von Anne Fleckstein

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1. Juni 2010

Als der französische Philosoph Jacques Derrida 1998 nach Südafrika kam und ein Seminar mit dem Titel „Archive Fever“[1] an der University of the Witwatersrand in Johannesburg abhielt, beschrieb er in seinem Vortrag die südafrikanische Wahrheitskommission als „an archive against memory“[2]. Eine geradezu infam anmutende Feststellung über ein Projekt, welches sich doch genau dem Nicht-Vergessen des Vergangenen verschrieben hatte. Was konnte er damit gemeint haben?

Die Truth and Reconciliation Commission (TRC) in Südafrika, von der Derrida hier sprach, widmete sich von 1996 bis 2002 der Aufarbeitung der Apartheidvergangenheit und insbesondere von Menschenrechtsverletzungen im Zeitraum 1960 bis 1994. Erklärtes Ziel war es, einen landesweiten und öffentlichen Prozess der Vergangenheitsaufarbeitung in Gang zu setzen, der das Ende des Apartheidregimes und den Beginn eines neuen demokratischen Südafrikas markieren sollte. Als zentral wurde dabei das Herausfinden und öffentliche Erzählen der „Wahrheit“ über historische Ereignisse erachtet, um auf diese Weise die nationale Versöhnung einer durch die Apartheid zerteilten Gesellschaft zu befördern. Drei Komitees wurden eingesetzt, die sich jeweils den Aussagen und Erzählungen von Opfern, der Gewährung von individueller Amnestie für Täter unter der Bedingung einer kompletten Offenlegung von politisch motivierten Menschenrechtsverletzungen und der Reparation und Rehabilitation von Opfern widmeten. Großes nationales und internationales Interesse erregten vor allem die öffentlichen Anhörungen, in denen sowohl Opfer und deren Angehörige (1996-1997) als auch Täter von Menschenrechtsverletzungen, die um Amnestie ersuchten (1996-2000), gehört wurden. 1998 erschienen die ersten fünf Bände des abschließenden Berichtes, 2003 schließlich die letzten beiden Bände, mit denen die Arbeit der TRC beschlossen wurde.

Die daraus hervorgegangenen Materialien – vom Abschlussbericht, den Aufnahmen und Dokumenten, Büchern, Plakaten, Transkripten und Akten bis zur elektronischen Datenbank – haben ein Archiv geschaffen, welches man als Teil einer neuen Geschichtsschreibung in Südafrika begreifen könnte. Darin eingegangen sind über 22 000 Zeugenaussagen zu Fällen von Menschenrechtsverletzungen, von denen 10 Prozent öffentlich gehört wurden. 7 000 Anträge auf Amnestie wurden gestellt, wovon 2 500 in der Öffentlichkeit verhandelt wurden. Investigative Recherchen wurden angestrengt, um Fälle von Menschenrechtsverletzungen, bislang nicht hinreichend belegte historische Ereignisse oder Strukturen staatlicher Gewaltausübung aufzuklären. Ortsbegehungen und Exhumierungen fanden statt, um sich ein Bild von vergangenen Geschehnissen zu machen und den Familien verschwundener Opfer einen späten Abschied zu ermöglichen. Polizei-, Kranken- oder Militärakten wurden (soweit zugänglich und vorhanden) eingesehen, Zeitungsarchive konsultiert, Zeitzeugen befragt. Die Aktivitäten der TRC in all ihren unterschiedlichen Bereichen generierten einen Materialkorpus, der während und nach ihrer Arbeit der Öffentlichkeit nur zu einem kleinen Teil bekannt wurde.

Der die Wahrheitskommission begründende Gesetzestext von 1995, der Promotion of National Unity and Reconciliation Act[3]legte zunächst nicht fest, was mit den Primärquellen, den Informationen und Dokumenten, die aus der Arbeit der Kommission hervorgehen, geschehen sollte. Dabei war die Frage nach der Archivierung und Zugänglichkeit der Akten, nach den Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten von Archiven ein besonders heikler Punkt: Die TRC selbst strengte eine Untersuchung zur Zerstörung von „state-sensitive documentation“ zu Apartheidszeiten an, aus der hervorging, dass trotz und jenseits des Archives Act von 1962 (der die Zugänglichkeit von staatlichen Dokumenten in Archiven regelte) innerhalb der einzelnen staatlichen Stellen bis 1990 routinemäßig in großem Ausmaß und mit der Begründung der gefährdeten Staatssicherheit Akten und Dokumente zerstört worden waren, die vorgeblich nicht unter den Archives Act fielen. Von dieser systeminhärenten Praxis der staatlichen Apparate im Apartheidsregime unterschied die Wahrheitskommission in den Ergebnissen ihrer Untersuchung die Zerstörung von Akten im Zeitraum 1990 bis 1994, in der Übergangszeit also, in der die politischen Verhandlungen liefen, um die Basis für die ersten freien demokratischen Wahlen und den grundlegenden politischen Wandel in Südafrika zu schaffen. Diese Zerstörung diente laut TRC-Bericht der systematischen Löschung kompromittierenden Beweismaterials und der Verschleierung von strukturellen Zusammenhängen des Apartheidsystems in Erwartung einer neuen demokratischen Regierung. Über diese Untersuchungsergebnisse hinaus hielt der Bericht fest, dass auch TRC-Mitarbeitern selbst der Zugang zu den Archiven der staatlichen Sicherheitsorgane – wie z. B. der South African National Defence Force (ehemals South African Defence Force) –, aber auch politischer Bewegungen und Parteien aller Richtungen erschwert worden war. Mehr noch: Laut Bericht war beispielsweise die National Intelligence Agency – der südafrikanische Geheimdienst – bis November 1996 immer noch mit der Vernichtung interner Dokumente beschäftigt.[4] Das Resultat dieser fortlaufenden „elimination of memory“[5] wurde deutlich benannt:

"Clearly, the work of the Commission suffered as a result. Numerous investigations of gross human rights violations were hampered by the absence of documentation. Ultimately, of course, all South Africans have suffered the consequences – all are victims of the apartheid state’s attempted imposition of a selective amnesia.“[6]

Vor diesem Hintergrund war die Frage, wie die TRC selbst mit der Archivierung und Dokumentierung ihrer Arbeit verfahren sollte, von zentraler Bedeutung. 1996, als die TRC bereits ihre Arbeit aufgenommen hatte, wurde im Parlament der sogenannte National Archives and Records Service of South Africa Act verabschiedet, der den Archives Act  von 1962 ersetzte und den National Archives and Records Service (kurz: National Archives) als das Organ einsetzte, welches für die Archivierung aller im öffentlichen und staatlichen Interesse liegenden Materialien und deren Zugänglichkeit verantwortlich ist.[7] Sich darauf beziehend wies der TRC-Abschlussbericht 1998 auf die Verfügung des Justizministers hin, derzufolge das Primärarchiv der TRC in seiner Gesamtheit dem Nationalarchiv überantwortet werden sollte, um die öffentliche Speicherung und Zugänglichkeit zu gewährleisten und in Fällen des Datenschutzes zusammen mit dem Justizministerium darüber zu entscheiden, ob Zugang zu den Materialien gewährt werden kann.[8] Diese Entscheidung, alle Materialien der TRC ins Nationalarchiv zu transferieren, fiel offensichtlich erst im Laufe des Arbeitsprozesses der TRC. Sie wird noch einmal wiederholt in den „Recommendations“, die die TRC im ersten Teil des Abschlussberichtes von 1998 an den Staatspräsidenten abgab.[9] 2001 wurde schließlich der Promotion of Access to Information Act (kurz: PAIA)[10] verabschiedet, der die Zugänglichkeit und Transparenz von Informationen staatlicher Institutionen als eines der grundlegenden Menschenrechte in Südafrika implementierte.

Soweit die Intentionen und die legislativen Instrumente. Die Archivwirklichkeit sieht heute jedoch anders aus: Zwar wurde das TRC-Archiv 2001/02 vom Justizministerium dem Nationalarchiv übergeben, jedoch mangelt es bis heute an finanziellen Kapazitäten und Fachkräften, um die Bearbeitung des Archivmaterials zu gewährleisten. Erst 2004 wurde es möglich, im Nationalarchiv Zugang zu den von vornherein als öffentlich zugänglich deklarierten Materialien zu erhalten, ohne vorher das Justizministerium konsultieren zu müssen. Eine große Anzahl von TRC-Materialien wurde zudem von Mitarbeitern der TRC entwendet und ist gar nicht ins Nationalarchiv eingegangen, sondern lagert – mutmaßlich weniger aus Böswilligkeit als aus mangelndem Vertrauen in die staatlichen Stellen – in kleineren, unabhängigen Archiven oder im Privatbesitz der ehemaligen Mitarbeiter. Einige Materialien wiederum sind ebenfalls nicht im Nationalarchiv, sondern im Fundus des Justizministeriums und des sogenannten „President’s Fund“ verblieben. Unklar ist, was mit der enormen elektronischen Datenbank der TRC passiert ist und inwiefern diese Daten prozessiert, gesichert und zugänglich gemacht werden könnten. Das Video- und Audiomaterial, welches von der South African Broadcast Corporation (kurz: SABC) über die TRC im Auftrag des Justizministeriums erstellt wurde, ist nur lückenhaft als Kopie im Nationalarchiv vorhanden, kann aber bei der SABC vollständig käuflich erworben werden. Über mehrere Jahre war es – trotz PAIA – zudem gängige Praxis des Justizministeriums, Anträge auf Akteneinsicht in nicht frei zugängliche Materialien zu verschleppen bzw. kategorisch abzulehnen.

Weitere Empfehlungen des TRC-Berichts, die den Umgang mit Daten und Dokumenten aus der Apartheidszeit behandeln, sind bisher unbeachtet geblieben. Dies betrifft vor allem den Verbleib und die Zugänglichkeit von Archiven in den Nachfolgeinstitutionen der Sicherheitsorgane der Apartheidszeit. Der Empfehlung der TRC, das Nationalarchiv solle sogenannte „centres of memory“ einrichten, in denen das TRC-Archiv einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht würde, sowie eigene Nachforschungen und Oral-History-Projekte anstrengen, um das eigene Archiv zu „komplettieren“,[11] wurde aus Mangel an personellen Kräften und finanzieller Ausstattung sowie wegen der politischen Rahmenbedingungen nicht nachgegangen.[12]

Diese Probleme der Vollständigkeit und Zugänglichkeit des Archivs scheinen in einem seltsamen Kontrast zum eigentlichen Projekt der TRC zu stehen. Verne Harris, der sich als Liaison Officer zwischen der TRC und dem Nationalarchiv sowie als Direktor des unabhängigen South African History Archive wiederholt für die Zugänglichkeit des TRC-Archivs und die Durchsetzung des PAIA einsetzte, schreibt über den Umgang mit dem TRC-Archiv:

„[…] the TRC necessarily soaked up fear of and fatigue with the past, together with a desire to simply get on with things – thus becoming, beyond the intentions of its creators and the aims of its commissioners and staff, an instrument of collective forgetting.”[13]

Die Seite umblättern, nach vorne blicken – Archivierung erscheint hier als ein Akt des Zukünftigen nicht durch die Aufarbeitung, sondern das Vergessen des Vergangenen. Das entspricht der paradox anmutenden, unabdingbaren Verknüpfung von Vergessen und Gedächtnis in allen Archivunternehmungen: Der alltägliche Akt einer schriftlichen Notiz dient letztendlich immer dem Zweck, etwas zu speichern, um sich daran zu erinnern, ohne es im Gedächtnis behalten zu müssen. Ein Archiv der Vergangenheit zu schaffen, wie es die TRC tat, das Erinnerungen an einem Ort sammelt und aufbewahrt, um alsdann oder dadurch mit ihnen abschließen zu können, mag somit bereits im Archivgedanken als solchem begründet liegen.

Könnte Derrida mit dem „archive against memory“ diesen Aspekt gemeint haben? Schaut man sich den südafrikanischen Fall noch einmal genauer an, lohnt es, den Archivbegriff einer differenzierteren Betrachtung zu unterziehen. Archiv benennt zum einen den Ort, an dem eine Sammlung von Dokumenten, Urkunden und Akten untergebracht ist. Zum anderen umschreibt der Begriff die systematische Erfassung und Erhaltung der Dokumente: ein System mit seinen eigenen Abläufen und Gesetzlichkeiten. Ein Archiv ist, wie Michel Foucault gezeigt hat, nicht einfach die voraussetzungslose Ansammlung von Zeugnissen vergangener Ereignisse. Vielmehr bildet es das Gesetz der diskursiven Praktiken, „die die Aussagen als Ereignisse (die ihre Bedingungen und ihr Erscheinungsgebiet haben) und Dinge (die ihre Verwendungsmöglichkeit und ihr Verwendungsfeld umfassen) einführen“.[14] So ist es angebracht, auch beim TRC-Archiv dem „historischen Apriori“[15] nachzugehen, sprich: den Bedingungen für Aussagen, unter denen im Archiv Ereignisse erst zu solchen werden können.

Die Bedingungen dafür, wie aus Aussagen Ereignisse werden, lassen sich – allein die sprachliche Übereinstimmung scheint es anzubieten – an den Statements (zu deutsch: Aussagen) von Opfern und Zeugen von Menschenrechtsverletzungen kurz umreißen. Dem Statement, welches im TRC-Archiv als eine auf Englisch geschriebene Zusammenfassung eines chronologischen Ablaufs von Ereignissen auftaucht, liegt in fast allen Fällen ein mündliches Gespräch des Zeugen mit einem Mitarbeiter der TRC zugrunde. Vom ersten Kontakt eines Zeugen mit der TRC bis zu seinem Ort im Archiv durchläuft das Statementzahlreiche Übertragungsvorgänge, die einem festgelegten systematischen Ablauf folgen: vom Abfragen bestimmter Daten, den Befragungstechniken, der Übersetzung ins Englische, dem Aufschreiben, der chronologischen Ordnung und dem Eintragen des Erzählten in ein Formular durch den Statement Taker; über das Registrieren, Nummerieren, Zusammenfassen, Kategorisieren und Einspeisen in die zentrale TRC-Datenbank (die mit der Aufspaltung in modulare Einheiten die Grundlage für Listen, Tabellen und Aufstellungen nach unterschiedlichen Schlüsselkriterien bildet); bis hin zu der eventuellen Modifizierung bzw. Ergänzung des Statements durch die mündliche Aussage in öffentlichen Anhörungen. Ganz am Ende dieser Prozessierung taucht das Statement schließlich als ausgewählter Beispielfall oder auch als kurze Zusammenfassung eines Opferschicksals im Abschlussbericht auf. Es ist das diachrone und synchrone Ineinandergreifen unterschiedlichster Übertragungs- und damit auch Exklusions- und Inklusionstechniken, die die ursprüngliche Aussage als wahrhaftige autorisieren, auf eine bestimmte Weise formatieren und transformieren und sie so in die neue Geschichtsschreibung Südafrikas aufnehmen, also zu einem historischen Ereignis machen. Die administrativen, juridischen und medialen Techniken und Abläufe, die dieses Regelwerk umschreiben, bilden nicht weniger das Archiv als die an einem Ort gesammelten Materialien.

Nicht nur „Truth“, sondern auch „Reconciliation“ hatte sich die TRC zum Ziel gesetzt. Wahrheit sollte die Bedingung für Versöhnung sein – jedoch lässt sich dies auch umgekehrt argumentieren. Die Rekonstruktion einer geschichtlichen Wahrheit könnte sich letztendlich dem Ziel untergeordnet haben, einen Punkt in der Zukunft zu erreichen, an dem man sagen konnte: so ist es gewesen – und nun reichen wir uns die Hände und schauen nach vorne. Dieser Gestus des „So-wird-es-gewesen-seins“,[16] eine Form des „prospektiven Sprechens“, der das Erzählen und Herausfinden von geschichtlicher „Wahrheit“ in der TRC zum Zeitpunkt ihres Bestehens geprägt haben könnte, macht nicht zuletzt die politischen Rahmenbedingungen deutlich, unter denen die Kommission ihre Arbeit getan hat. Mit ihrer Einrichtung autorisierte die TRC eine neue demokratische Regierung, der es gegeben war, ein Land zu regieren, welches wirtschaftlich am Boden lag, von anhaltenden Rassenunruhen geprägt war und dessen ungeduldige und seit jeher unterdrückte und arme Bevölkerungsmehrheit auf Freiheit, Wohlstand und Anerkennung ihrer persönlichen Rechte und ihrer Geschichte pochte. Die weiße Elite, in deren Händen die wirtschaftlichen Ressourcen, das Know-How und nach wie vor ein großer Teil des Machtapparats lagen, musste gegen eine kollektive Hexenjagd versichert werden, damit sie das Land nicht exodusartig verließ. Der ausgehandelte friedliche Übergang vom Apartheidsstaat zur Regenbogennation ließ keine Siegerjustiz zu. Die TRC war somit Ausdruck eines politischen Kompromisses, sie war das Versprechen einer besseren Zukunft, ihr hinterlassenes Archiv nicht mehr als der Schlussakkord der Ouvertüre. Es sind nicht zuletzt diese Bedingungen, die ihr diskursives Gesetz, die systematischen Bedingungen ihres Archivs und den heutigen Umgang mit dem Archiv bestimmen. Dass ein Statement während der Arbeit der TRC im Abschlussbericht das „Ende“ seiner Prozessierung findet, mag man als bezeichnend für eben das diskursive Gesetz des TRC-Archivs empfinden: Im TRC-Bericht wird stehen, was sich ereignet hat – und wird damit Ereignis gewesen sein.

Das Statement im TRC-Archiv ist nicht das Ereignis selbst. Es stellt lediglich eine Spur des Ereignisses dar, um genau zu sein, der Erzählung des Ereignisses, der Gesprächssituation des Zeugen, und mehr noch: seiner Bearbeitung und Archivierung durch die TRC und Aufnahme in einen externen Speicher. Das TRC-Archiv besteht aus Spuren, nicht aus Ereignissen, aus materiellen Resten, die an etwas erinnern und gleichzeitig die Auslöschung des in der Vergangenheit liegenden Ereignisses in sich tragen, da sie selbst nicht das Ereignis sein können. Nicht nur dem historischen Ereignis gilt es also in Spuren nachzugehen, sondern auch ihren eigenen Entstehungsbedingungen: Im Archivierungsprozess des Statements findet sich die Spur dessen, was archiviert werden soll, sowie der Bedingungen des TRC-Archivs. Dessen Untersuchung kann sich somit nicht allein in Fragen nach Vollständigkeit und der historischen „Wahrheit“ erschöpfen, sondern muss das Statthaben des Archivs selbst, seine Prozessualität und seine politischen, diskursiven, aber auch kultur- und medientechnischen Entstehungsbedingungen ins Zentrum rücken.

Das heutige TRC-Archiv, wie es im Nationalarchiv und auch in anderen Archiven lagert, schreibt eine Prozessualität fort, die weiter zurückgeht, als die Rhetorik von einer „neuen Geschichtsschreibung“ behauptet. Die Archive des Apartheidsregimes sind die Orte der heutigen Archive. (So ist beispielsweise das National Archive aus dem State Archives Service hervorgegangen.) Die häufig zu hörende Klage heutiger Forscher, dass „früher wenigstens alles an seinem Platz war“ und es im Gegensatz zu heute immerhin ein klares Findesystem im Archiv gab, verschleiert, dass es seit jeher Probleme der Vollständigkeit und Zugänglichkeit sind, die die Archivpraxis prägen. Das TRC-Archiv – trotz aller Kritik an den Archivierungspraktiken des Apartheidregimes – bewegt sich in dieser Kontinuität. Verne Harris, der für die Übergabe des TRC-Archivs an das Nationalarchiv verantwortlich war und von einem leicht zugänglichen Archiv träumte, welches man in Form von Ausstellungen präsentieren könnte, beschrieb, wie das TRC-Archiv im Nationalarchiv in mit schweren Türen gesicherten „strongrooms“ verschwand, weit weg von öffentlichen Lesesälen oder Ausstellungräumen:

„New security systems were installed and only archivists who have security clearance from National Intelligence are allowed into that strongroom and all because of the sense that there is very, very sensitive stuff in that archive. The fact is there isn’t.“[17]

Whether there is or not - das TRC-Archiv als Archiv einer autorisierten neuen Geschichtsschreibung Südafrikas ist stets hinterfragt worden, wobei die Kritik am Abschlussbericht besonders ins Gewicht fällt. Es mag unter geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkten dennoch weiterhin legitim sein, sich zu den „strongrooms“ vorzukämpfen und dem Archiv Erkenntnisse über historische Ereignisse zu entlocken, sie zu revidieren, zu korrigieren oder abzulehnen. Die politische Implikation des Archivs liegt jedoch nur zu einem kleinen Teil in den tatsächlich hervorgebrachten neuen „Wahrheiten“, sondern vielmehr in den Wahrheitsbedingungen, in der Konstitution und den Gesetzlichkeiten des Archivs selbst. „An archive against memory“ trifft mehr als nur eine Aussage über den Charakter von Archiven generell und ist eben keine Kritik am Projekt der TRC: Es fasst das TRC-Archiv in seiner Materialität als Sammlung von Spuren des Gedächtnisses und des Vergessens, der Inklusion und Exklusion, der Macht- und Autorisierungsstrategien, der Übertragungen, Techniken und Konstitutionsbedingungen, welche sich in einer stetigen Aushandlung und Veränderung befinden. Den Blick nicht nur auf die Spuren von Ereignissen, sondern auf die Verfasstheit und Entstehung der Spuren und damit auf eben jene Prozesse zu lenken, die das Archiv in seiner Kontinuität begreifen, verortet die Arbeit der südafrikanischen Wahrheitskommission als historisches Ereignis, welches bestimmten diskursiven Strategien unterworfen war – und nach wie vor ist. Die TRC war und ist Vorbild für zahlreiche internationale Einrichtungen der „transitional justice“.[18] Eine derartige Betrachtung lenkt den Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen von Wahrheitskommissionen, wenn es um Vergangenheitsaufarbeitung geht, hebt die spezifischen Entstehungsbedingungen und Gesetzmäßigkeiten eines Archivs hervor und lässt damit Rückschlüsse auf den Zustand einer Gesellschaft im Umbruch zu.

 

Literatur

Derrida, Jacques, „Archive Fever in South Africa“, in: Carolyn Hamilton/Verne Harris/Jane Taylor/Michele Pickover/Graeme Reid/Razia Saleh (Hrsg.), Refiguring the Archive, Cape Town 2002.

Derrida, Jacques, Dem Archiv verschrieben. Eine Freud’sche Impression, Berlin 1997.

Foucault, Michel, Die Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981.

Harris, Verne, “The TRC's unfinished business: Archives”, in: Charles Villa-Vicencio/Fanie du Toit (Hrsg.), Truth & Reconciliation in South Africa: 10 years on, Claremont 2006.

 

Quellen

International Center for Transitional Justice, http://www.ictj.org (30. Januar 2010). (letzte Überprüfung am 07.08.2013)

National Archives and Records Service of South Africa Act (Act 43 of 1996). http://www.dac.gov.za/acts/a43-96.pdf (30. Januar 2010). (letzte Überprüfung am 07.08.2013)

Promotion of National Unity and Reconciliation Act No. 34 of 1995. http://www.justice.gov.za/legislation/acts/1995-034.pdf (30. Januar 2010). (letzte Überprüfung am 07.08.2013)

Promotion of Access to Information Act (Act 2 of 2000), in: 3 Human Rights Acts, Kapstad 2006.

Truth and Reconciliation Commission Report, Bd. 1, 1998. 

 


[1] Archive Fever ist der englische Titel von Derridas Dem Archiv verschrieben – so der deutsche Titel – welches im Original 1995 als Mal d'Archive: Une Impression Freudienne erschien.

[2] Jacques Derrida, „Archive Fever in South Africa“, in: Carolyn Hamilton/Verne Harris/Jane Taylor/Michele Pickover/Graeme Reid/Razia Saleh (Hrsg.), Refiguring the Archive, Cape Town 2002, S. 54.

[3] Promotion of National Unity and Reconciliation Act No. 34 of 1995. http://www.justice.gov.za/legislation/acts/1995-034.pdf (30. Januar 2010). (letzte Überprüfung am 07.08.2013)

[4] Vgl. Truth and Reconciliation Commission Report, Bd. 1, 1998, S. 201ff.

[5] TRC Report, Bd. 1, 1998, S. 201.

[6] TRC Report, Bd. 1, 1998, S. 236.

[7] National Archives and Records Service of South Africa Act (Act 43 of 1996). http://www.dac.gov.za/acts/a43-96.pdf (30. Januar 2010). (letzte Überprüfung am 07.08.2013)

[8] Vgl. TRC Report, Bd. 1, 1998, S. 373.

[9] Vgl. TRC Report, Bd. 5, 1998, S. 344f.

[10] Promotion of Access to Information Act (Act 2 of 2000), in: 3 Human Rights Acts, Kapstadt 2006, S. 1-98.

[11] TRC Report, Bd. 5, 1998, S. 344ff.

[12] Vielmehr sind es unabhängige kleinere Archive, wie das South African History Archive oder Historical Papers of the University of the Witwatersrand, die im kleinen Rahmen u. a. mit Oral-History-Projekten dieses Versäumnis zu kompensieren suchen.

[13] Verne Harris, “The TRC's unfinished business: Archives”, in: Charles Villa-Vicencio/Fanie du Toit (Hrsg.), Truth & Reconciliation in South Africa: 10 years on, Claremont 2006, S. 57.

[14] Michel Foucault, Die Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, S. 186f.

[15] Ebd. S. 184.

[16] Vgl. hier auch Derridas Konzept des futur antérieur. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freud’sche Impression, Berlin 1997, S. 20ff.

[17] Verne Harris, „The TRC's unfinished business: Archives”, in: Charles Villa-Vicencio / Fanie du Toit (Hgg.), Truth & Reconciliation in South Africa: 10 years on, Claremont 2006, S. 69.

[18] Vgl. beispielsweise die Arbeit des International Center for Transitional Justice, http://www.ictj.org/(30. Januar 2010). (letzte Überprüfung am 07.08.2013)