Zur aktuellen Rezeption
Thomas Brasch ist ein Untoter. Zwanzig Jahre nach seinem Tod ist der Schriftsteller, Filmemacher und Übersetzer bekannter als zum Zeitpunkt seines Todes. Dabei sind es weniger seine Bücher, Filme und Theaterstücke, die wiederentdeckt werden, sondern vielmehr das Echo seiner Persönlichkeit und seiner Werke in den Filmen, Büchern und in der Musik anderer.
Da ist zum einen der 2012 erschienene biografisch gefärbte Familienroman „Ab jetzt ist Ruhe“ seiner Schwester Marion, die aus der Perspektive der jüngsten von vier Geschwistern erzählt, wie es sich lebt mit einem Vater, der zur politischen Nomenklatura der DDR gehört, und mit drei Brüdern, die gegen ihn aufbegehren und allesamt sterben, bevor sie wirklich alt sind. Aus diesem Stoff schuf die Regisseurin Annekatrin Hendel 2018 den vielbeachteten Dokumentarfilm „Familie Brasch. Eine deutsche Familie“, der vom Konflikt zwischen Vater und Sohn Thomas handelt, von den Werken des Sohnes (und denen der anderen Kinder) aber nur erzählen, sie jedoch nicht zeigen kann. Das gelingt dann schon eher der Berliner Musikerin Masha Qrella, die 2021 mit dem Album „Woanders“ Gedichtvertonungen von Thomas Brasch vorlegte, die eindrücklich die Musikalität seiner Lyrik belegen. Der Regisseur Andreas Kleinert hat aus dem Leben von Thomas Brasch nun einen dreistündigen Spielfilm gemacht, der voll ist von Musikalität, Ästhetik, Zeitgeschichte, Sex und Drama – und der den Mut hat, sich dazu zu bekennen, dass er das Leben des Dichters als Märchen erzählt.
Es war einmal
„Lieber Thomas“ erzählt das Leben von Thomas Brasch (gespielt von Albrecht Schuch) chronologisch. Gegliedert ist der Film in sieben Kapitel, die nach den Zeilen des wohl bekanntesten Gedichtes von Thomas Brasch „Was ich habe, will ich nicht verlieren“ überschrieben sind:
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber /
wo ich bin will ich nicht bleiben, aber /
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber /
die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber /
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber /
wo ich sterbe, da will ich nicht hin: /
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
In einer Schlüsselszene liest die Mutter, gespielt von Anja Schneider, ihren Kindern vor dem Einschlafen aus dem Kinderbuch „Paul allein auf der Welt“ von Jens Sigsgaard vor. Darin erwacht der kleine Palle eines Morgens, wie er im dänischen Original heißt, und muss feststellen, dass seine Eltern plötzlich verschwunden sind und auch sonst kein Mensch mehr da ist. Er hat die Freiheit alles zu tun, was er möchte – bis es ihn langweilt. Absolute Freiheit ohne Verpflichtung ist eben auch nur ein schaler Traum. Thomas, das Kind (gespielt von Claudio Magno), das er noch ist, verkündet – so erzählt es der Film – als Erkenntnis aus der Gutenachtgeschichte, Schriftsteller werden zu wollen. Als wäre dies ein Weg, sich Freiheit in der Wirklichkeit zu sichern.
Die Wirklichkeit des Kindes aber war zu dieser Zeit die Kadettenschule. Für einen kurzen Moment ist Thomas von der durchchoreografierten Inszenierung des Militärischen begeistert, wird aber sehr bald auch mit der Gewalt konfrontiert, die diese Art von Disziplinierung evoziert. Die Szene, in der Thomas Brasch einen anderen Internatsschüler entdeckt, der Glas isst, um dem Mobbing unter den Internatsschülern zu entkommen, gehört zu den eindrucksvollsten und grausamsten des Films.
Thomas meidet die Gemeinschaft, liegt lieber alleine auf der Wiese und lässt die Sonne hinter seinen Fingern verschwinden. Das wird er ein Leben lang so halten. Nie wird er das tun, was er soll, nicht das sagen, was erwartet wird, sich nicht so verhalten, wie es den Normen entspräche. Er wird Bücher schreiben, die nicht gedruckt, Theaterstücke, die nicht gespielt werden dürfen. Erst mit der Ausreise aus der DDR kommt der große Erfolg. Hier würde das Märchen enden.
Zur Lebensgeschichte von Thomas Brasch gehört aber auch die Weigerung, sich im Westen den Erwartungen anzupassen. Thomas Brasch lehnt die Rolle des Dissidenten sowie Vorschusshonorare auf seine Autobiografie ab. Er läuft weiter mit aufgerissenen Augen durch die Welt, liebt und arbeitet rauschhaft, liebt auch den Exzess, den (Drogen)Rausch – und scheitert daran, den einen großen Roman (zu Ende) zu schreiben.
Sein wichtigstes Arbeitswerkzeug ist ihm die Schreibmaschine. Im Film wirkt sie wie ein ausgelagertes Körperteil untrennbar mit ihm verbunden. Das stakkatohafte Tippen in nahezu unmöblierten Wohnungen ist eines der Hauptmotive von „Lieber Thomas“, wobei das Wie des Schreibens im Film wichtiger ist, als das Was oder gar die nachhaltige Wirkung des Werks von Thomas Brasch.
Heroismus
Andreas Kleinert (Regie) und Thomas Wendrich (Drehbuch) konzentrieren sich vielmehr darauf, eine Heldengeschichte zu erzählen. Es ist die des Autors als urbaner Cowboy, dem Integrität wichtiger ist als Erfolg. Schon der Trailer verspricht das Porträt seines Helden als „Rebell – Poet – Revolutionär“. Mit diesem Dreiklang bedient der Film allerdings ein traditionelles Männerbild. Um es zu inszenieren, wird weder an Pathos noch an Sex gespart. Das Liebesleben des Helden ist dabei mindestens so wichtig wie Braschs künstlerische Arbeit. Damit sind die Motive gesetzt und eine Interpretation des Lebens von Thomas Brasch vorgegeben, die sich wunderbar auf der großen Leinwand des Kinos ausbreiten lassen. Andreas Kleinert gelingt es, zugleich elegisch wie auch pointiert zu erzählen. Er versteht es, sich auf zeithistorische Ereignisse (wie den Prager Frühling), Beziehungen (wie die zu Katharina Thalbach) und Kontexte (die Boheme in Ost- und Westberlin) zu konzentrieren, um sein exemplarisches Porträt eines Künstlers zu zeichnen.
Die Liebe darf darin nicht fehlen. Für Thomas Brasch, der Frauen durchaus im Plural liebte, gab es mindestens eine Frau, die mit ihm Kunst UND Bett teilte: die Schauspielerin Katharina Thalbach (gespielt von Jella Haase). Gleich als sie sich kennenlernen, wünscht sie sich ein Stück von ihm. Er schreibt es ihr „auf den Leib“ und überreicht es nach der Hochzeit als Morgengabe. Nur, dass er nicht der Bräutigam war. Dennoch wird Katharina Thalbach fortan mit ihm leben, in den Westen auswandern, in seinen Filmen Hauptrollen spielen und bis zu seinem Tod mit ihm verbunden bleiben. Thomas Brasch stirbt 2001 mit nur 56 Jahren. „Lieber Thomas“ zeigt ihn noch im Scheitern als einen Heroen, der über alle Grenzen geht, nicht zuletzt über die eigenen. Thomas Brasch arbeitet auch dann noch immer weiter, als er eigentlich kaum noch atmen kann. Der Künstler als Wrack, der mehr stirbt als lebt, wird eindrucksvoll zugleich starr und leichtfüßig von Peter Kremer dargestellt. Thomas Brasch hat an seinem Lebensende, so scheint es, jegliche Bindungen verloren und existiert, wie der Junge Pelle im Märchen, allein in seiner Welt.
(Film-)Sprache
Die Entscheidung, das Leben von Thomas Brasch in schwarz/weiß-Bilder zu bannen, entspricht der Radikalität, von der der Film erzählt – und verweist auf die Ästhetik der französischen Nouvelle Vague. Nicht zuletzt zitiert die filmische Ikonisierung von Männlichkeit in „Lieber Thomas“ ein cineastisches Vorbild: Jean-Paul Belmondo in „Außer Atem“. Andreas Kleinert hat sogar einige Szenen aus dem Film von Godard von 1960 in „Lieber Thomas“ hineinmontiert.
Es ist nicht das einzige Zitat, das dem Film implementiert ist. Im Spielfilm, der ausdrücklich kein Dokumentarfilm sein will, ist beinahe unauffällig, aber sehr sinnfällig historisches Filmmaterial eingebaut: Szenen aus der Kadettenschule, Straßenszenen vom Westberliner Kurfürstendamm oder 1989 aus der DDR flüchtende Menschen.
Auf Szenen aus den vier Spielfilmen, die Thomas Brasch selbst gedreht hat, verzichtet Kleinert allerdings. Zwar erzählt „Lieber Thomas“ von der Entstehung des Drehbuches für „Engel aus Eisen“ (1983), einem Film über eine Berliner Diebesbande in der Nachkriegszeit, und zeigt den erfolgreichen Jungregisseur in Cannes, er interessiert sich indes kaum für die Filmästhetik seines Protagonisten.
Dafür geizt „Lieber Thomas“ nicht mit Zitaten aus den Texten von Thomas Brasch, die mal gesprochen, mal als Schrift eingeblendet, oft auch als Traumsequenzen inszeniert sind. Letztere sind nicht immer als Verweise auf das literarische Werk erkennbar. Einige Traumbilder sind als Halluzinationen oder Projektionen inszeniert, die etwas über den schmalen Grat zwischen Wahrheit und Wahnsinn erzählen, auf dem Thomas Brasch tänzelte. Es sind vor allem diese ästhetisch wohldosierten und hervorragend fotografierten Verschiebungen der Realität, die den Film so großartig machen. Aber auch einige der eingestreuten Brasch-Bonmots klingen wie Verweise auf seine literarischen Vorbilder, wenn er etwa erklärt: „Man darf das Publikum nicht langweilen, man muss es mit der Axt erwecken“, klingt das wie eine Reformulierung des berühmten Kafka-Satzes: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.” Dieser hohe Ton rutscht jedoch mitunter ins Kalauerhafte. Den Anspruch: „Wenn ich schreibe, bin ich die Welt und nicht die Landkarte“ kontert der Bruder Klaus im Film mit: „Besser Landkarte als Arschkarte!“
Die Pathoskarte spielt der Film von Anfang an aus. Es ist das Bild eines nackten weiblichen Körpers, der von Albrecht Schuch über und über beschrieben wird. Diese fast schon naive bildliche Umsetzung der Metapher des „auf den Leib Schreibens“ erinnert an Filme von Jean Cocteau, der ja auch, wie Thomas Brasch, beides war: Schriftsteller und Filmemacher.
Schauspielerfilm
Bis in die Nebenrollen hinein ist „Lieber Thomas“ hervorragend besetzt. Und doch sind es die hochkarätigen Schauspieler*innen, die immer wieder irritieren, denn zu oft schon hat Jörg Schüttauf, der den Vater spielt, den getreuen DDR-Genossen geben müssen. Wer Interviewaufnahmen mit Thomas Brasch kennt, wird wiederum in dem expressiven Spiel von Albrecht Schuch die ironisch verzweifelte Nachdenklichkeit vermissen. Auch ist Jella Haase inzwischen eine so bekannte Schauspielerin, dass eine Verwechslung mit Katharina Thalbach überhaupt nicht mehr aufkommt.
Aber genau das erweist sich im Laufe des Films als Vorteil, denn er will eben nicht ein Biopic sein, sondern exemplarisch ein Künstlerleben erzählen, eines für das Thomas Brasch zwar den Rahmen gibt, aber von dem „Lieber Thomas“ auch abstrahiert. Anders hätte er wohl nicht gelingen können.
Auslassungen
Trotz der Länge des Films, gibt es vieles, was er nicht erzählt aus dem Leben seines Vor-Bilds. Die Ausbürgerung von Wolf Biermann kommt nicht vor, gegen die Thomas Brasch mit anderen in einem offenen Brief protestiert hat. Seine Shakespeareübersetzungen werden nicht erwähnt, obwohl er in den letzten 20 Jahren vor allem davon gelebt hat. Auch sind sein zweiter Bruder Peter und die Schwester kaum mehr als Randfiguren in der Familienaufstellung.
Dem Film tut das gut, wäre er doch sonst überfrachtet von einem Leben, das sich eben nicht nur als rebellisch beschreiben lässt.
Lieber Thomas, Deutschland 2021, Regie: Andreas Kleinert (157´)
Der Film läuft am 22. Januar in der Akademie der Künste am Hanseatenweg (Berlin), am 23. Januar werden am selben Ort Filme von Thomas Brasch gezeigt.