„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ (Christa Wolf)
Es war ein einsamer Kinoabend, nur einen Tag nach dem Fest zum 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Dort eine auf zwei Millionen Menschen geschätzte Feiergemeinde rund um das Brandenburger Tor, hier ein halbes Dutzend Zuschauer in einem kleinen Programmkino in Berlin-Weißensee. Und doch gehören beide Geschichten zum selben Bauwerk. Denn mit der in der Nacht des 9. November unter glücklichen Umständen gefallenen Mauer verbinden sich mindestens 138 tragische Schicksale. So viele Menschen ließen dort zwischen 1961 und 1989 ihr Leben. [1]
Der Film „Die Familie“ erzählt die Geschichte von vier dieser Mauertoten: Helmut Kliem (1939-1970), Dietmar Schwietzer (1958-1977), Rainer Liebeke (1951-1986) und Michael Bittner (1961-1986). Es ist nach „Gesicht zur Wand“ (Bundesrepublik Deutschland 2009) die zweite Dokumentation des Kölner Regisseurs Stefan Weinert (Jahrgang 1964), die sich mit der DDR-Diktatur beschäftigt.[2]
Seine Premiere feierte „Die Familie“ schon im August 2013 auf dem Filmfestival Montreal. Dass der Kinostart in der Bundesrepublik nun mit dem Mauerfalljubiläum zusammenfällt, ist kein Zufall. Der Film ist eine wichtige und notwendige Ergänzung der allgemeinen Jubelfeiern, in deren Kontext die Todesopfer an der Berliner Mauer allenfalls am Rande eine Rolle spielten. Nämlich dann, als eine Berliner Künstlergruppe sieben Gedenkkreuze am Spreeufer in der Nähe des Reichstages zeitweilig entfernte, um im Mittelmeer gegen die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union zu protestieren. Die Presse berichtete zwar über diese nicht unumstrittene Aktion, das Schicksal der Mauertoten, denen diese Kreuze galten, spielte dabei aber kaum eine Rolle. [3]
„Die Familie“ beginnt mit einem Blick auf einen anderen prominenten Berliner Gedenkort: die Portraitgalerie der Maueropfer an der Bernauer Straße. Die Kamera zoomt in langen Einstellungen auf die Gesichter meist junger, lächelnder Männer und einiger Frauen, während auf der Ton-Ebene Mitschnitte der Andachten aus der benachbarten „Kapelle der Versöhnung“ laufen, wo bis heute an jedem Wochentag um 12 Uhr die Biographie eines Maueropfers verlesen wird.[4]
Im Mittelpunkt der Dokumentation stehen jedoch weniger die Mauertoten selbst als vielmehr deren Familien. Kinder, Ehefrauen, Mütter und Geschwister. Sie alle erzählen vom Schicksal ihrer Angehörigen. Der Regisseur selbst verzichtet auf jeden gesprochenen Kommentar. In langen Interviewsequenzen befragt er die Hinterbliebenen der Toten. Weinert begleitet seine Protagonisten an den Ort des Geschehens, der keine Spuren der Verbrechen mehr trägt und sich heute als Naturidylle präsentiert. Oder er geht in deren heimische Wohnzimmer, wo die Ausstattung viel über den sozialen Status der Befragten verrät.
An beiden Orten fängt er mit Close Ups die Gesichtsregungen der Menschen ein und wendet auch dann die Kamera nicht ab, als diese von ihren Emotionen überwältigt werden. Durch Nachfragen fordert er sie auf, die Augenblicke der Vergangenheit noch einmal zu durchleben, etwa den Moment als sie die Todesnachricht erhielten. Die filmischen Mittel erinnern stark an Claude Lanzmanns Dokumentationen. Allerdings verzichtet Weinert im Gegensatz zu Lanzmann nicht auf die Nutzung von Archivmaterial. Oft werden Stasiakten abgefilmt und Zitate aus den Dokumenten, etwa die Anzahl der abgegebenen Schüsse, in Nahaufnahmen hervorgehoben.
Eine Zeigbarkeitsgrenze überschreitet der Film mit der Einblendung der Fotografien von Einschusslöchern aus der Obduktionsakte von Helmut Kliem, der 1970 am Außenring der Mauer in Falkenhöh mit seinem Motorrad versehentlich in die Nähe der Grenzanlagen geriet und beim Wenden unter Beschuss genommen wurde. Auch die Innensicht eines Krematoriumsofens bei der Verbrennung eines Leichnams und die Slow-Motion-Sequenz eines Maschinenpistolenschusses sind Geschmacklosigkeiten, derer der Film für seine Aussage nicht bedurft hätte. Diese wird deutlich, als die Kamera die kleine Erinnerungsecke in der Wohnzimmerschrankwand von Irmgard Bittner fokussiert, die ihr das Grab ihres Sohnes ersetzt. Der Leichnam von Michael Bittner, der sich nach mehrfach abgelehnten Ausreiseanträgen 1986 zur Flucht entschloss und dabei erschossen wurde, wurde der Mutter nie übergeben. Sein Verbleib konnte auch nach 1989 nicht aufgeklärt werden.
Als einzigen Experten befragt Weinert den ehemaligen Berliner Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz. Die Kamera begleitet ihn an das Landgericht Berlin-Moabit, den Ort der Prozesse gegen Honecker, Krenz und gegen einzelne Grenzsoldaten wegen der Todesschüsse an der Berliner Mauer. Der ehemalige Anklagevertreter Jahntz spricht dabei den Schlüsselsatz der Dokumentation: „Die Unverletzlichkeit der Staatsgrenze war in der DDR ein höheres Gut als das Menschenleben eines Staatsbürgers.“
Stefan Weinert ist ein eindrucksvoller Beitrag zur Diskussion um den Charakter der DDR als Unrechtsstaat gelungen, sofern man sich auf diese weniger erkenntnisfördernde als vielmehr taktisch-politische Auseinandersetzung einlassen will.
„Die Familie“ erzählt von den Menschen, die die Berliner Mauer auch ein Vierteljahrhundert nach ihrem Fall nicht loslässt. Die Geschichte dieses Bauwerks auf sein plötzliches Ende zu verkürzen, genau davor bewahrt der Film.
Die Familie, Regie: Stefan Weinert, Bundesrepublik Deutschland 2013, 92 Minuten, FSK 12, Kinostart: 8.11.2014.
Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de
[1] Siehe als Ergebnis eines Forschungsprojekt des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und der Stiftung Berliner Mauer (Laufzeit: 2005 bis 2009) den Band: Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989. Ein biographisches Handbuch, Berlin 2009 ( 2011 auch in englischer Übersetzung erschienen); Im Abspann wird noch von 136 Todesopfern (Stand: 2009) gesprochen. Inzwischen musste die Zahl auf 138 korrigiert werden. Siehe die aktualisierte Übersicht unter: http://www.chronik-der-mauer.de/index.php/de/Start/Index/id/593792 (11.11.2014). Hinzu kamen nach dem Abschluss des Forschungsprojektes die Fälle von Hans-Joachim Zock (1940-1970) und Peter Grohganz (1948-1980). Noch immer sind nicht alle Verdachtsfälle geklärt, so dass es sich weiterhin um eine Mindestzahl quellenmäßig ausreichend gesicherter Todesopfer handelt.
[2] Offizieller Internetaufritt der Dokumentation: http://facethewall.eu/home.html (11.11.2014).
[3] Siehe etwa: http://www.tagesspiegel.de/berlin/-mauerkreuze-sind-wieder-da-ueber-kreuz-mit-der-kunst/10959762.html (11.11.2014); Es handelt sich uferseitig um Gedenkkreuze für Günter Litfin (1937-1961), Udo Düllick (1936-1961), Hans Räwel (1941-1963), Klaus Schröter (1940-1963), Heinz Sokolowski (1917-1965) und Marinetta Jirkowski (eigentlich Marienetta Jirkowsky) (1962-1980).
[4] http://www.kapelle-versoehnung.de/bin/calendar.php?lang=deu (11.11.2014). Unter den 138 Todesopfern waren acht Frauen.