Margot Friedländer 2022.
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European Parliament, Holocaust survivor Margot Friedländer spoke before Parliament on the occasion of International Holocaust Remembrance Day 2022, 31 January 2022, via Wikimedia CommonsCC BY 2.0

Margot Friedländer 2022.
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European Parliament, Holocaust survivor Margot Friedländer spoke before Parliament on the occasion of International Holocaust Remembrance Day 2022, 31 January 2022, via Wikimedia CommonsCC BY 2.0

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European Parliament, Holocaust survivor Margot Friedländer spoke before Parliament on the occasion of International Holocaust Remembrance Day 2022, 31 January 2022, via Wikimedia CommonsCC BY 2.0

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European Parliament, Holocaust survivor Margot Friedländer spoke before Parliament on the occasion of International Holocaust Remembrance Day 2022, 31 January 2022, via Wikimedia CommonsCC BY 2.0

Ein Jahrhundert Leben

Ein Reprint aus dem SPIEGEL vom 5. November 2021

Margot Friedländer musste als Jüdin einst monatelang in Berlin versteckt leben. Ein Schreibworkshop in Manhattan führte sie im hohen Alter zunächst ungewollt zurück in die Stadt ihrer Geburt, in der sie heute wieder lebt. Mittlerweile ist sie hierzulande eine der letzten Zeuginnen des Holocaust – und hadert mit ihrem Schicksal. Ein Glückwunsch zum 100. Geburtstag.

Wer Margot Friedländer einmal begegnet ist, wird sich an ihre warme, klare Stimme erinnern. Ohne Zorn, Vorwurf oder Bitterkeit erzählt sie von den dunkelsten Stunden ihres Lebens. Spricht sie auf Deutsch, dann hört man ein wenig die konservierte Sprache der Dreißiger- und Vierzigerjahre. Spricht sie auf Englisch, so ist ihr deutscher Akzent auch nach mehr als 60 Jahren im New Yorker »Exil« (so Friedländer) unverkennbar.

Wenn man dieser Tage mit ihr telefoniert, ist sie wie immer guter Dinge. Sie erzählt von den vielen Terminen derzeit, aber beklagt sich nicht. Bewegt berichtet sie von der feierlichen Eröffnung einer Ausstellung im Berliner Literaturhaus vor wenigen Tagen, in der Porträts von ihr zu sehen sind, die die Künstlerin Stephanie v. Dallwitz gemalt hat.

Ihre herzliche, warme Art ist auch auf den Fotos spürbar, die ein aufwendig gestalteter Band versammelt, der gerade aus Anlass ihres 100. Geburtstages erschienen ist. Der Fotograf Matthias Ziegler hat Margot Friedländer an die Orte ihrer Kindheit und Jugend in Berlin begleitet und sie etwa in der menschenleeren Aula der jüdischen Mädchen-Mittel-Schule in der Großen Hamburger Straße fotografiert, die sie von 1931 bis 1936 noch als Margot Bendheim besuchte. Einige Fotos zeigen sie auch am Hausvogteiplatz, dem einstigen Zentrum der Textilgeschäfte in Berlin. Heute erinnern drei Spiegel auf dem Platz an die früheren jüdischen Besitzer. Auf den Treppenstufen des U-Bahnhofs sind die Namen der jüdischen Geschäfte festgehalten, die es hier bis zur Enteignung durch die Nationalsozialisten gab. Beide Denkmale bedeuten Margot Friedländer viel. Ihr Vater hatte hier ein Knopfgeschäft.

Auf anderen Fotos ist sie am Ludwigkirchplatz zu sehen, wo sie von 1937 bis 1939 mit ihrer Familie in einer Pension wohnte. In der nicht weit entfernten Fasanenstraße lebte Margot Friedländer Anfang 1944 drei Monate versteckt bei Freunden, nachdem ihre Mutter und der vier Jahre jüngere Bruder nach Auschwitz deportiert worden waren. Auch zum Anhalter Bahnhof hat der Fotograf Margot Friedländer begleitet. Von hier aus wurde sie selbst im Juni 1944 nach Theresienstadt deportiert, nachdem sie bei einer Kontrolle auf dem Kurfürstendamm entdeckt worden war. Margot Friedländer überlebte das Ghetto, wurde befreit, heiratete noch im Lager Adolf Friedländer, den sie noch aus Berlin kannte, und ging mit ihm 1946 nach New York – auch um die Vergangenheit, über die beide nicht sprachen, hinter sich zu lassen. Die Eheleute führten dort über Jahrzehnte ein zurückgezogenes, ruhiges Leben.

An Weihnachten 1997 starb ihr Mann. Nach mehr als 50 Jahren Ehe verlor sie den Partner und stürzte in eine tiefe Krise. Das jüdische Kulturzentrum, für das ihr Ehemann zuletzt gearbeitet hatte, lud die Witwe zu einem Kursprogramm ein, das ihrem Leben eine unerwartete, späte Wendung geben sollte. 2001 besuchte sie dort den Workshop »Write your memories«, und sie begann über ihre Kindheit zu schreiben. Nun brachen sich die jahrelang beschwiegenen Erinnerungen Bahn, Margot Friedländer hielt sie zum ersten Mal auf Papier fest – vor allem nachts in ihren einsamsten Stunden. Als sie ihre ersten Aufzeichnungen im Schreibkurs vorlas, wurde es sehr still im Raum, erinnerte sie sich später.

Bald darauf wird ein deutscher Filmemacher auf Margot Friedländer und ihre Geschichte aufmerksam. Für den Dokumentarfilm »Don't call it Heimweh« und auf Einladung des Berliner Senats kehrt sie 2003 zum ersten Mal nach fast 60 Jahren wieder nach Berlin zurück. Ihr Mann hatte es immer abgelehnt, nach Deutschland zu reisen: Es sei zwar ein schönes Land, aber nur ohne die Deutschen! Von dem ersten Wiedersehen mit ihrer Geburtsstadt ist Margot Friedländer hin und hergerissen. Da sind einerseits die schönen Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, und andererseits kommen die Schreckensbilder zurück, die sie mit den Straßen und Häusern dieser Stadt verbindet, in der sie einst in den Untergrund gehen musste und wie eine Gejagte ständig auf der Suche nach neuen Verstecken war.

Der Erfolg des Films ermutigt Margot Friedländer ihre Geschichte auch auf Deutsch aufzuschreiben. Der renommierte Rowohlt Verlag interessiert sich für das Manuskript und bringt das Buch schließlich 2008 zur Leipziger Buchmesse heraus. Die Autorin erhält daraufhin zahlreiche Einladungen für Lesungen in Schulen, Buchhandlungen und bei verschiedenen Institutionen in Deutschland. Die Zeitzeugin wird eine gefragte Persönlichkeit, immer öfter reist sie über den Atlantik ins einstige »Land der Täter«, das ihr sympathisch geworden ist und in dem sie neue Freunde gefunden hat.

Irgendwann kommt ihr bei der Rückkehr in ihre einsame New Yorker Wohnung der Gedanke nach Berlin zurückzukehren. Zunächst geht sie im Sommer 2009 für eine sechsmonatige »Probezeit« in die alte und neue deutsche Hauptstadt. Ein Jahr später – mit 88 Jahren! – beschließt sie, ihre Wohnung in New York aufzulösen und in Berlin nochmals einen Neuanfang zu wagen.

Und was für einen. Es beginnt ein Leben mit zahlreichen Terminen: Lesungen in Schulen und Universitäten, Reden, Ehrungen, Gedenkveranstaltungen. Sie vergisst bei ihren Lesungen nie, ihr Publikum daran zu erinnern, dass die meisten Deutschen mitgemacht hätten, es aber während ihrer 15-monatigen Odyssee im Untergrund immer wieder einzelne Menschen gab, die ihr geholfen haben, auch wenn sie sich selbst damit in Gefahr brachten.

Ihre Begegnungen mit Schülerinnen und Schüler absolviert sie derzeit pandemiebedingt vor allem am Bildschirm. Margot Friedländer hat keinerlei Berührungsängste mit der modernen Kommunikationstechnik, schreibt Mails und nutzt Skype, um mit Bekannten in New York in Kontakt zu bleiben. Kürzlich wurde sie an der Filmuniversität Babelsberg für ein digitales Archivprojekt mit mehr als 30 Kameras gleichzeitig aufgenommen, so dass ihr Zeugnis für künftige Generationen bewahrt bleibt, die ihr dann »dreidimensional« begegnen können.

Ihre Energie scheint nicht nachzulassen. Im Juni 2021 begleitete sie Außenminister Maas und seinen neuen US-amerikanischen Amtskollegen Blinken bei deren Besuch des Berliner Holocaust-Mahnmals. Mit Angela Merkel, die sie auch schon im Kanzleramt besuchte, verlieh sie im September den nach ihr benannten Margot Friedländer-Preis. Zusammen mit dem Bundespräsidenten nahm sie Mitte Oktober an einer Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an den 80. Jahrestag des Beginns der Deportation der Berliner Juden teil.

Frank-Walter Steinmeier hat sich auch als Gast zu ihrer Geburtstagsfeier angekündigt und das Geleitwort für ihren Geburtstagsfotoband verfasst. Aus den Händen seiner Vorgänger Köhler und Wulff erhielt sie bereits ihre deutsche Staatsbürgerschaft zurück und das Bundesverdienstkreuz. Dass sie einmal mit den höchsten Repräsentanten des deutschen Staates verkehren würde, hätte sich Margot Friedländer, die in den USA als Änderungsschneiderin und als Reisebüroagentin gearbeitet hat, sicher nie träumen lassen.

Seit ihrer Rückkehr nach Berlin ist jeder Tag im Leben von Margot Friedländer ein kleiner Triumph, ein Sieg über die Ideologie und die Menschen, die sie einst von hier vertrieben haben und sie ermorden wollten, weil sie ihr als Mensch das Lebensrecht absprachen. Bis heute wird sie von Schuldgefühlen geplagt. Viele Überlebende sind an der Frage »Warum ich, warum habe ich überlebt und so viele andere nicht?« zerbrochen. Margot Friedländer hat ihre gesamte Familie verloren. Ihre Mutter Auguste, ihr Vater Arthur und ihr 17-jähriger Bruder Ralph wurden in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.

In ihren 2008 veröffentlichten Lebenserinnerungen hält Margot Friedländer die Gedanken fest, die sie seit dem Tag nicht mehr loslassen, als sie realisierte, dass ihre Liebsten nie mehr zurückkehren werden: »Wie unvorstellbar muss der Schmerz meiner Mutter und meines Bruders gewesen sein, als sie nur wenige Minuten nach ihrer Ankunft in Auschwitz auseinandergerissen wurden. Gab es noch eine letzte Umarmung, einen letzten Blick von ferne? Wie viel Zeit blieb meiner Mutter für ihre letzten Gedanken? […] Mein innerer Kampf mit dem Schuldgefühl als Überlebende und der Schmerz über das Schicksal meiner Familie – beides begleitet mich mein Leben lang und kostet mich viel Kraft.«

Ihre Mutter hatte ihr als letzte Nachricht eine Aufforderung hinterlassen: »Versuche, Dein Leben zu machen.« Margot Friedländer hat ihr Leben gemacht – mehr als das. Sie hat sich nach ihrem Kampf ums Überleben im Berliner Untergrund und in Theresienstadt, nach ihrem stillen Weiterleben im fernen Amerika, für ein Wiederleben in ihrer Geburtsstadt Berlin entschieden. In einem Alter, in dem sich viele aufs Altenteil zurückziehen, hatte sie den Mut und die Kraft noch einmal neu zu beginnen und ihrem Leben mit der Mission des »Nie wieder!« einen neuen Sinn zu geben. Sie hat vor Tausenden Menschen gesprochen und ihre Geschichte erzählt. Gerade das Zusammentreffen mit Schülerinnen und Schülern gibt ihr Kraft und Zuversicht, wie sie selbst sagt. Doch kürzlich bekannte sie in einem Interview: »Mir fehlt diese tiefe Glücklichkeit. Ein Rest Traurigkeit ist immer da.«

Image
Margot Friedländer zusammen mit René Schlott bei einer Veranstaltung am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam im Jahr 2014. © ZZF Potsdam / Marion Schlöttke.

Am Ende unseres Telefongesprächs weist sie darauf hin, ihren Familiennamen im Artikel unbedingt mit „ä“ zu schreiben, auch wenn sie ihre Bücher immer noch mit „Margot Friedlander“ signiert. „Friedlander“ aber habe sie nur in den USA geheißen, weil man die Umlaute dort nicht kenne und schon gar nicht aussprechen könne. Mit ihrer Rückkehr nach Deutschland hat sie gleichsam ihre frühere Identität wieder angenommen.

In einem kürzlich erschienenen, bewegenden Interviewband mit der früheren Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, heute Antisemitismusbeauftragte von Nordrhein-Westfalen, wird Margot Friedländer am Ende gefragt, ob sie Angst vor dem Tod habe. In ihrer unverstellten direkten Art antwortet sie kurz und knapp: »Nein. Ich habe dem Tod so oft ins Auge geblickt, der macht mir keine Angst mehr.« Zunächst wollte sie an der Seite ihres Mannes in New York beigesetzt werden, doch inzwischen hat sie sich für ein Grab auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee entschieden, wo auch ihre Großeltern begraben sind. Ihre Arbeit mit den Jugendlichen will sie nach eigener Aussage solange fortsetzen, wie sie atmen kann. Margot Friedländer ist eine kleine, zierliche Frau – vor allem aber ist sie: ein großer Mensch. Mazel tov!

Dieser Beitrag erschien aus Anlass des 100. Geburtstages von Margot Friedländer am 5. November 2021 auf Spiegel Online. (Holocaust-Überlebende Margot Friedländer: Ein Jahrhundert Leben - DER SPIEGEL) Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung durch den SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Syndication.

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Zitation

René Schlott, Ein Jahrhundert Leben. Ein Reprint aus dem SPIEGEL vom 5. November 2021, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/ein-jahrhundert-leben