Am Abend der Europawahl am 26. Mai 2019, als sich das herausragende Ergebnis seiner Partei bereits abzeichnete, sagte der Grüne Spitzenkandidat Sven Giegold, die Wähler*innen in Deutschland hätten den Wahlsonntag zu einem „Sunday for Future“ gemacht. Damit stellte er den grünen Wahlerfolg nicht nur als ein Ergebnis der freitäglichen „Fridays for Future“-Demonstrationen für mehr Klimaschutz dar, sondern er suchte den symbolischen Schulterschluss seiner Partei mit der Schüler*innenbewegung. Es scheint tatsächlich nicht zufällig, dass der aktuelle grüne Höhenflug und das Aufkommen einer neuen, jungen Umweltschutzbewegung gleichzeitig stattfinden: Die von der Schwedin Greta Thunberg initiierten Klimastreiks verhalfen der Klimaproblematik endgültig zu einem zentralen Platz in den öffentlichen Debatten in Deutschland. Und die Grünen sind seit jeher die Partei, die für Kompetenz in Umweltfragen steht und bei jungen Wähler*innengruppen hohe Zustimmungswerte genießt.
Die Grünen und die neuen sozialen Bewegungen
Dennoch sind die größtenteils sehr jungen Menschen, die freitäglich zu Tausenden für mehr Klimaschutz demonstrieren, keineswegs genau die neuen Grünen-Anhänger*innen, die die Partei bei der Europawahl zur zweitstärksten politischen Kraft in Deutschland machten. Drei Tage nach der Wahl veröffentlichte die Kölner „Fridays for Future“-Ortsgruppe ein Statement, in dem sie sich von Giegolds Aussage und den Grünen distanzierten. Die Schüler*innen bestanden auf ihre Überparteilichkeit und unterstrichen, dass sie auch die Klimapolitik von Bündnis 90/Die Grünen für nicht radikal genug hielten.[1] Diese widersprüchliche Beziehung zwischen Grüner Partei und außerparlamentarischer Protestbewegung erinnert an die ersten Jahre der Grünen und deren Beziehung zu den neuen sozialen Bewegungen. Für die Grünen war das Verhältnis zu Friedens-, Anti-Atomkraft- und Umweltbewegung, die in den 1970er Jahren zu Massenphänomenen geworden waren, immer eine identitätsstiftende Frage. Laut grünem Selbstverständnis war die Partei parlamentarischer Arm der neuen sozialen Bewegungen. Die Grünen sahen sich folglich als eine besondere Form der Protestbewegungen und die Bewegungen als natürliches Mobilisierungspotential für die eigene Partei an. Die Parteimitglieder*innen waren in dieser Wahrnehmung also immer auch Vertreter*innen der neuen sozialen Bewegungen, und die neuen sozialen Bewegungen stellten die Wählerschaft und das Personal der Partei. Doch schon die sozialwissenschaftliche Forschung der 1980er Jahre, die sich intensiv mit den neuen sozialen Bewegungen auseinandersetzte, widerlegte einen solch einfachen Zusammenhang: Die Partei repräsentierte keineswegs die Gesamtheit der neuen sozialen Bewegungen. Denn zum einen bestanden die sozialen Bewegungen zu großen Teilen aus Gegner*innen der klassischen parlamentarischen Parteienpolitik, und zum anderen engagierten sich einige Anhänger*innen der Bewegungen auch in anderen Parteien.[2]
Die Grünen als Generationenprojekt
Trotzdem spielten die Protestbewegungen der 1970er Jahre eine zentrale Rolle für die Parteigründung der Grünen und lieferten eine kollektive Generationenerfahrung für die Gründer*innen. Auf Grund dessen wurde die junge Partei auch als „Bewegungspartei“[3] bezeichnet. Die Gründungsgeneration prägte die von Wahlerfolgen und erbitterten Flügelkämpfen gekennzeichnete Geschichte der Grünen während der 1980er Jahre. Einigen Sozialwissenschaftler*innen galt die Partei daher als ein Generationenphänomen, das sich von selbst wieder erledigen würde.[4] Auch dem Selbstverständnis nach waren die Grünen zunächst die Partei einer neuen Generation, nämlich der Jugend. Darum glaubte sie auch lange, keinen eigenen Jugendverband zu benötigen. Erst die gesellschaftlichen Umbrüche des Jahres 1989/90 änderten das: der Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung erwischten die Grünen auf dem falschen Fuß; sie hatten für diese Entwicklungen kein eigenes Konzept, das für viele Wähler*innen attraktiv und realistisch schien. In der Folge verfehlten die westdeutschen Grünen den Wiedereinzug in den Bundestag. Das bedeutete eine existenzielle Krise, die Parteireformen zwingend nötig machte. Und dieser Umbruch musste auch personell eingeleitet werden.
Der Generationenwechsel bei den Grünen
Zunächst orientierten sich die Grünen dafür nach Osten, denn hier war eine neue Bewegung aus Massenprotesten entstanden: die sogenannte ostdeutsche Bürger*innenbewegung, repräsentiert hauptsächlich durch das Bündnis 90. Die langsame Annäherung zwischen Grünen und Bündnis 90 führte nach komplizierten Verhandlungen und beachtlichem Schrumpfen der Bürgerrechtsbewegung schließlich zur Assoziation beider Gruppen zur Partei Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 1993. Die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung war selbst wiederum ein Resultat einer kollektiven Generationen- und Protesterfahrung in der späten DDR. Doch war diese Gruppe zahlenmäßig viel zu klein, um die Grünen insgesamt personell aufzufrischen. Parallel zu dieser Entwicklung öffnete die Krise der Partei aber auch einer neuen Generation von Politiker*innen Karrierechancen. Erstmals bahnte sich eine Art Generationenwechsel in der Partei an: Auch Politiker*innen, die keine Erfahrungen aus der Hochphase der neuen sozialen Bewegungen mitbrachten, erlangten Mitte der 1990er Jahre Ämter oder Mandate.[5] In diese Phase der Neuformierung fiel schließlich auch die Gründung eines eigenen Jugendverbandes im Frühjahr 1994 – vierzehn Jahre nach Parteigründung. Damit öffnete sich die Partei endgültig für neue grüne Generationen und gestand zumindest indirekt ein, nicht mehr selbstverständlich die Jugend zu vertreten.
„Fridays for Future“ als Frischzellenkur für die Grünen?
Ob und inwieweit die „Fridays for Future“-Bewegung das Reservoir für eine zukünftige bündnisgrüne Politiker*innengeneration darstellen wird, lässt sich nicht vorhersagen. Dass die Partei eine umfassende „Frischzellenkur“ aus der Bewegung erfährt, erscheint derzeit zumindest fraglich. Zum einen muss die mittlerweile 40 Jahre alte Partei auf die nach dem Jahr 2000 Geborenen als „normale“, „alte“ Partei erscheinen, zumal mit bereits einiger Regierungserfahrung; zum anderen führt der aktuelle Weg der Partei in die politische Mitte wohl eher weg von den radikalökologischen Forderungen der Demonstrierenden. Noch tendieren die jungen Aktivist*innen offenbar zumindest bei ihren Wahlentscheidungen zu den Grünen. Die Zahl der wahlberechtigten „Fridays for Future“-Anhänger*innen dürfte jedoch viel zu klein sein, um die aktuellen Wahlerfolge der Grünen maßgeblich zu beeinflussen. Ursachen für den derzeitigen Höhenflug sind neben der gewachsenen öffentlichen Aufmerksamkeit für die Klimaproblematik – als ein Erfolg der Schüler*innenbewegung – wahrscheinlich eher die Schwäche der Sozialdemokratie und die Polarisierung mit der AfD.
[1] Vgl. Fridays for Future Köln, Facebook-Post vom 29.5.2019 [zuletzt abgerufen am 9. September 2019].
[2] Vgl. Richard Stöss, Parteien und soziale Bewegungen. Begriffliche Abgrenzung – Volksparteien – Neue Soziale Bewegungen – DIE GRÜNEN, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1991, S. 407.
[3] Vgl. Joachim Raschke, Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993, S. 499-501.
[4] Vgl. Thomas Poguntke, Der Stand der Forschung zu den Grünen: Zwischen Ideologie und Empirie, in: Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hg.), Stand und Perspektiven der Parteienforschung in Deutschland, Opladen 1993, S. 204-205.
[5] Vgl. Christoph Becker-Schaum/Anastasia Surkov, Die zweite Generation der Grünen. Ein Gruppenportrait, in: BIOS. Zeitschrift für Biografieforschung, Oral History und Lebensverlaufanalysen, Heft ½ 2017 (30. Jahrgang), S. 130-165.