von Tom Koltermann

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25. Mai 2020

Die zur Umbruchszeit verschmähte Popmusik der DDR erlebte ab Mitte der 1990er Jahre eine bemerkenswerte Renaissance. Unter der Genrebezeichnung „Ostrock“ wurden sehr verschiedene Musiker*innen mit ostdeutschem Hintergrund erfolgreich vermarktet. Erlebte dieser Teil des DDR-Musikerbes damit ein bemerkenswertes Fortleben, bestimmte hingegen in Vertrieb und Produktion nicht Kontinuität, sondern Bruch und Veränderung die Zeit nach 1989. Im Schatten der allgemeinen Transformationsgeschichte Ostdeutschlands fand ein musikwirtschaftlicher Überlebenskampf statt.  Diesen aus historischer Perspektive nachzuvollziehen, ist allerdings keinesfalls einfach, denn für die Zeit vor und nach 1990 herrscht eine asymmetrische Aktenlage bzw. viele Archivbestände aus dieser Periode sind immer noch unter Verschluss. Das macht es bislang auch so schwierig, die geschichtswissenschaftliche Forderung nach mehr thematisch eng gefassten Studien zur Transformationszeit einzulösen. Davon betroffen ist auch die Geschichte der DDR-Schallplattenlabel und des „Ostrocks“ nach 1990. Ihr Ringen um Weiterexistenz muss aus diversen Überlieferungsresten und Einzelberichten rekonstruiert werden – ein lohnendes Unterfangen, wie erste Einsichten und Ergebnisse zeigen.

Foto: Ladenschild Schallplatten, Frühlig 2006 in Weimar. Quelle: flickr.com von mightymightymatze. Lizenz: CC BY-NC 2.0.

Von Amiga bis Zong

Das zentrale Musiklabel der DDR, die VEB Deutsche Schallplatten, wandelte sich mit der Währungsunion in die Deutsche Schallplatten Berlin GmbH (DSB) um. Dabei waren die Verantwortlichen darauf bedacht, namentlich möglichst wenig mit dem Erbe der DDR in Verbindung gebracht zu werden. Kurz nach der Wiedervereinigung war an eine direkte Bezugnahme auf die Zeit des staatlich kontrollierten Schallplattenmonopols nicht zu denken. So wurde beispielsweise das bekannte Pop-Sublabel „Amiga“ in „Z“ bzw. wenig später „Zong“ umbenannt. Auf den leitenden Positionen hatte es Wechsel gegeben, die allerdings betriebsintern besetzt wurden. Trotz der Umstrukturierungen verkaufte die Treuhand den ehemaligen VEB mitsamt seines Kataloges im Juli 1991 an den Kieler Autohändler und Kulturmäzen (sowie laut Spiegel Schweinezüchter) Ulrich Urban.[1] Der Käufer wurde von dem erfahrenen Musikmanager Jorgen Larsen unterstützt, der Anteile an dem Unternehmen erhielt.[2] Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten noch rund 165 Menschen in dem Betrieb – ein Bruchteil der Angestelltenzahl am Vorabend der „Wende“. Für das Unternehmen gab es allerdings auch zahlreiche andere Interessent*innen. So gingen die Geschäftsführer der DSB lange von einer Übernahme durch ein japanisches Medienunternehmen aus.[3] Soweit die Tatsachen, die sich aus Medienberichten rekonstruieren lassen.

Rock aus Deutschland. Weltall ● Erde ● Mensch. Deutsche Schallplatten Berlin. Amiga 1991.

Da die Akten der Treuhand noch nicht vollständig erschlossen sind und aufgrund der darin enthaltenen sensiblen Betriebs- und Personendaten häufig auch nicht zugänglich gemacht werden können, stellen Zeitungsartikel zum jetzigen Zeitpunkt die ergiebigsten Quellen zum beschriebenen Privatisierungsvorgang dar. Dass dies nicht unproblematisch ist, illustriert folgendes Beispiel: So wird der Kaufpreis der DSB an verschiedenen Stellen auf Summen zwischen 4,5 und 30 Millionen Mark geschätzt.[4] Da über die genauen Modalitäten Stillschweigen vereinbart wurde, halten sich bis heute zahlreiche Gerüchte dazu. So bezifferte ein Redakteur der Jungen Welt zuletzt am 9. November 2019 den Kaufpreis auf „eine[n] Euro (sic!)“.[[5]

Bei der Übertragung durch die Treuhand wurden auch die lukrativen Immobilien, in denen die Deutsche Schallplatten Berlin GmbH ihren Sitz hatte, mitverkauft. Dies und die Tatsache, dass kein erfahrenes Medienunternehmen den Zuschlag bekommen hatte, brachte dem Verkauf früh Skepsis seitens der Medien ein.[6] Interessanterweise schrieb die Berliner Zeitung schon bei der Eröffnungspressekonferenz von „Ulli“ Urban von einem baldigen Umzug, da das Reichstagspräsidentenpalais, der Sitz des Labels, „im nächsten Jahr für Frau Süssmuth [damalige Bundestagspräsidentin, Anm. d. A.] zu räumen ist“.[7]

Es ist unwahrscheinlich, dass dieses Gebäude im selben Monat von der Treuhand an Urban und dann direkt an den Staat verkauft wurde. Stattdessen wurde der Firma ein Alternativgrundstück an der Palisadenstraße in Friedrichshain zugewiesen. Trotzdem gibt es mehrere Zeitungsartikel, die besagen, dass der Grundstückstausch darüber hinaus mit zusätzlichen 25 Millionen Mark seitens des Staats bezahlt wurde. Urban hätte demzufolge einen ausgesprochen guten Deal mit dem Kauf des Unternehmens gemacht.

Zog die DSB danach dann einfach nach Friedrichshain? Nein, denn das Gelände an der Palisadenstraße wurde vom Bund zwar dem Unternehmen versprochen, doch der Bezirk Friedrichshain hatte dort parallel Seniorenwohnungen geplant. Bezirksbürgermeister Helios Mendiburu ließ sich dazu folgendermaßen zitieren: „Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn viele Menschen im Ostteil der Stadt sagen, daß in Bonn mit Besatzermanier über sie entschieden wird.“[8] Der Bezirk hatte laut Mendiburu zwar Alternativflächen angeboten bekommen, doch seien diese alle noch restitutionsbehaftet und daher kein sicheres Bauland. Der Streit zwischen Bund, Bezirksverwaltung, Anwohner*innen und dem Unternehmen zog sich über viele Monate hin und wurde erst im April 1994 beigelegt. Auf einer Anwohner*innenversammlung wurde verkündet, dass der Protest von Bürger*innen erfolgreich war und auf dem Gelände nun Seniorenwohnungen, aber auch ein Bürogebäude gebaut werden würden.[9] Die Schallplattenfirma selbst existierte zu diesem Zeitpunkt vermutlich gar nicht mehr. Das gesamte Repertoire aus DDR-Zeiten war in den Vorjahren sukzessive verkauft sowie große Teile der Belegschaft (im Oktober 1993 waren dort noch 17 Personen angestellt) entlassen worden. Parallel dazu wurde das Amiga-Repertoire an Bertelsmann Music veräußert. Dem späteren Bild-Journalisten Ralf Schuler zufolge stellte die Firma mit dem Jahresende 1993 ihren Betrieb ein.[10] Schuler folgerte zudem in einem weiteren Artikel, dass „[…] mit der Übernahme der DSB von Anfang an der völlige Verkauf des Ost-Erbes und die Entlassung der Belegschaft beabsichtigt worden ist.“[11] Hiermit bediente er ein Narrativ, dass in der Betrachtung der Transformationszeit bis heute weit verbreitet ist. Die Tatsache, dass die von Urban mitgebrachte Führungsriege nach dem Ende des Unternehmens weich fiel und in der Folgezeit bei großen Plattenfirmen beschäftigt wurde, ließ sich dabei glänzend in Schulers Erzählung einfügen.

Welche Grundstücke Urban beim Kauf von der Treuhand zugewiesen bekommen hatte und welche Auflagen er dafür erfüllen musste, kann nur mit Hilfe der Akten der THA aufgeklärt werden. In das ehemalige Firmengebäude am Reichstagsufer zog nach längerer Renovierung schlussendlich übrigens nicht die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, sondern die Parlamentarische Gesellschaft.

 

Deutscher Demokratischer Beat in der Bundesrepublik

Doch was geschah mit der Musik aus der DDR? Die Idee, vieles aus dem Repertoire erneut auf CD zu veröffentlichen, stammt nicht erst aus der Zeit, als der Pop-Katalog der VEB Deutsche Schallplatten von Bertelsmann aufgekauft wurde und wieder unter dem Namen Amiga firmierte. Der Vorgänger, Deutsche Schallplatten Berlin, hatte bereits zum Weihnachtsgeschäft 1991 mit der Veröffentlichung der Reihe „Deutscher Demokratischer Beat“ begonnen und wenig später mit den „schönsten Rockballaden“ nachgelegt.

Aus der Reihe „Deutscher Demokratischer Beat“  Volume 1 und Volume 2. Amiga 1993.

Die Firma selbst und ein Plattenhändler in Berlin gaben übereinstimmend an, dass sich diese Platten sehr gut verkauft hätten.[12] Neue Musik von ostdeutschen Künstler*innen wurde ebenfalls auf dem Label veröffentlicht. Interessanterweise auch von der Band Silly, die sich nach der „Wende“ um die Rechte an ihren Songs mit dem Label gestritten hatte. Die Puhdys veröffentlichten ihr Comeback-Album ebenfalls bei der DSB. Alte Bindungen blieben also auch über die Privatisierung hinaus bestehen.

Das Unternehmen hatte sich bereits früh schwer mit dem Vertrieb ihrer Musik getan und diesen sukzessive ausgelagert. Gerade in der Anfangszeit hatten sich immer wieder Fans darüber beschwert, dass die Plattenläden die Musik des Labels nicht führen würden.[13] Diese Schwierigkeiten für die Musik-Konsument*innen scheinen erst nach dem Verkauf des Pop-Katalogs an Bertelsmann Music, ein Unternehmen mit bereits etablierten Vertriebsstrukturen in den Bundesländern, behoben worden zu sein.

Aufbruch ● Umbruch ● Abbruch (Die Letzten Jahre). Deutsche Schallplatten Berlin, Amiga 1991.

Niedergang nach Plan?

Auf den ersten Blick scheint die Entwicklung der Deutschen Schallplatten Berlin die gängigen Narrative zum Ausverkauf ostdeutscher Betriebe zu bestätigen. Dabei war das Misstrauen in die Verkäufe der Treuhandanstalt kein nachträgliches Phänomen, sondern durchzog bereits zeitgenössische Medienberichte. Doch die damalige Berichterstattung erweist sich bei näherer Betrachtung als ebenso widersprüchlich wie die heutige Informationslage. So ist dem westdeutschen Käufer bislang nicht eindeutig nachzuweisen, dass er den Betrieb systematisch herunterwirtschaftete. Es bestehen sogar Anhaltspunkte, dass Ulrich Urban es ernst meinte mit der Schaffung eines erfolgreichen Labels und dabei nur ungeschickt vorging. Entlassungen von großen Teilen der Belegschaft und Probleme mit dem Vertrieb der Produkte traten bereits in der Phase auf, als der Betrieb noch von langjährigen Mitarbeiter*innen geführt wurde. Und die später sehr erfolgreich von Bertelsmann praktizierte Veröffentlichung von Samplern aus dem musikalischen Erbe der DDR wurde schon unter Urbans Führung in die Wege geleitet.

Insofern ist Vorsicht geboten mit vorschnellen Urteilen, die im Eifer der Kritik sowohl die ursprünglichen Intentionen als auch die Dramatik der Gesamtlage nicht angemessen berücksichtigen. Schließlich stellten die Integration in den gesamtdeutschen Musikmarkt, der Verlust der Monopolstellung sowie die globalen Entwicklungen in der Musikindustrie das Unternehmen vor vollkommen neuartige Probleme. Vergleichsmöglichkeiten bieten sich unter anderem im Vergleich mit den Veränderungen im postsozialistischen Raum. Im östlichen Nachbarland Polen blieb der Staat beispielsweise bis 2015 Eigentümer eines ehemalig volkseigenen Labels.[14]

All diese Zusammenhänge gilt es im Kontext einer Unternehmensgeschichte erst noch zu erforschen.

 

 


[1] O.A., Mozart im Persilkarton, in: Der Spiegel, 36/1996, [zuletzt abgerufen am 12. Mai 2020].
[2] Adam White, East German State Label under New Management, in: Billboard, 14.9.1991, S.  6 f.
[3] Birgit Walter, Früher Kultur – und heute Geschäfte, in: Berliner Zeitung, 22.12.1990, S. 13.
[4] Jürgen Balitzki, Musik – ehrgeiziges Hobby des Chefs, in: Berliner Zeitung, 12.7.1991, S. 2.; Ralf Schuler, Das Management machte sich keine Platte, Neue Zeit, 4.11.1993, S. 3.
[5]Michael Merz u. Alexander Reich, „Der Westen kocht auch nur mit Wasser“. Gespräch mit Gespräch mit Jörg Stempel. Über die Treuhand, die DDR-Musikszene und seine Jahre bei Amiga, BMG und Sony, in: Junge Welt, 9.11.2019, S. 1 (Wochenendbeilage), [zuletzt abgerufen am 12. Mai 2020].
[6]O.A., Zeitmosaik, in: Die Zeit, 32/1991, [zuletzt abgerufen am 18. März 2020].
[7] Jürgen Balitzki, Musik – ehrgeiziges Hobby des Chefs, in: Berliner Zeitung, 12.7.1991, S. 2.
[8] O.A., Ein Ringtausch soll helfen, in: Berliner Zeitung, 16.4.1993, S. 19.
[9] O.A., Nur 90 Senioren-Wohungen sollen entstehen, in: Berliner Zeitung, 4.11.1994,
[10] Ralf Schuler, Das Management machte sich keine Platte, Neue Zeit, 4.11.1993, S. 3.
[11] Ralf Schuler, Zyniker machen Musik, in: Neue Zeit, 8.11.1993, S. 13.
[12] Brita Zach, Wo ein Marchlewski-Schädel als Barhocker dient, in: Neue Zeit, 16.11.1993, S. 19.; Hans Erdmann, Die Marktchance liegt in der Nische, in: Berliner Zeitung, 17.6.1993, S. 10.
[13] Birgit Walter, Früher Kultur – und heute Geschäfte, in: Berliner Zeitung, 22.12.1990, S. 13.
[14] Pressemitteilung Warner Music Poland, Warner Music Poland Acquires Polskie Nagrania, 26.5.2015, [zuletzt abgerufen am 12. Mai 2020].