von Jakob Reuster

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15. Mai 2018

Am 3. Mai 2018 feierte der Film Sobibor in den russischen Kinos seine Premiere. Seit dem 13. Mai ist er auch in Deutschland zu sehen. Das Regiedebüt von Konstantin Chabenski widmet sich dem Aufstand der jüdischen Häftlinge im deutschen Vernichtungslager Sobibor, das sich auf polnischem Boden befand.

Im Fokus des Films steht der jüdische Rotarmist Alexander Petschjorski. Dieser war einer der Anführer des Ausbruchsversuchs vom 14. Oktober 1943, an dem sich mindestens 350 Menschen beteiligten. Ungefähr 200 Häftlingen gelang die Flucht, nur 50 von ihnen erlebten das Kriegsende. Der Aufstand von Sobibor gilt als der einzige erfolgreiche größere Fluchtversuch aus einem deutschen Konzentrations- oder Vernichtungslager. Nach dem Aufstand wurden alle verbliebenen Häftlinge ermordet, das Lager geschlossen und seine Spuren verwischt. Es ist dem Engagement der Überlebenden und einiger HistorikerInnen zu verdanken, dass der Ort nicht völlig in Vergessenheit geriet. Alexander Petschjorskis Bericht über den Aufstand ist zudem in diesem Jahr erstmals vollständig in deutscher Übersetzung erschienen und könnte zusammen mit dem Film dazu beitragen, die Ereignisse in Deutschland auch außerhalb der Fachwelt bekannter zu machen.[1]

Sobibor ist jedoch nicht der erste Film zum Thema. Im Jahr 1987 wurde in den USA und Westeuropa der Fernsehfilm Escape from Sobibor des britischen Regisseurs Jack Gold gezeigt. Am Drehbuch waren zwei Überlebende des Aufstandes, Stanislaw Szmajzner und Thomas Blatt, beteiligt und der Film trug wesentlich dazu bei, die öffentliche Wahrnehmung des Holocaust um den Gesichtspunkt des jüdischen Widerstandes zu ergänzen. Claude Lanzmanns Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr erzählte mit minimalistischen filmischen Mitteln vom Aufstand und basierte auf einem Interview mit dem Überlebenden Yehuda Lerner, das Lanzmann bereits 1979 aufgezeichnet hatte.

Diese Werke stehen in einer langen Reihe der filmischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.[2] Darunter finden sich allerdings kaum Filme aus der Sowjetunion oder aus Russland. Dies hängt wesentlich damit zusammen, dass in der Sowjetunion die gezielte Ermordung der Juden lange nicht als einzigartiges Verbrechen begriffen wurde und Informationen dazu erst im Verlauf der Perestroika zugänglich wurden. Auch der Begriff ‚Holocaust‘ fand erst nach 1990 in Russland Verbreitung. Die ermordeten sowjetischen Juden wurden zu den zivilen Opfern des Krieges gezählt, ihr Schicksal in das Leiden des gesamten sowjetischen Volkes eingeordnet ohne dass der Antisemitismus der Deutschen besonders thematisiert wurde. Somit wurden zwar viele Filme über den Großen Vaterländischen Krieg produziert über den Sieg des gesamten sowjetischen Volkes über den Faschismus, der Holocaust hingegen kaum als eigenständiges Thema behandelt – was nicht nur für die künstlerische, sondern auch für die historiographische Auseinandersetzung galt. Eine kritische Beschäftigung mit der Thematik hätte auch bedeutet, sich mit Fragen der partiellen lokalen Kooperation mit den Deutschen oder mit Evakuationsplänen für die jüdische Bevölkerung auseinanderzusetzen, was offiziell nicht gewollt war. Die wenigen entstandenen sowjetischen Filme zum Holocaust gerieten schnell in Vergessenheit und wurden im Westen nicht wahrgenommen.[3] Erst in den letzten Jahren erschienen einige wenige russische Spielfilme, die sich ganz der Thematik widmeten, etwa Paradise (Rai) von Andrei Michalkow-Kontschalowski oder die experimentelle Kurzfilmtrilogie Zeugen (Svideteli) von Konstantin Fam. Und nun also Sobibor.

Als ZuschauerIn des Films befindet man sich ab der ersten Szene auf dem Gelände des Lagers und verlässt es erst wieder nach knapp zwei Stunden, zusammen mit den Fliehenden. Das Lager ist somit der einzige Handlungsort und die mitunter drastische Darstellung der deutschen Verbrechen im Lager – vom industriellen Töten samt bürokratischem Vermerk bis hin zu sadistischen Demütigungen und willkürlichen Morden – steht im Vordergrund des Films. Einige Szenen vermitteln einen Eindruck vom Alltag der Arbeitshäftlinge, andere zeigen die Vorbereitungen des Aufstandes und die Flucht selbst. Die vielen Figuren, die fünf verschiedene Sprachen sprechen, sind bis auf Petschjorski allesamt so gut wie geschichtslos und ihre Beziehungen untereinander bleiben mitunter unklar.

Der Film lässt sich in zwei Hälften teilen. In der ersten sieht man Petschjorski, wie er in Sobibor ankommt und von Gewalt und Elend um sich herum wie paralysiert ist. Beinahe beiläufige Szenen zeigen, wie Menschen sehr verschieden mit den Bedingungen im Vernichtungslager umgehen, wie sie etwa Halt im Glauben suchen, das Unvorstellbare verdrängen, den Verstand verlieren, auf die Befreiung durch die Rote Armee hoffen oder eben Widerstandspläne schmieden. Petschjorski wird immer wieder gesagt, dass das einzige, was man tun könne, um vielleicht am Leben zu bleiben, das Erdulden der Situation und das Hoffen auf Besserung sei. Sein Entschluss, nicht mehr nur zu hoffen, sondern sich an den Aufstandsplänen zu beteiligen, leitet die zweite Hälfte des Films ein.

Wie in Filmen mit historischen Bezügen üblich, wird auch in Sobibor der historische Stoff durch Weglassen und Hinzufügen in eine erzählbare Form gebracht. Dabei fällt auf, dass im Film eine Gruppierung im Lager ausgespart bleibt: Die in Trawniki ausgebildeten sogenannten Hilfswilligen, zu denen etwa auch der in Deutschland im Jahr 2011 wegen Beihilfe zum Mord in 28.060 Fällen verurteilte John Demjanjuk zählte. Zum gesicherten Wissen über den Ausbruch werden frei erfundene Liebesgeschichten hinzugefügt, zudem Streiflichter auf die Täter und ihre Motive geworfen. Genrebedingt wird Komplexität reduziert und ganz auf einen emotions- und identifikationsgeleiteten Zugang zum Thema gesetzt.

Mit Blick auf Russland liegt der potentielle Mehrwert des Films nicht in seiner Originalität oder Qualität – er ist nicht besser als Jack Golds Film zum gleichen Thema –, sondern im Versuch, das Wissen um das Vernichtungslager Sobibor, den jüdischen Widerstand und die historische Figur Petschjorski einem breiten russischen Publikum bekannt zu machen und damit zu einer weiteren Beschäftigung mit dem Thema anzuregen. Möglicherweise trägt der Film ein klein wenig dazu bei, trotz der Zahl von 27 Millionen im Zweiten Weltkrieg getöteten SowjetbürgerInnen und trotz der eigenen Erfahrungen von Bürgerkrieg und stalinistischem Terror den Blick für das Schicksal der jüdischen Minderheit während des Krieges zu schärfen, über das in der russischen Gesellschaft wenig bekannt ist. Auch die Biografie Petschjorskis wirft nach der Ansicht des Films Fragen auf, immerhin hat er im Zuge der antisemitischen Kampagne Stalins gegen den sogenannten wurzellosen Kosmopolitismus 1948 seine Arbeit verloren und wurde daran gehindert, als Zeuge bei westlichen Verfahren gegen die Täter auszusagen. Der Film kann dazu beitragen, das Wissen um den Holocaust vom zentralen Symbol Auschwitz auf Sobibor und die Lager der Aktion Reinhardt zu erweitern.

Dass Sobibor kurz vor dem wichtigsten russischen Feiertag, dem Tag des Sieges, ins Kino kam, legt auch die Möglichkeit für das identitätsstiftende russische Weltkriegsgedenken nahe – immerhin war der Held nicht nur Jude, sondern auch Rotarmist und ein heroisches Vorbild, das nicht nur sich selber, sondern so viele Menschen wie möglich befreien wollte. Und schließlich wurde der Film in besonderer Weise staatlich unterstützt. Der russische Kulturminister Wladimir Medinski, dessen Ministerium für das Verbot des Films Death of Stalin verantwortlich war und der selbst Vorsitzender der Patriotischen Russischen Militärhistorischen Gesellschaft ist, schob das Filmprojekt maßgeblich mit an. Der in Russland populäre Schauspieler Konstantin Chabenski wurde während der Dreharbeiten zum Regisseur gemacht, eine ehemalige Duma-Abgeordnete bekam eine Rolle und Vladimir Putin wohnte mit seinem Staatsgast Benjamin Netanyahu einer Vorabaufführung des Films anlässlich des Auschwitzgedenktages bei und schaute ihn am 9. Mai in Moskau erneut. Auch im Bundestag, im Europäischen Parlament und bei der UNO wurden bereits Teile des Films gezeigt. Der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Wassili Nebensja, äußerte sich sehr positiv. Es sei ein Film, der helfe, Geschichtsfälschung sowie Verklärung des Nationalsozialismus, wie sie momentan in einer Reihe von Ländern zu beobachten seien, zu widersprechen.[4]

Was dieser Film mit den meisten anderen Holocaustspielfilmen etwa mit Schindlers Liste, Der Junge im gestreiften Pyjama oder Son of Saul gemein hat, ist der Fokus auf die Vernichtungslager der Deutschen in Polen. Diese Lager stellen jedoch nur eine Dimension von Holocaust und Porajmos, dem Massenmord an den Sinti und Roma Europas, dar. Eine weitere Dimension sind die mindestens 2,5 Millionen Morde an Juden in den Gebieten der Sowjetunion (in den Grenzen von 1941), die unter Kontrolle der Deutschen geraten waren.[5] Bis auf wenige Ausnahmen, etwa das Lager Maly Trostinez, fanden die Morde dort nicht in Lagern statt, sondern wurden durch Mitglieder der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS, durch Polizeibataillone und Wehrmachtsangehörige sowie ihre Verbündeten direkt vor Ort, meist durch Massenerschießungen begangen. Zentraler Erinnerungsort und Symbol für die Erfahrung sowjetischer Juden unter deutscher Besatzung ist daher nicht Auschwitz, sondern Babyn Jar. Der Name bezeichnet eine Schlucht bei Kiew, in der im Herbst 1941 innerhalb von zwei Tagen 33.000 Juden erschossen wurden. Wird heute in Russland jedoch der Holocaust thematisiert, dann meist der millionenfache Tod der europäischen Juden in den Gaskammern deutscher Konzentrationslager, als jener durch die Einsatzgruppen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, im Westen Russlands etwa, in der Ukraine und Belarus.

Sobibor stellt hierin keine Ausnahme dar und spiegelt gewissermaßen die in Russland vorherrschende mentale Verortung der Shoah außerhalb der sowjetischen, beziehungsweise russischen, Grenzen wider. Gleichzeitig erinnert der Film ungewollt daran, dass es gerade aus russischer Perspektive noch viele unbekannte Geschichten von der Vernichtung der einstigen jüdischen Nachbarn zu erzählen gäbe, deren Hinrichtungsorte mitunter im wahrsten Sinne des Wortes vor der eigenen Haustür zu finden sind. Abgesehen von der grundsätzlichen Frage, ob Spielfilme überhaupt der Vermittlung eines historischen Themas dienlich sind oder ob sie durch Simplifizierungen mehr verschleiern als aufklären, bleibt festzustellen: es gibt keinen russischen Spielfilm, der sich explizit der Geschichten der sowjetischen Juden zur Zeit des Zweiten Weltkriegs auf sowjetischem Territorium annimmt. Abseits des dokumentarischen Zugangs, den Arbeiten von Boris Maftsir etwa[6], scheint in West wie Ost für die sowjetische Dimension des Holocaust noch keine künstlerische Filmsprache gefunden.[7] Filme wie Sobibor lassen jedoch hoffen, dass das Thema generell in der russischen Gesellschaft wahrgenommen wird und damit die Wahrnehmung für die sowjetische Dimension des Holocaust sensibilisiert wird.

 

Sobibor

Regie: Konstantin Chabenski, Russland 2018

Seit dem 13. Mai 2018 ist Sobibor auch in deutschen Kinos zu sehen.

 


[1] Aleksandr Petscherski: Bericht über den Aufstand in Sobibor. Hgg. von Ingrid Damerow. Berlin 2018. Außerdem Franziska Bruder: Hunderte solcher Helden. Der Aufstand jüdischer Gefangener im NS-Vernichtungslager Sobibór. Münster 2013.

[2] Etwa Aaron Kerner: Film and the Holocaust. New Perspectives on Dramas, Documentaries, and Experimental Films. New York 2011 und Catrin Corell: Der Holocaust als Herausforderung für den Film. Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie. Bielefeld 2009.

[3] Etwa Jermy Hicks: First Films of the Holocaust. Soviet Cinema and the Genocide of the Jews, 1938–1946. Pittsburgh 2012 sowie Olga Gershenson: The Phantom Holocaust: Soviet Cinema and Jewish Catastrophe. New Brunswick 2013.

[4] TASS: Konstantin Chabenskij pokazal OON fil'm "Sobibor",  04.05.2018.

[5] Vgl. Bernd Hoppe: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Band 8: Sowjetunion mit annektierten Gebieten II. Generalkommissariat Weißruthenien und Reichskommissariat Ukraine. Berlin, Boston 2016.

[6] Auch sei auf die Dokumentation Children from the Abyss (Deti iz bezdny) von Regisseur Pavel Chukhraj aus dem Jahr 2002 verwiesen.

[7] Eine Ausnahme stellt der Film Babij Jar – Das vergessene Verbrechen des amerikanischen Regisseurs Jeff Kanew aus dem Jahr 2003 dar.