In einer explorativen Stichprobenuntersuchung der Krankenakten der Heidelberger Psychiatrischen Klinik haben wir in einem Kooperationsprojekt der Universitäten Heidelberg und Freiburg[1] rund 700 Patient*innenakten aus den Jahren 1946, 1948, 1951 und 1952 gründlich durchgelesen, denn nur so lassen sich Andeutungen, Umschreibungen und auch explizites Verhalten jenseits der Heteronormativität erfassen. In unserer Studie suchen wir nicht nur nach Patient*innenakten, in denen in eindeutiger Weise homoerotisches Begehren von Frauen*[2] zu finden ist. Vielmehr richten wir die Aufmerksamkeit auch auf Beschreibungen von Verhalten, das mit Vorstellungen (hetero)normativer Weiblichkeit brach. So gerät das breite Spektrum des als „deviant“ markierten weiblichen Verhaltens in den Blick.
Queere Geschichtsschreibung steckt auch 2022 im deutschsprachigen Raum immer noch in den Anfängen. Die Erforschung lesbischer* Geschichte wurde sehr lange hauptsächlich von Aktivist*innen geleistet, die in politischen Projekten oder finanziert durch kleinere Aufträge nach Spuren lesbischen* Lebens suchten und Stimmen von Zeitzeug*innen aufzeichneten. In der universitären Welt ist lesbische* Geschichtsschreibung bisher allenfalls punktuell zu finden.
Eine Forschungslücke stellt insbesondere die Auseinandersetzung mit der Nachkriegsgeschichte der psychiatrischen Praxis im Umgang mit queeren Menschen dar, während zum Umgang der Psychiatrie mit queeren Menschen im 19. Jahrhundert bis Ende der Weimarer Zeit die Forschungslage deutlich besser ist. Die Psychiatrie hat mit der Pathologisierung von Homosexualität im 19. und frühen 20. Jahrhundert wesentliche theoretische Grundlagen für Verfolgung und Diskriminierung von queeren Menschen gelegt. Weder in der Queeren Zeitgeschichte noch in der zeithistorischen Psychiatriegeschichtsforschung wurden die reichlich überlieferten Bestände psychiatrischer Patientenakten bislang systematisch untersucht. Lediglich mit den Patient*innenakten der Berliner Charité wurde zum Umgang mit Lesben*, Schwulen* und trans* sowie inter* Menschen in der DDR geforscht.[3] Die recht breite interdisziplinäre Psychiatriegeschichtsforschung hat neben der Geschichte der Institutionen auch die der wissenschaftlichen Disziplin sowie mit unterschiedlichen Fragestellungen die psychiatrische Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert und in der Zeit des Nationalsozialismus anhand von psychiatrischen Patientenakten untersucht. Für die Zeit nach 1945 liegen bislang deutlich weniger psychiatriehistorische Untersuchungen vor. Eine Zeitgeschichte der Psychiatrie „von unten“[4], d.h. mit dem Fokus auf die Patient*innen, wurde bisher nur in wenigen Fällen geschrieben und besonders die unmittelbare Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten dabei kaum berücksichtigt. Bisher gibt es keine dezidierte Studie zur Situation lesbischer* Frauen* in der Psychiatrie nach 1945. 2019 hat ein Forschungsprojekt zum Nationalsozialismus begonnen[5] und unser Kooperationsprojekt untersucht seit 2021 lesbische* Lebenswelten im Raum Baden-Württembergs. Folgende Ausführungen zur Situation frauenliebender Frauen* in psychiatrischen Kliniken nach 1945 werden mehr Fragen als Forschungsbefunde enthalten, da sich unsere Forschungen noch in den Anfängen befinden.
Kontinuitäten in der Umbruchsgesellschaft
Erst in den 1950er Jahren gab es in den meisten Psychiatrischen Kliniken nach Kriegsende wieder einen geregelten Anstaltsalltag. Zu dieser Zeit begannen auch Diskussionen um eine Neuausrichtung der Disziplin, welche durch ihre zentrale Rolle im Bereich der Rassenhygiene und völkischen Gesundheitspolitik sowie durch die Beteiligung der Psychiater*innen und des Pflegepersonals an den Krankenmorden der T-4 Aktionen erhebliche Altlasten zu bewältigen hatte.[6] Festzuhalten ist, dass bei allen Reformbestrebungen auch in der Psychiatrie das Gedankengut des Nationalsozialismus nicht durch Entnazifizierungsverfahren verschwand, da bis auf wenige Ausnahmen ein Großteil des Personals an den gleichen Kliniken weiter arbeitete. Das heißt, im Alltag der Psychiatrie kann für die ersten Nachkriegsjahre von einem hohen Maß an Kontinuität ausgegangen werden.[7]
Das Thema der weiblichen Homosexualität rückte in der medizinischen und psychiatrischen Fachpresse in dieser Zeit im Vergleich zum Nationalsozialismus in den Hintergrund. Bis in die 1970er Jahre wurden in der BRD keine größeren Studien mehr zu diesem Thema verfasst.[8] Während der NS-Zeit wurde weibliche Homosexualität vor allem im Kontext rassehygienischer Überlegungen zur Ehe pathologisiert.[9] In den 1950er Jahren treten jedoch zwei Veröffentlichungen als Ausdruck einer erneuten Stigmatisierung von frauenliebenden* Frauen* in Erscheinung: Die Abhandlung zur „Homosexualität der Frau“[10] des amerikanischen Psychoanalytikers Frank S. Caprio, die nicht nur ins Deutsche übersetzt worden war, vielmehr danach in vier Auflagen erschien sowie das Buch des deutschen Kriminologen Hans von Hentig „Die Kriminalität der lesbischen Frau“[11]. Letzterer bezieht sich in seinen Ausführungen auffällig oft auf Caprio, was wohl zum einen am Mangel anderer deutschsprachiger Literatur und zum anderen an dem Umstand liegen mag, dass beide Autoren Lesben* als neurotisch, männerhassend, gewalttätig, aber auch als Verführerinnen von Kindern und Jugendlichen sahen. Von Hentig sah sich berufen, in einer Zeit des Frauenüberschusses Licht in dieses den Männern unbekannte Feld zu bringen, welches eine kriminologische und soziologische Betrachtung verdiene. Caprio deutete lesbische* Liebe als Regression zum Narzissmus, als neurotische Ich-Liebe, welche keine Krankheit an sich darstelle, jedoch ein Symptom der genannten Diagnosen und demnach auch therapierbar sei. Beide Monographien können als Reaktivierung der Darstellung von Lesben* als „Hysterikerinnen“ einerseits und der misogynen Diffamierung als „Mannweiber“ andererseits verstanden werden, da lesbische* Frauen* offenbar als destabilisierend für die Geschlechterordnung der Nachkriegsgesellschaft wahrgenommen wurden.
Diese Schriften lenken den Blick auf gesellschaftliche Normen von Sexualität und Geschlecht zu Beginn der 1950er Jahre. Was als „normale Weiblichkeit“ in der psychiatrischen Praxis aufgefasst wurde, orientierte sich an der den Frauen* zugedachten Rolle als Ehefrau, Mutter und Hausfrau in einem strikt heteronormativen Setting. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die frühen 1950er Jahre konnten Frauen* aufgrund ihrer enormen Überzahl in der Gesellschaft diese normativen Erwartungen jedoch, selbst wenn sie wollten, nicht immer erfüllen. Nicht wenige ledige Frauen* lebten in gleichgeschlechtlichen Wohngemeinschaften, sogenannten „Frauenfamilien“. Allerdings wurde diese Lebensform in der Zusammenbruchsgesellschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit als defizitär und als Übergangslösung wahrgenommen, was ihre Bezeichnung durch den Soziologen Helmut Schelsky als „unvollständige Familien“[12] verdeutlicht. Sogenannte alleinstehende Frauen* – sei es als unverheiratete oder verwitwete Frau* – gehörten für kurze Zeit zum gewöhnlichen gesellschaftlichen Bild der BRD.[13]
In dieser Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs wurden ledige Frauen* auch bei angenommener Heterosexualität als Bedrohung für das eheliche Glück der etablierten Familien gesehen[14] und lesbische* Lebenswelten gerieten immer wieder ins Visier der Rechtsprechung. Zuweilen wurden Tatmotive und der Charakter von frauenliebenden Angeklagten in der Tagespresse verhandelt, wie der Fall der Kindsmörderin Lore Weiher im Jahr 1951 exemplarisch zeigt. In diesen Gerichtsprozessen arbeiteten Kriminologen und Psychiater als Gutachtende Hand in Hand. Aus einem Kommentar des Oberlandesgerichts Braunschweig zu einem Urteil des Bundesgerichtshofes von 1953 zu einer Klage gegen den §175 lässt sich der rechtliche Doublebind [Doppelbotschaft] erkennen, der für Lesben* schon seit Einführung der Strafbarkeit sexueller Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts im Jahr 1872 galt. Denn auch, wenn sie von der strafrechtlichen Verfolgung ausgenommen waren, bedeute dies nicht „daß im Hinblick auf §175 StGB [...] hergeleitet werden [kann], daß die Rechtsordnung, weil sie von einer Bestrafung der lesbischen Liebe absieht, der Frau ein Recht auf gleichgeschlechtliche Betätigung verliehen hat.“[15]
Psychiatrieakten als Quelle für die Lesben*geschichtsforschung
Im Vergleich zu den Untersuchungen der Patient*innenakten der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus fällt in unserem Sample auf, dass sich die Themen und Anlässe, deretwegen eine Frau* in die Psychiatrie gelangte, von denen in der Zeit nach 1945 sehr unterscheiden. In den Nachkriegsjahren notierten Psychiater*innen in den Patient*innenakten, dass Frauen* über Flucht, Kriegsgefangenschaft, den Verlust des Zuhauses, den Tod von Ehemännern und Kindern und darüber, dass sie den Haushalt nicht mehr versorgen oder nicht mehr richtig kochen konnten, klagten. Sexualität hingegen, sowohl Homo- als auch Heterosexualität, wurde in den Akten so gut wie nicht thematisiert. Dies steht in einem starken Kontrast zu den Akten aus den 1920er bis 1940er Jahren: Psychiater*innen fragten insistierend nach der Häufigkeit der Periode, nach dem Gelingen des Geschlechtsverkehrs, nach Affären und bei unverheirateten Frauen* nach Heiratswünschen. Wenn kein Heiratswunsch vorhanden war, wurde versucht, auf diesen Einfluss zu nehmen. All diese Themen finden sich in den Akten der 1950er Jahre nicht mehr. Lesbische* Frauen* sind daher in dieser Zeit noch weniger sichtbar in den psychiatrischen Akten, als sie es in den Jahren zuvor ohnehin schon waren. Die Historikerin Kirsten Plötz stellt dazu die These auf, dass das geringe öffentliche aber auch psychiatrische Interesse vielleicht einige lesbische* Frauen* vor „Heilungsversuchen“ verschont habe.[16] Diese Ignoranz, so sehr sie vielleicht frauenliebenden Frauen* ermöglichte, unter dem Radar zu laufen, was hieß heimlich im Raum des Privaten lesbisch* zu leben, konnte aber auch krank machen und versprach keine Sicherheit.
Im Folgenden geben wir exemplarisch Einblick in die Möglichkeiten, die Psychiatrieakten für die Lesben*geschichtsforschung bieten, indem wir eine Fallgeschichte aus dem Bestand der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg vorstellen und weitere Akten hinzuziehen.
In einem Karton mit Patient*innenakten aus dem Jahr 1951 stießen wir auf eine Akte, in welcher die Patientin offenbart hatte, dass sie sich in ihre Nachbarin verliebt habe. Diese Patient*innenakte ist ein seltenes Aktenfundstück, da nur in sehr wenigen Akten gleichgeschlechtliches Begehren explizit genannt wird. Die 43-jährige Frau* kam Mitte 1951 in die Heidelberger Psychiatrische Klinik, weil sie über Herzschmerzen, Müdigkeit und Energielosigkeit klagte. Die Ärztin gab, was die Patientin ihr bei der Untersuchung anvertraut hatte, wie folgt wieder: „Seit ungefähr 3/4 Jahren könne sie nicht mehr so gut mit ihrem Mann zusammen sein. Ab Juni 1950 habe sie keinen Appetit mehr, sie sei immer sehr müde gewesen, habe immer früh zu Bett gehen wollen, der Schlaf sei etwas unruhiger.“[17] Die Formulierung, dass die Patientin „nicht mehr so gut mit ihrem Mann zusammen sein“ könne, deutet an, dass sie ihren „ehelichen Pflichten“ nicht mehr nachkommen konnte. Die Akte erschien zunächst nicht einschlägig für unser Forschungsthema zu sein, da es viele Akten gibt, in dem Probleme in ehelichen Beziehungen geschildert werden. Jedoch gegen Ende – die Patientin war ca. 1 Monat dort – findet sich folgender Eintrag: „Zur Anamnese gibt sie noch an, dass vergangenes Jahr im Juni die Appetitlosigkeit begonnen habe. Damals habe auch die Freundschaft begonnen. […] Nachzutragen ist noch, daß die Pat. […] von einem Erlebnis berichtete, das sie sehr stark mitgenommen habe. Sie hatte sich mit einer Nachbarsfrau befreundet und ganz gegen ihren Willen sei so etwas wie eine Verliebtheit über sie gekommen. Weder ihr Mann noch diese Dame habe sie recht ernst genommen und sie habe sehr darunter gelitten. Sie habe dann die Freundschaft erst in der letzten Zeit abgebrochen.“[18]
Es ist bezeichnend, dass die Patientin offenbar selbst den Beginn ihrer Beschwerden im Zusammenhang mit ihrer Verliebtheit erlebte und datierte, die behandelnde Ärztin dies aber erst als Nachtrag notierte und nicht in einen kausalen Zusammenhang mit der Erkrankung brachte. Stattdessen wurde die Patientin neurologisch untersucht, da sie von Schwierigkeiten beim Gehen, Schreiben und Rechnen berichtet hatte. Ihre Symptome wurden mit aktivitätsfördernden Medikamenten behandelt. Die Einträge in der Akte über das Befinden der Patientin werden daraufhin positiver, sie sei „munterer“ und nehme „gelegentliche Körperstörungen nicht so tragisch“. Was die Patientin sagte, wird, so liest es sich, nahe am O-Ton wiedergegeben: „Schlafen könne sie zur Zeit ordentlich mit Somnifen […] Ihre Stimmung sei gut, es sei ihr so, daß sie dauernd lachen könne.“ Alle Symptome, unter denen die Patientin litt, wurden medikamentös behandelt, so dass sie den ärztlichen Notizen zufolge wieder zu Kräften kam, besser schlafen konnte und sich auch der Appetit einstellte. Aus den Briefwechseln zwischen der Patientin und der behandelnden Ärztin geht hervor, dass sich die Patientin auch Jahre nach dem Klinikaufenthalt Rezepte für diese Medikamente ausstellen ließ. Das „Problem“, dass sie „nicht mehr so gut mit ihrem Mann zusammen sein“ konnte und sich in ihre Nachbarin verliebt hatte, wird außer in der oben zitierten Bemerkung in der Akte nicht weiter thematisiert. Es ist quasi ‘zum verrückt werden‘, wie weit die Ignoranz gegenüber der homoerotischen Neigung der Patientin ging. Andererseits wurde das homoerotische Empfinden der Patientin ganz offensichtlich nicht mit dem in den zeitgenössischen Schriften beschworenen Bild der gefährlichen, kriminellen Lesbe in Verbindung gebracht. Möglicherweise auch deshalb, weil die Patientin verheiratet war und über eine Verliebtheit hinaus ihren Emotionen keine Taten folgen ließ, und somit keine Anzeichen für die Einordnung als weibliche Homosexuelle darbot.
Während in dieser Patientinnenakte die Liebe zur Nachbarin explizit erwähnt wird, fanden wir weitaus häufiger Akten, in denen eine innige Frauenbeziehung nur angedeutet wird. So ist in der Akte einer 25-jährigen Patientin, die 1948 in die Heidelberger Klinik aufgenommen wurde, zu lesen, dass sie immer „lebenslustig“ gewesen, gern Tanzen und ins Kino gegangen sei, sich allerdings nach dem Wegzug ihrer Freundin zu Hause zurückgezogen habe. Offenbar war die Beziehung zu dieser Freundin sehr wichtig für die Patientin gewesen. Handelte es sich um eine Freundschaft oder eine Liebesbeziehung? Die Akte lässt dies offen, auch wenn ihre Verhaltensänderung und psychische Befindlichkeit mit der Trennung von der Freundin in einen direkten Zusammenhang gebracht wurden.[19]
Um nicht in dem binären Geschlechtermodell verhaftet zu bleiben, achten wir auch auf Hinweise in den Akten, ob Patient*innen, etwa aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds, als Personen wahrgenommen wurden, die nicht eindeutig weiblich wahrgenommen wurden. So wird z.B. in einer Akte angemerkt, dass die Patientin sich „ihre Haare schlecht macht“ und einen Bart habe. Hinter dem Wort Bart wurde ein Ausrufungszeichen gesetzt und das Aussehen der Patientin wurde durch ein Porträtfoto dokumentiert.[20] Ähnlich in einer weiteren Akte, in der im körperlichen Befund bemerkt wird: „35 j. Pat. von leptosomem Habitus, sehr mager und ungewöhnlich muskulös, männlich wirkend […] Sprache rauh und tief.“[21] Solche nebensächlich erscheinenden Bemerkungen sind insofern für unsere Fragestellung entscheidend, weil wir sie in Serie gesammelt und analysiert haben, um ein umfassenderes Bild der Verhandlung von Geschlechter- und Sexualitätskonzeptionen in der Nachkriegspsychiatrie zu erhalten.
Dadurch, dass Sexualität in den untersuchten Akten der Zeit nach 1945 völlig ausgeklammert wird und (vermeintlich) ledige Frauen* zum gewöhnlichen gesellschaftlichen Bild der BRD gehörten, gestaltet sich die Suche nach lesbischen* Frauen* in der unmittelbaren Nachkriegszeit deutlich schwieriger als für die Jahrzehnte zuvor. Festzuhalten ist, dass körperliche Merkmale, welche von einer klaren zweigeschlechtlichen Norm abwichen, notiert wurden, daher also auch von Bedeutung waren. Desweiteren wurde homoerotisches Begehren offenbar solange toleriert, wie es nicht öffentlich sichtbar ausgelebt wurde, solange es also ignorierbar war und nicht an den Geschlechterverhältnissen rüttelte. Denn auf der anderen Seite wurde lesbische* Liebe juristisch explizit als „nicht erlaubt“ eingestuft und es gab in wissenschaftlichen Publikationen deutliche Theorien zur Pathologisierung und Kriminalisierung lesbischen* Begehrens.
Inwiefern diese in der psychiatrischen Praxis umgesetzt wurden, müssen weitere Forschungen zeigen, da das untersuchte Sample der Nachkriegszeit begrenzt ist und sich bisher ausschließlich auf die Akten der Heidelberger Psychiatrischen Klinik bezieht. In einem anschließenden Forschungsprojekt wollen wir neben der Sichtung weiterer Akten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit den Fokus auf die Patient*innengeschichte „von unten“ weiter beibehalten. Durch Interviews mit psychiatrieerfahrenen Frauen* wollen wir die Perspektive frauenliebender Frauen* auf die Psychiatrie in den 1970er Jahren herausarbeiten.
[1] „Alleinstehende Frauen“, „Freundinnen“, „Frauenliebende Frauen“ – Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten (ca. 1920er-1970er Jahre), Laufzeit: 4/2021–10/2022, [14.12.2022].
[2] Das * hinter dem Wort Frauen soll zum Ausdruck bringen, dass wir nicht davon ausgehen können zu wissen, ob diese sich selbst so fühlten oder ob sie falls es ihnen möglich gewesen wäre z.B. lieber als Mann gelebt hätten. Das * hinter dem Wort Lesben bezieht sich darauf, dass dieses Wort eigentlich erst in den 1970 Jahren als Selbstbezeichnung Verwendung fand und auch heute noch von frauenliebenden Frauen zuweilen abgelehnt wird.
[3] Klöppel, Ulrike: Die „Verfügung zur Geschlechtsumwandlung von Transsexualisten" im Spiegel der Sexualpolitik der DDR [Drittveröffentlichung], in: Marbach, Rainer/ Weiß, Volker (Hg.): Konformitäten und Konfrontationen. Homosexuelle in der DDR, Hamburg 2017, S. 64-69.
[4] Brückner, Burkhart u.a.: Geschichte der Psychiatrie „von unten“ – History of Psychiatry “from below”. Entwicklung und Stand der deutschsprachigen Forschung, in: Medizinhistorisches Journal 4 (2019), S. 347–376.
[5] Weinschenk, Claudia: „Auch fühlte ich mich immer mehr zu meinem Geschlecht hingezogen“. Ein Forschungsprojekt zur Auffindbarkeit lesbischer Frauen in Psychiatrien während des Nationalsozialismus, in Invertito 22 (2020), S. 46-76. Siehe auch das Forschungsprojekt von Claudia Weinschenk, [15.11.2022].
[7] Vgl. Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980, Göttingen 2010, S. 364.
[8] Plötz, Kirsten: "Echte" Frauenleben? "Lesbierinnen" im Spiegel öffentlicher Äußerungen in den Anfängen der Bundesrepublik, in: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. 1. Jahrgang (1999), S. 47-70, S. 52.
[9] Vgl. Schoppmann, Claudia: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität, Pfaffenweiler 1991, S. 117–142.
[10] Caprio, Frank S. Die Homosexualität der Frau. Zur Psychodynamik der lesbischen Liebe. Eine Studie für Ärzte, Juristen, Erzieher, Seelsorger, Lagerleiter und Leiter von Straf- und Besserungsanstalten für Frauen und Mädchen, Rüschlikon-Zürich 11958.
[11] Hentig, Hans von: Die Kriminalität der lesbischen Frau, Stuttgart 1959.
[12] Schelsky, Helmut: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Stuttgart 1953.
[13] Vgl. Plötz, Kirsten: Als fehle sie bessere Hälfte. Alleinstehende Frauen in der frühen BRD 1949-1969, Königstein i.Ts. 2005, S. 17-21.
[14] Plötz, "Echte" Frauenleben?, S. 50.
[15] Zitiert nach Boxhammer, Ingeborg: Anforschungsergebnisse zur (straf)rechtlichen Verfolgung lesbischer, bisexueller und/ oder trans* Frauen nach 1945. Anforschungsbericht im Auftrag der ARCUS-Stiftung für das Referat „Politik für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle (LSBTTI) 2014, [14.12.2022].
[16] Plötz, "Echte" Frauenleben?, S. 69.
[17] Universitätsarchiv Heidelberg (UAH): Bestand Patientenakten der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, L-III-Frauen, 51/167.
[18] Ebd.
[19] UAH: Bestand Patientenakten der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, L-III-Frauen, 48/49.
[20] UAH: Bestand Patientenakten der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, L-III-Frauen, 48/89.
[21] UAH: Bestand Patientenakten der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, L-III-Frauen, 52/285.