anmutende Zentrum der Anlage (© Lars Karl)

 

 


Bronzeplastik „Der Soldat des Sieges“ von V. I. Znoba (© Lars Karl)

 


Die „Helden der Sowjetunion“ schmücken die Wände des Pantheons (© Lars Karl)

 

Im Vergleich dazu mutet die eine Etage tiefer gelegene "Halle der Erinnerung" (Zal Pamjati) vergleichbar moderat an. Die „Mutter Heimat“ trauert hier als Pietà um ihren gefallenen Sohn - unter einem Himmel von Glasperlenketten, die den Schmerz über die Kriegstoten symbolisieren sollen. In der dem Eingangsbereich zugewandten Hälfte werden die Zeugnisse einer unwahrscheinlich aufwendigen archivarischen Arbeit ausgestellt: "Bücher der Erinnerung" (Knigi Pamjati), in denen - nach den einzelnen Föderationssubjekten der ehemaligen UdSSR unterteilt - Informationen zu all denjenigen verzeichnet sind, welche während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben ließen.

 


Marmorplastik „Die Trauer“ von L. Kerbel’ (© Lars Karl)

 


„Bücher der Erinnerung“, den 26,6 Millionen Gefallenen gewidmet (© Lars Karl)

 

 Neben "Gedächtnis-" und "Ruhmeshalle" befindet sich im Hauptgebäude der Anlage auch das "Zentrale Museum des Großen Vaterländischen Krieges 1941-1945", einer Ausstellung, in der Schaukästen existieren, die man in einem sowjetischen Museum wohl vergeblich gesucht hätte. Neben der Rolle der orthodoxen Kirche finden auch die westlichen Alliierten - nicht zuletzt in den auf mehreren Bildschirmen ablaufenden und überraschend unkonventionell geschnittenen Museumsfilmen - wohlwollende Erwähnung. Insgesamt nimmt sich die auf einer Gesamtfläche von fast 34 000 Quadratmetern verteilte Auswahl an Exponaten jedoch eher spärlich aus: die Ausstellungsstücke wurden auf Anordnung der russischen Regierung aus allen Teilen des Landes zusammengetragen, sehr zum Leidwesen der betroffenen Museen.

 


Ausstellungsvitrine im „Zentralen Museum des Großen Vaterländischen Krieges“ (© Lars Karl)

 

 In Poklonnaja Gora finden sich jedoch auch Elemente einer neuen, traditionalistischen Erinnerungskultur, die dem roten Religionsersatz zugunsten eines "wahren" Glaubens kündigen. Die eher konventionell gestaltete, ebenfalls dem Heiligen Georg geweihte orthodoxe Kirche scheint an eine im vorrevolutionären Russland von staatlicher Seite gepflegte Tradition anknüpfen zu wollen: Bereits im Jahre 1555 ließ Ivan der Schreckliche auf dem Roten Platz aus Anlass des Sieges über seine tatarischen Gegner die Basiliuskathedrale errichten, die jüngst rekonstruierte Christus-Erlöserkirche am Ufer der Moskva verdankt ihre Existenz dem Sieg der russischen Armeen über Napoleon. Militärische Siege fanden vor der Oktoberrevolution stets in groß angelegten Sakralbauten ihren Niederschlag.

 


Kirche des Hl.Georg (© Lars Karl)

 

Doch nicht nur die russische Orthodoxie ist auf dem Gelände des "Siegesparks" in Form eines Gotteshauses vertreten. In einem anderen, für den größten Teil der Besucher wohl eher abgelegenen Teil des Areals befindet sich eine Moschee sowie eine katholische Kirche, stellver- tretend für das religiöse Bekenntnis aller Moslems und Katholiken, die im Krieg auf sowjetischer Seite ihr Leben ließen. Eine Synagoge wurde erst später fertig gestellt - Diskussionen um ihre Errichtung hatten den Baubeginn verzögert. Das jüdische Gotteshaus beherbergt gleichzeitig das erste Holocaust- Museum auf russischem Boden. Finanziert von der International Jewish Foundation zeigt die Dauerausstellung Exponate zur Geschichte jüdischen Lebens in Russland, zum Holocaust und zur Gründung des Staates Israel.

 


Die Synagoge im „Siegespark“ (© Lars Karl)

 

An anderer Stelle regt eine weitere Plastik Ceretelis zum Nachdenken an – „Die Tragödie des Volkes“. Eine Reihe von nackten, ausgemergelten Menschen scheint hier zu kippen und sich schließlich in am Boden liegende Grabsteine zu verwandeln. Neben diesen liegt - auf der Erde aufgetürmt – ein Haufen Schuhe. Die Assoziationen zu einem Holocaust-Mahnmal sind unvermeidlich. Diese Bildhauerarbeit war ursprünglich unter dem Titel „Die Tragödie des jüdischen Volkes“ für Israel gefertigt worden. Schließlich verblieb es aber in Moskau und erhielt seinen nachgeordneten Platz im „Siegespark“, unmittelbar vor den Besuchertoiletten.

 


Skulpturengruppe „Die Tragödie des Volkes“ von Z. Cereteli (© Lars Karl)

 

Kriege waren über Russland gekommen wie der Stundenschlag der Jahrhunderte. Unterwerfung unter die Khane, Besetzung durch Polen und Schweden und blutige Aufstände gegen die Hauptstadt im Land selbst machten die frühe Geschichte Russlands zu einer Chronik von Schlachten. Verteidigungskriege, Eroberungskriege – stets ging es um den Zusammenhalt des Landes oder die Erweiterung seiner Macht- und Einflusssphären.

Das Ansehen des Imperiums und der Ruhm der Herrschenden waren nach offizieller Lesart russischer Geschichte daran zu messen, wie das Land an Umfang wuchs und seine Grenzen verteidigte. Die Regierenden - ob Zar, Generalsekretär oder Präsident - sahen im Volk in dieser Angelegenheit stets nur ein Instrument der Herrschenden. Und nie wurde diese Opferrolle konsequenter gerechtfertigt als in der Verteidigung der Sowjetunion gegen den Überfall Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Opferbereitschaft des Volkes, Heldenmut der Soldaten und der Ruhm des Schlachtherrn schienen alle Höhepunkte russischer Geschichte zu vereinigen. So ist es auch kein Zufall, dass nun auch Präsident Putin seit seinem offiziellen Amtsamtritt am 9. Mai (!) 2000 den Jahrestag des Kriegsendes mit waffenklirrenden Paraden in Erinnerung zu rufen versucht. Das "Volk" soll sich brüsten können mit den Siegen von damals, und ein wenig von des Ruhmes Glanz sollte auch auf die Feldherren der Gegenwart mit ihrem schmutzigen Krieg im Kaukasus fallen.

So entstand auch das gigantische Denkmal für den Sieg im Zweiten Weltkrieg, dessen nach verbauten Betonmassen zu messende Architektur eher den Blick auf die Geschichte verstellt, als dass es sie verkörpert. Zu Zeiten der Perestrojka war noch nach einer weniger aufwendigen, aber stimmungsvollen Alternative gesucht worden. Russlands erster demokratischer Präsident bestand auf einer Lösung, die wuchtig ist, ein Symbol des Triumphes, das der Erinnerung an den Sieg zu dienen hat.

Den hochfliegenden Plänen Jelzins hatte sich der angemessene Partner zugesellt. Cereteli ist energisch wie sein Auftraggeber, sein Lebensstil unterstreicht seinen Sinn für praktische Ökonomie, und er besticht als Mann genialen Formats wenigstens in Fragen der Organisation. Es wäre falsch, das Zusammenwirken des dynamischen Paares allein unter ästhetischen Kriterien bewerten zu wollen. Beide waren Männer mit Visionen und hatten genug Geschick und Entschlossenheit, ihre Vorstellungen auch durchzusetzen - mag die Triebkraft auch größer gewesen sein als der Kunstverstand.

 


Gedenkstein 1945 (© Lars Karl)

 

Zitierempfehlung:

Lars Karl, „Den Verteidigern der russischen Erde...“. Poklonnaja Gora: Erinnerungskultur im potskommunistischen Russland, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die Russische Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“, Mai 2005, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/den-verteidigern-der-russischen-erde