„Hase und Wolf“ statt „Pac-Man“, „Bildschirmspiel 01“ statt „Atari 2600“. In den 1980er Jahren erreichte die Faszination für Computer- und Videospiele auch die DDR. Im ganzen Land lockte das neue Medium vor allem junge Männer vor die Bildschirme. Auf der 6. Tagung des Zentralkomitees der SED im Juni 1977 erklärte die Partei- und Staatsführung der DDR die Mikroelektronik zur Schlüsseltechnologie und investierte bis 1989 einige Milliarden Ostmark in diese. Die in diesem Zuge angestoßenen Bemühungen stellten für die aufkommende Spieleszene in der DDR einen wichtigen Meilenstein dar.[1]
Um die großen Anstrengungen in der Mikroelektronikindustrie auch personell bewältigen zu können, war die DDR auf technisch interessierte und versierte Bürger*innen angewiesen. In den Augen der DDR-Staatsführung boten digitale Spiele die Möglichkeit, junge Menschen für Computer zu begeistern und so an die Mikroelektronik heranzuführen. Sie galten zugleich als adäquates Mittel, Kinder und junge Erwachsene im sozialistischen Sinne zu erziehen.[2]
Im Umkehrschluss standen digitale Spiele in der DDR unter strenger staatlicher Kontrolle: Inhalte, die nicht der Staatsdoktrin entsprachen, waren tabu. Hier trat das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) auf den Plan, das zugleich steuernde und überwachende Instanz war: Es unterstützte die Entwicklung und Produktion digitaler Unterhaltungselektronik, wie des Poly-Plays[3], und überwachte ihre Nutzer*innen.[4]
Hinter der Entwicklung des Poly-Play steckten ökonomisches und politisches Kalkül: In der wirtschaftlich angeschlagenen DDR sollten hohe Einspielergebnisse und ein Export der Geräte zur Erfüllung der Wirtschaftspläne beitragen. Außerdem wollte die SED-Führung die Bevölkerung mit dem neuen Unterhaltungsmedium zufriedenstellen. Dies sollte - ganz im Sinne der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ Erich Honeckers - zur Stabilisierung des Systems beitragen. Insgesamt produzierte die DDR bis 1989 ca. 2.000 Poly-Plays.[5]
Computerfans im Visier der Staatssicherheit
Mit der neuen wirtschaftspolitischen Ausrichtung kamen Mitte der 1980er Jahre auch die ersten Heimcomputer in der DDR auf den Markt. Daraufhin schlossen sich Computerbegeisterte von Rostock bis Suhl zu Clubs zusammen, um gemeinsam zu programmieren, Software zu tauschen – und zu spielen. Neben der Möglichkeit, sich in den Clubs mit Gleichgesinnten auszutauschen, gab es auch ökonomische Gründe für die Clubgründungen: Die geringen Produktionszahlen[6] und hohen Kaufpreise[7] der DDR-Kleincomputer machten eine flächendeckende private Nutzung unmöglich. Die Clubs versprachen Zugang zu der ersehnten Hard- und Software.
Auch wenn die ostdeutschen Clubs staatliche Akzeptanz und Förderung erfuhren, nahm die Stasi die Vereinigungen und ihre Mitglieder genau unter die Lupe. Das MfS wollte wissen, wozu die jungen Menschen ihre Geräte nutzten. Außerdem vermutete man hier – wie bei allen größeren Zusammenschlüssen, insbesondere Jugendlicher – eine potentiell subversive Dynamik. In einer Information von April 1988 informierte die Zentrale Arbeitsgruppe Geheimnisschutz (ZAGG) die anderen Diensteinheiten des MfS über ihre „Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Nutzung privater Rechentechnik“. Demzufolge gäbe es in den Computerclubs Mitglieder, „die nachweislich eine verfestigte negative Haltung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ besäßen.[8] Das MfS nahm nicht die neue Technik per se als Bedrohung wahr, sondern die Kreise, in denen sie Verwendung fand.[9]
Die Stasi nahm verschiedene Aspekte in den Blick: die Kontakte von Computerfans in den Westen, den Schmuggel von Computertechnik und die Einfuhr von Software mit verbotenen Inhalten. Dazu zählten etwa Spiele mit „antisozialistischem Charakter“, d. h. NS-Bezügen oder kriegsverherrlichenden Darstellungen. In diesem Zusammenhang arbeitete das MfS im Rahmen des „politisch-operativen Zusammenwirkens“[10] eng mit der DDR-Zollverwaltung zusammen.
Denn da das Spieleangebot in der DDR sehr überschaubar und wenig abwechslungsreich war, programmierten sich die Spielefans ihre Programme selbst oder waren auf Software aus dem Westen angewiesen. Im Juli 1988 etwa wurde der DDR-Zoll auf das Computerspiel „Kreml“ aufmerksam. Darin müssen die Spieler*innen den Kampf um das namensgebende sowjetische Machtzentrum für sich entscheiden, wobei die KPdSU-Funktionär*innen stark karikiert werden. Wegen seiner „antisowjetischen Aussagen“ bekam das Spiel ein Einfuhrverbot.[11]
Die Stasi in Ost-Berlins größtem Computerclub
Um besser kontrollieren zu können, welche Kontakte die Computerfans pflegten und welche Hard- und Software sie tauschten und spielten, setzte das MfS inoffizielle Mitarbeiter (IM) in den Computerclubs ein. Einer der auf diese Weise ausspionierten Clubs war der Club im Ost-Berliner Haus der jungen Talente (HdjT), dem zentralen Clubhaus der Freien Deutschen Jugend.[12] Er wurde am 22. Januar 1986 von Stefan Seeboldt gegründet und zählte zu den bekanntesten Computerclubs in der DDR.
Auch wenn Seeboldt seinen Club nicht primär als „Spielhalle“ verstand, wurden hier zahlreiche Programme getauscht und gespielt. Im September 1987 erstellte das MfS eine Liste mit über 200 Spieletiteln, die hier kursierten, und übersetzte sie sogar ins Deutsche – mit teils skurrilen Ergebnissen. So wurde aus dem Spiel „Spitfire“ über das namensgebende britische Jagdflugzeug im Zweiten Weltkrieg in der Stasi-Übersetzung „Feuerspeiender Drache“. Einige Einträge in der Liste sind mit dem Zusatz „Index“ markiert. Dabei handelt es sich um Spiele, die laut Stasi „in besonderem Maße militärischen und inhumanen Charakter“ trügen.[13] Auch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (seit 2021 Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz) hatte zu dieser Zeit viele der in der Stasi-Liste markierten Spiele indiziert.[14]
Spielefans außer Gefahr
Im Ost-Berliner Computerclub wurden große Mengen an Spielesoftware mit verbotenen Inhalten getauscht und gespielt. Dennoch ist in den Akten kein Hinweis darauf zu finden, dass dies Konsequenzen für die Mitglieder oder Seeboldt nach sich zog. Eine mögliche Erklärung wäre, dass das MfS viele seiner Maßnahmen gegen die Computer- und Spielefans erst Ende der 1980er Jahre einleitete. Im Zuge der politischen Entwicklungen in der Spätphase der DDR musste es seine Aufmerksamkeit aber immer stärker auf andere Felder richten. Die aufkommende ostdeutsche Spieleszene war – verglichen mit anderen Jugendkulturen in der DDR – wenig staatlicher Repression ausgesetzt. Daran änderte sich bis zum Ende des MfS 1990 nichts.
Der Computerclub im HdjT schloss im August 1990 seine Türen. Nachdem der Mauerfall auch in der DDR einen flächendeckenden Zugang zu Computern ermöglicht hatte, besuchte kaum mehr jemand den Club. Doch Spiele „Made in GDR“, wie „Hase und Wolf“ oder „Pengo“, begeistern Retro-Fans bis heute.
Der Artikel ist eine gekürzte Version eines Themenbeitrags, den der Autor im Rahmen seiner Tätigkeit beim Stasi-Unterlagen-Archiv veröffentlicht hat. Dort erschien er erstmals im Januar 2022 auf der Website unter dem Titel „Spielefans unter Beobachtung. Die Computerszene in der DDR“. (letzter Zugriff: 9.10.2024).
[1] Vgl. Jens Schröder: Auferstanden aus Platinen. Die Kulturgeschichte der Computer- und Videospiele unter besonderer Berücksichtigung der ehemaligen DDR, Stuttgart 2010, S. 58 ff; außerdem zu digitalen Spielen in der DDR: Angela Schwarz: „Tor in eine komplett neue Welt“? Computerspiele(n) in der DDR - eine Annäherung. In: Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Hrsg.): Jahrbuch für Kommunismusforschung (2021). Spielen im Staatssozialismus. Zwischen Sozialdisziplinierung und Vergnügen, Berlin, S. 227-244.
[2] Vgl. Schröder, S. 100 ff.
[3] Die Entwicklungswerkstätte „Kartell“ der MfS-Bezirksverwaltung (BV) Karl-Marx-Stadt war maßgeblich an der Entwicklung des Poly-Plays beteiligt. Dazu existiert im Stasi-Unterlagen-Archiv ein großes Konvolut an Akten der BV. Vgl. außerdem Jens Zirpins: Geheimdienstspiele. In: Retro. Computer – Spiele – Kultur 30, 2014, S. 10-14 (der Beitrag erschien 2017 in einer revidierten und ergänzten Fassung unter demselben Titel im Ausstellungskatalog zur Jubiläumsausstellung des Computerspielemuseum „Gameskultur in Deutschland, 20 Meilensteine“, S. 58-62).
[4] Für die Überwachung der Spielefans durch die Staatssicherheit, vgl. auch Denis Gießler: Die Stasi spielte mit. In: Zeit Online (21.11.2018), letzter Zugriff: 25.02.2023.
[5] Vgl. René Meyer: Computer in der DDR. Erfurt 2019, 125 f., Schröder, S. 100, und Zirpins, S. 14.
[6] Die VEB Mikroelektronik „Wilhelm Pieck“ Mühlhausen und Robotron-Meßelektronik „Otto Schön“ Dresden produzierten ab 1984 die Kleincomputer-Reihe KC. Bis 1989 liefen ca. 30.000 Geräte vom Band. Die geringen Produktionszahlen hatten zur Folge, dass die anfangs noch als „Heimcomputer“ bezeichneten Geräte schon bald in „Kleincomputer“ umbenannt wurden.
[7] Eine Aufstellung des Amts für Preise in den Unterlagen der für die Volkswirtschaft zuständigen MfS-Hauptabteilung XVIII zeigt die hohen Anschaffungskosten von DDR-Heimcomputern, vgl. BArch, MfS, HA XVIII, Nr. 17152, Bl. 72-73, abrufbar in der Stasi-Mediathek, letzter Zugriff: 25.02.2023.
[8]Vgl. BArch, MfS, HA XVIII, Nr. 45818, Bl. 94, abrufbar in der Stasi-Mediathek, letzter Zugriff: 25.02.2023.
[9] Zur Computerszene in der DDR, vgl. auch Julia Gül Erdogan: Avantgarde der Computernutzung. Hackerkulturen der Bundesrepublik und der DDR. Göttingen 2021.
[10] Für eine Definition des Begriffs, vgl. Münkel, Daniela: Zusammenwirken, politisch-operatives (POZW), in: MfS-Lexikon, letzter Zugriff: 25.02.2023.
[11] Vgl. BArch, MfS, Abt. M, Nr. 806, Bl. 5, abrufbar in der Stasi-Mediathek, letzter Zugriff: 25.02.2023.
[12] Die meisten Computerclubs standen unter der Trägerschaft staatlicher Organisationen, wie der Freien Deutschen Jugend (FDJ), und wurden zum Teil stark vom Staat gefördert. Daneben bildeten Computerfans vereinzelt auch ihre eigenen Vereinigungen im privaten Umfeld.
[13] Vgl. BArch, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. 3118, Bl. 7-16, abrufbar in der Stasi-Mediathek, letzter Zugriff: 25.02.2023.
[14] Vgl. Gießler, 21.11.2018.