Die Kamera schwenkt vom Laurenziberg aus in der Horizontale über die Prager Kleine Seite, untermalt von Antonio Vivaldis »Frühling« aus den »Vier Jahreszeiten«. Man erkennt die Prager Burg, und in das Blickfeld rückt die Gartenfront des barocken Palais Lobkowicz mit seinem markanten, auf Säulen gestützten südseitigen Balkon. Im ersten Moment könnte der Betrachter einen weiteren Film über das altehrwürdige Prag, seine Prachtbauten und malerischen Gassen hinauf zur Burg vermuten, würde sich nicht jenes merkwürdige, von zahllosen Menschen bevölkerte Zeltlager ins Bild drängen, mit dem der Garten der Deutschen Botschaft zugestellt ist. Es ist Herbst. Wir schreiben das Jahr 1989, und der von den Filmemachern eingesprochene Kommentar beschreibt die Szenerie: Hier in Prag, auf der Kleinen Seite würde gerade eine höchst merkwürdige Feier des bevorstehenden 40. Jahrestages der DDR ihren Höhepunkt erreichen. Die Kamera blickt von oben auf den Platz vor dem Eingang der Botschaft. Die Menschen, die nicht mehr in das völlig überfüllte Gebäude hineingekommen sind, sitzen oder stehen in Gruppen auf dem Bürgersteig. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen. Zwei junge Männer begrüßen einen Neuankömmling und klopfen ihm auf die Schulter. Einige Prager passieren mit leicht irritierten Blicken die Szenerie. Mittendrin zwei Jungen mit Schulranzen auf dem Rücken das Geschehen erheitert kommentierend. Im Hintergrund hört man die Sirene eines Polizeiautos.
Die nächste Einstellung zeigt die mit Autos der Marken Trabant, Wartburg, Lada, Moskwitsch, Dacia und Škoda hoffnungslos zugeparkten Straßen rund um den Kleinseitner Platz und die Karmelitska-Straße. Alle tragen DDR-Kennzeichen. Ständig kommen neue Fahrzeuge an, deren Insassen sich angespannt und hektisch in dem Durcheinander zu orientieren suchen. Begleitet werden die Aufnahmen vom O-Ton eines jungen Mannes, der wie viele andere Prager auf die Kleine Seite gekommen war, um sich dieses merkwürdige Schauspiel anzusehen. Besonders überrascht habe ihn, dass die vom Sozialismus geprägten Ostdeutschen, die ansonsten ihren privaten Besitz hegen und pflegen würden, nunmehr einfach ihre mühevoll erworbenen und instand gehaltenen Autos zurücklassen würden. Offenbar fehle ihnen inzwischen jeglicher Wille, sich in irgendeiner Form mit dem DDR-Regime zu arrangieren. Da könne es einem schon kalt über den Rücken laufen – so der Beobachter.
Gedreht wurden diese und weitere Aufnahmen von einem Kamerateam – im Film ist es kurz im Bild zu sehen – des Studios für Dokumentarfilme in Barrandov am 3. und 4. Oktober 1989. Sie waren ursprünglich allein für Archivzwecke angefertigt worden. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Sturz des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei im Zuge der Samtenen Revolution wurde aus dem Material Ende 1989 ein Kurzfilm zusammengestellt und mit Kommentaren versehen. Er lief 2009 unter dem Titel »Abschied von der DDR« im Tschechischen Fernsehen und verschwand danach im Archiv.[1]
Bei den Filmaufnahmen handelt es sich in mehrfacher Hinsicht um ein einzigartiges Dokument zur Geschichte der Prager Botschaftsflüchtlinge im Sommer und Herbst 1989. Interessant ist der Zeitpunkt der Aufnahmen. Sie entstanden wenige Tage nach jenem historischen Moment, an dem Außenminister Hans-Dietrich Genscher am Abend des 30. September vom Balkon der Botschaft die im Jubel der Menge untergehende Nachricht von der bevorstehenden Ausreise der Flüchtlinge überbracht hatte. Über 4.000 während des Sommers in die Botschaft geflüchtete und dort wochenlang ausharrende DDR-Bürger durften unmittelbar danach die Botschaft verlassen. In Sonderzügen vom Prager Bahnhof Liben konnten sie über das Territorium der DDR in den Westen ausreisen. An eine Entspannung der Lage in Prag war jedoch nicht zu denken. Bereits am Nachmittag des 1. Oktober kamen wieder Flüchtlinge in die Botschaft. Deren Zahl war bereits zwei Tage darauf erneut auf fast 4.000 Personen angewachsen, sodass die Botschaft wegen Überfüllung geschlossen werden musste. Schnell versammelten sich auf dem Vorplatz der Botschaft und in der angrenzenden Vlaská-Straße mehr als 2.000 weitere DDR-Bürger. Die über die Medien verbreitete Nachricht von der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge hatte weitere Ostdeutsche motiviert, kurzentschlossen nach Prag zu reisen und in die Deutsche Botschaft zu kommen. Niemand wusste, wie lange die Möglichkeit, die DDR auf diesem Wege zu verlassen, noch bestehen würde. Gerüchte über eine bald bevorstehende Schließung der Grenze zur Tschechoslowakei machten die Runde. Es gab im wahrsten Sinne des Wortes eine Art Torschlusspanik, die immer mehr Menschen dazu veranlasste, die in jenen Tagen in der DDR-Gesellschaft heiß diskutierte Frage »Gehen oder Bleiben?« für sich im Sinne der Option Prag zu beantworten. Die am 5. Oktober erfolgte Aufhebung der Visafreiheit im Reiseverkehr mit der ČSSR sollte den Kurzentschlossenen Recht geben.
Dass gerade Prag eine solch prominente Rolle für die Fluchtbewegung aus der DDR spielte, ist kein Zufall. Viele DDR-Bürger kannten die Stadt gut, denn sie gehörte zu den beliebtesten Reisezielen der Ostdeutschen und war zudem eine obligatorische Zwischenstation für viele Urlauber, die jeden Sommer in Richtung Ungarn an den Balaton aufbrachen. Zugleich verkörperte die tschechoslowakische Hauptstadt für die Ostdeutschen immer auch ein Stück Westen. Hier traf man sich mit Verwandten aus der Bundesrepublik und ausgereisten Freunden. Die zahllosen Touristen verliehen der Stadt auch in der Zeit der sogenannten Normalisierung nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings ein internationales Flair. Die Verständigung fiel leicht, da viele Tschechen Deutsch sprachen. Prag war schnell zu erreichen, die Orientierung in der Stadt einfach. Bei denjenigen DDR-Bürgern, die noch nicht wussten, wo sich die Botschaft der Bundesrepublik befand, halfen die Prager Taxifahrer nach. Diese »Standortfaktoren« spielten in der aufgeladenen Situation des Herbstes 1989 eine nicht unerhebliche Rolle für die Dynamik der Flüchtlingsströme.
Dem Team der Prager Dokumentarfilmer ist es gelungen, diese aufgeheizte Atmosphäre in der Stadt kurz vor dem Beginn der zweiten großen Ausreiseaktion am 4. Oktober mit der Kamera und zahlreichen O-Tönen festzuhalten. Die Wartenden haben nahezu den gesamten Außenbereich vor der Botschaft in Besitz genommen. Ganze Familien lagern inmitten ihres Gepäcks in Decken gehüllt mitten auf dem Straßenpflaster. Überall stehen Grüppchen von überwiegend jungen Männern, rauchend und diskutierend. Frauen geben heiße Suppe an die Wartenden aus. Ein Krankenwagen fährt vorbei. Als die Kamera durch den Zaun in den überfüllten Botschaftsgarten blickt, winken die dort Umherlaufenden. Die auf der Straße ausharrenden Menschen wirken müde und angespannt, die Bedingungen sind denkbar schlecht, und viele der hier Versammelten müssen die Nacht im Freien verbringen. Dennoch sind dies andere Bilder als jene, die in den Wochen davor über die Sender gelaufen waren. Sie hatten verzweifelte, von der Angst, es nicht mehr zu schaffen, getriebene Menschen gezeigt, die Absperrungen durchbrachen und mit tschechischen Polizisten im Nacken mit allen Mitteln versuchten, über die Zäune und Mauern in die Botschaft zu gelangen.
Es sind vor allem diese Bilder, die sich neben der historischen Balkonszene in die Erinnerung eingebrannt haben. Bilder, in ihrer medial zugespitzten Dramatik wie geschaffen für jenen Sommer und Herbst, in dem ein spektakuläres Ereignis das andere jagte. Die Geschichte der Prager Botschaftsflüchtlinge ist insofern auch unter dem Gesichtspunkt einer umfassenden Medialisierung des Umbruchs von 1989 zu betrachten, die mit den sensationellen Bildern von der Maueröffnung in Berlin ihren Höhepunkt erreichte. Der differenziertere und genauere Blick der tschechischen Dokumentarfilmer mit seinen Szenen aus dem »Alltag« der Flüchtlingsgemeinschaft veranschaulicht, wie weit die Dramatisierung und Zuspitzung des Geschehens um das Palais Lobkowicz durch die Medienberichterstattung reichte. Bis heute dominieren einige wenige, endlos wiederholte Bilder und Sequenzen die Erinnerung an die Botschaftsflüchtlinge. Die tschechischen Aufnahmen sind als Quelle deshalb besonders interessant, weil sie nicht dieser medialen Verwertungslogik unterlagen.
Die Filmaufnahmen dokumentieren auch eine veränderte Stimmung unter den Flüchtlingen aus der DDR: All diejenigen, die nach dem 30. September nach Prag kamen, konnten davon ausgehen, dass sie wahrscheinlich relativ schnell auf ähnliche Weise in den Westen ausreisen könnten, wie ihre Vorgänger in der Botschaft. Dies sah wenige Wochen vorher noch ganz anders aus. Gleichzeitig war allen klar, dass die DDR-Führung eine Fortsetzung dieses beispiellosen Exodus nur um den Preis der Selbstaufgabe weiter hätte dulden können. Diese merkwürdige Mischung aus Zuversicht und nicht völlig entkräfteten Zweifeln kennzeichnet die Stimmung unter den Wartenden. Das Areal wird zu einem Umschlagplatz für Informationen, Gerüchte und Hoffnungen. Eine Informations- und Erfahrungsbörse, die wie ein System kommunizierender Röhren über die Medien mit den Dagebliebenen in der DDR in Verbindung stand. Ohne diese medial vermittelte Kommunikation ist die enorme Dynamik der Fluchtbewegung aus der DDR im Sommer und Herbst 1989 nicht zu erklären. Erst Ungarn, dann Prag und schließlich Warschau – diejenigen, die wegwollten, fanden immer neue Wege, und die Nachrichten über diese Wege verbreiteten sich in Windeseile innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft.
Fast noch wichtiger für die Situation und Stimmung in Prag in den ersten Oktobertagen ist ein Umstand, den die Kamera der tschechischen Dokumentarfilmer eher beiläufig festhält: Die Zugänge zur Vlaská-Straße und zum Platz vor der Botschaft wurden zwar von Polizeikräften mit Gittern abgeriegelt, dennoch passieren immer wieder Menschen die Absperrung ohne Probleme. Der Zustrom weiterer Flüchtlinge wird von der Polizei nur äußerst halbherzig oder inzwischen überhaupt nicht mehr verhindert. Lediglich an dem rückwärtigen Zaun des Palais Lobkowicz patrouillieren Polizisten. Aber dies lag inzwischen auch im Interesse der Botschaft, deren Aufnahmekapazität sich bereits wieder erschöpft hatte. Das Außenministerium der ČSSR hatte sich zudem über Ruhestörungen beklagt, da einige der DDR-Bürger die Botschaft immer wieder über den Zaun kurzzeitig verlassen würden, um sich in den naheliegenden Geschäften mit alkoholischen Getränken zu versorgen. Hinzu kam, dass der direkte Zugang zur Botschaft inzwischen kein Problem mehr war. Eine Frau unter den Wartenden berichtet dem Aufnahmeteam, dass sie über Nacht wegen der Kälte mit ihrer Familie in das Gebäude durfte und dort in einem Bett schlafen konnte. Zwischen den Flüchtlingen in der Botschaft und denjenigen, die draußen ausharren mussten, gab es eine rege Kommunikation, wie der Blick auf die Fenster der Botschaft immer wieder zeigt. Insgesamt wirkt die Szenerie auf den Aufnahmen trotz all der Widrigkeiten deutlich entspannter als in den Wochen davor, als eine Lösung des Flüchtlingsproblems noch ungewiss war. Diese Beobachtung stützen auch die Erinnerungen von Botschaftsmitarbeitern, die für die Zeit vor dem 30. September von einer wachsenden Anspannung, Konflikten und Auseinandersetzungen unter den im Gebäude festsitzenden DDR-Bürgern berichten.
Die tschechischen Sicherheitskräfte machten auch keinerlei Anstalten, das von den Flüchtlingen okkupierte Viertel um die Botschaft zu räumen. Das Filmteam konnte ungehindert drehen und Gespräche mit den wartenden DDR-Bürgern führen. Das veränderte Verhalten der tschechischen Polizei lässt sich erklären, wenn man einen Blick hinter die Kulissen der Beziehungen zwischen der KSČ und der SED wirft. Angesichts des über Wochen und Monate eskalierenden Flüchtlingsproblems konnte hier nur noch mühsam das Bild einer bedingungslosen Solidarität nach außen aufrechterhalten werden. Die Untersuchungen von Oldřich Tůma, der zuerst auf die tschechoslowakische Karte in dem diplomatischen Poker um die Botschaftsflüchtlinge hingewiesen hat,[2] und die inzwischen von Vilem Prečan herausgegebenen Dokumente zur Haltung der tschechoslowakischen Seite in dieser Frage belegen,[3] dass die Interventionen aus Prag zu einem entscheidenden Einflussfaktor für die politische Lösung des Flüchtlingsproblems wurden. Den wichtigsten Zäsuren in der Geschichte des politischen Tauziehens um die Botschaftsflüchtlinge gingen jeweils »bestimmte Initiativen aus Prag in Gestalt eines obzwar diskreten, aber vergleichsweise starken Druckes«[4] voraus. Dies gilt für die von der DDR-Führung getroffenen Entscheidungen, Ende September und Anfang Oktober die Ausreise mit Sonderzügen über das Territorium der DDR in die Bundesrepublik zuzulassen und im November die direkte Ausreise ihrer Bürger über die ČSSR in den Westen zu dulden. Die endlosen Schlangen der Autos mit DDR-Kennzeichen, die daraufhin in Westböhmen in Richtung der Grenze zur Bundesrepublik anstanden, sind insofern ein direktes Vorspiel jenes Theaterstücks vom 9. November 1989, als Günter Schabowski die neuen Regelungen über die Ausreise aus der DDR mit ihren bekanntermaßen gravierenden Folgen verkündete. Die Filmaufnahmen vom 3. und 4. Oktober spiegeln die schwindende Bereitschaft der tschechoslowakischen Seite, angesichts der sich immer wieder anbahnenden humanitären Katastrophe die Lasten der ungelösten Probleme in der DDR zu tragen auf ihre Weise. Sie zeigen eindrucksvoll, wie die Sicherheitskräfte vor Ort aufgrund der Wucht der Flüchtlingswelle kaum noch Anstrengungen unternehmen, den Zustrom in das Botschaftsviertel zu verhindern, und nur noch resigniert und mit wachsender Nachlässigkeit die Kulissen der Ordnungsmacht aufrechterhalten.
Die Diplomatiegeschichte der Lösung des Flüchtlingsproblems in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag ist inzwischen gut erforscht und dokumentiert. Die berühmte Balkonszene vom 30. September wurde anlässlich des 20. Jahrestages der Ereignisse medial aufwendig mit ihrem Hauptakteur Hans-Dietrich Genscher rekapituliert und inzwischen auch filmisch inszeniert. Die historischen Aufnahmen von der Bekanntgabe der Ausreise gehören inzwischen zu den ikonografischen Bildern des politischen Umbruchs in Ostmitteleuropa und der deutschen Vereinigung. Demgegenüber ist relativ wenig über den Alltag jener Flüchtlingsgesellschaft, deren soziale Zusammensetzung, mentale Dispositionen und Binnenverhältnisse bekannt, die immerhin für eine geraume Zeit die Prager Kleine Seite bevölkerte. Die Aufnahmen der tschechischen Dokumentarfilmer sind auch deshalb so bemerkenswert, weil sie die Aufmerksamkeit genau auf diese Fragen richten. Die Botschaftsflüchtlinge erhalten eine Stimme und ein Gesicht. Die Kamera zeigt, wie sich ihre Zusammensetzung verändert hat. Die ins Bild rückenden Menschen, unter ihnen auffällig viele Familien mit Kindern, bilden einen Querschnitt durch die gesamte ostdeutsche Gesellschaft. Es sind nicht mehr nur die Jüngeren, die gehen wollen, sondern auch viele, die ein relativ abgesichertes Leben mit einem mühsam erworbenen bescheidenen Wohlstand in der DDR zurücklassen. »Ich war Lehrer, mein Mann war Architekt. Eigentlich hatten wir alles in der DDR, wir hatten ein Haus, einen Bungalow, ein Auto. Mit unseren drei Kindern hätten wir eigentlich zufrieden sein können mit unserem Leben in der DDR, aber ich sehe für meine Kinder keine Zukunft mehr in diesem DDR-Staat« – so die durchaus typische Antwort einer Frau auf die Frage nach den Gründen für ihre Entscheidung, kurzentschlossen nach Prag aufzubrechen. Auch viele andere DDR-Bürger, die von dem Kamerateam interviewt werden, berichten, dass sie sich angesichts der Nachrichten über die erfolgreiche Ausreise der ersten großen Gruppe der Botschaftsflüchtlinge spontan entschieden haben, nach Prag zu fahren. Die von den Befragten genannten Motive für ihre DDR-Verdrossenheit dokumentieren das ganze Ausmaß der in der ostdeutschen Gesellschaft angestauten Probleme: eine marode Wirtschaft, politische Bevormundung, fehlende Perspektiven, die Privilegien und Weltfremdheit der politischen Führung, Repressalien gegen kritische Stimmen und Andersdenkende, eine desolate Infrastruktur »mit kaputten Straßen, dreckigen Häusern und leeren Geschäften«, Honeckers Ablehnung der Politik Gorbatschows, Angst vor »chinesischen Verhältnissen« und der Unmut über ausbleibende Veränderungen – so klingt die kollektive Absage an den »Sozialismus in den Farben der DDR«.
Besonders aufschlussreich ist, wie die befragten Flüchtlinge über sich und die DDR sprechen. Fast alle reden von ihrem bisherigen Leben in der DDR und den damit verbundenen Frustrationen in einer distanzierenden Vergangenheitsform, als ob es sich um ein bereits weiter zurückliegendes und abgeschlossenes Kapitel der eigenen Biografie handele. Ein junger Mann spricht von »da drüben«, wenn er über die DDR schimpft. All dies sind deutliche Indizien dafür, dass die in Prag versammelten DDR-Bürger mental bereits ihre Verwandlung in Bundesbürger vollziehen. Entsprechend häufig und durchaus optimistisch sondieren die Betroffenen ihre Lebenschancen im Westen. Diese vorauseilende Ankunft im Westen wurde auch durch die Art und Weise unterstrichen, in der die politische Lösung des Flüchtlingsproblems in der Botschaft und über die Medien kommuniziert wurde. Die sichtbare politische Instanz, von der die Flüchtlinge eine Lösung ihrer Probleme im doppelten Wortsinn erfuhren, war die Bundesregierung, waren Außenminister Genscher und Kanzleramtsminister Seiters auf dem Balkon der Botschaft, nicht wie bisher Anwalt Wolfgang Vogel, nicht die unter Druck handelnde DDR-Führung oder die sich angesichts der Krise und des Massenexodus zunehmend artikulierende Bürgerbewegung. Jener meist an den Leipziger Montagsdemonstrationen festgemachte Wandel von einer gewünschten und geforderten Veränderung der DDR zu einer zunehmend lautstarker verlangten deutschen Einheit vollzog sich bereits in Prag innerhalb der dort versammelten Flüchtlingsgemeinschaft. Der Titel des Films »Abschied von der DDR« konnte insofern kaum treffender gewählt werden.
Die meisten Darstellungen und Dokumentationen zu den Vorgängen um die Botschaft der Bundesrepublik in Prag im Sommer und Herbst 1989 richten ihren Fokus allein auf die Botschaft und die in ihr versammelten Flüchtlinge. Das tschechoslowakische Umfeld, die Reaktionen der Prager Bevölkerung und deren Umgang mit den durch den Flüchtlingsansturm entstandenen praktischen Problemen – die mit zurückgelassenen Autos verstopften Gassen war nur das augenfälligste davon – bleiben weitestgehend ausgespart. Ganz zu schweigen von der seismografischen Erschütterung, die der massenhafte Exodus der bei den Tschechen ansonsten eher unbeliebten DDR-Bürger in der bislang noch ruhig gebliebenen tschechoslowakischen Gesellschaft auslöste. Die Filmaufnahmen nehmen diesen Kontext in den Blick. Ins Bild rücken neben den Flüchtlingen auch die Prager, die das Schauspiel auf der Kleinen Seite teils irritiert und teils fasziniert verfolgen. Die vom Filmteam befragten DDR-Bürger berichten von freundlichen Taxifahrern und Prager Bürgern, die ihnen dabei geholfen hätten, zur Botschaft zu finden. Man habe viel Sympathie erfahren. Die Kamera spart aber auch die eher unschönen Begleiterscheinungen des Flüchtlingsdramas nicht aus: Gezeigt werden die eingeschlagenen Scheiben in manchen der von den Flüchtlingen zurückgelassenen Autos, die bereits zum Zweck der Ersatzteilgewinnung geplündert worden waren. Nachfragen des Kamerateams etwa nach den Preisen für ein Taxi vom Prager Hauptbahnhof zur Botschaft offenbaren, dass es natürlich auch einige unter den Pragern gegeben hat, die die Situation der DDR-Bürger ausgenutzt haben.
Insgesamt jedoch hat das Prager Drama um das Palais Lobkowicz dazu beigetragen, dass sich die Meinung der Tschechen über die Ostdeutschen zum Positiven wendete. Der Mut und die Entschlossenheit der Flüchtlinge nötigten vielen Tschechen Respekt ab. Das, was »einem Naturereignis gleich« (Oldřich Tůma) über die Stadt hereingebrochen war, veränderte auch die Atmosphäre in der tschechoslowakischen Gesellschaft. Auch hier begannen die Menschen lauter und entschiedener als bisher grundlegende Veränderungen einzufordern. Petr Pithart, Mitunterzeichner der Charta 77 und Mitbegründer des Bürgerforums, hat diesen mentalen Wandel eindrucksvoll beschrieben: »Die Entfernung zwischen Freiheit und Unfreiheit ließ sich damals in den Straßen der Kleinseite messen. Es handelte sich um einige wenige Meter. Drei Tage stand ich lange nächtliche Stunden in der Karmeliterstraße, wo die Straße Tržiště einmündet – ein paar hundert Meter bergaufwärts steht das Gebäude der Botschaft der BRD. Wir standen dort zu Hunderten – schweigende, dichtgedrängte Zuschauer eines in Bann ziehenden Schauspiels: Sieh, wie man das macht, wenn man sich die Freiheit nehmen will!«[5]
Die Filmaufnahmen vom 3. und 4. November 1989 laden als Quelle dazu ein, sich das Botschaftsdrama jenseits der spektakulären Medienbilder mit all seinen Facetten, in seiner Alltäglichkeit, mit seinen sozialen und mentalen Dynamiken und mit Blick auf seine vielen individuellen Gesichter und Geschichten zu vergegenwärtigen. Sie laden auch dazu ein, jene glückliche Verkettung der Umstände zu reflektieren, mit denen die einst »notorisch verlachten DDRler« die Tschechen dazu ermutigten, »nicht mehr auf dem Bürgersteig stehen zu bleiben«.[6]
Die Prager Botschaftsflüchtlinge waren in der Erinnerung an die friedliche Revolution von 1989 in der DDR lange Zeit nicht gerade die beliebtesten Kinder. Unter der Hand wurden ihnen nicht selten allein wirtschaftliche Motive unterstellt. Zudem schienen sich manche der Konflikte und Meinungsverschiedenheiten zwischen den sogenannten Ausreisern und denjenigen, die in der DDR bleiben und das Land verändern wollten, auch in der Erinnerung abzulagern. Dies hat sich inzwischen geändert. Der Film »Abschied von der DDR« liefert einen genauen und ungeschminkten Blick auf die Menschen, die mit ihrem Tun, ohne es damals schon wissen zu können, ein ganz großes Rad der Geschichte drehten.
Der Text erschien erstmals in: ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2009, Hg. von Martin Sabrow, Wallstein-Verlag 2010.
[1] Loučení s NDR. Zpravodaj krátkého filmu, Studio dokumentárních filmu, 1990. Für den Hinweis auf den Film danke ich Muriel Blaive, die bei Archivrecherchen auf das Material gestoßen ist.
[2] Oldřich Tůma, 9:00, Praha-Libeň, horní nádraží. Exodus v chodních Němců přes Prahu v září 1989 (9:00, Prag-Libeň, Oberer Bahnhof. Der Exodus der Ostdeutschen über Prag im September 1989), in: Soudobé dějiny 6 (1999), S. 147-164.
[3] Ke svobodě přes Prahu. Exodus občanů NDR na podzim 1989. Sborník dokumentů (Über Prag in die Freiheit, Der Exodus der DDR-Bürger im Herbst 1989. Dokumentensammlung), hg. v. Vilém Prečan, Prag 2009.
[4] Vgl. Tůma, 9:00, Praha-Libeň, S. 150.
[5] Vgl. Petr Pithart, Nicht auf dem Bürgersteig stehen bleiben, in: Das Palais Lobkowicz. Ein Ort deutscher Geschichte in Prag, hg. v. Harald Salfellner und Werner Wnendt, Prag 1999, S. 53.
[6] Ebenda, S. 54.