Die öffentliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur und ihren Verbrechen, also das, was man „Vergangenheitsbewältigung“ genannt hat, vollzog sich nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland in mehreren Wellen. Nach weit verbreiteter Meinung gelang es dabei erst der im Januar 1979 ausgestrahlten amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“, ein Gefühl allgemeiner „Betroffenheit“ hervorzurufen. Bis dahin hatte man den Deutschen immer wieder eine Neigung zum „Beschweigen“, ja eine „Unfähigkeit zu trauern“ vorgeworfen. Zwar wurde häufig übersehen, dass man sich in den publizistischen Massenmedien, in Literatur und Film, schon vorher immer wieder mit der NS-Vergangenheit beschäftigt hatte. Aber jetzt erst schienen die öffentlichen Reaktionen für die Bereitschaft zu sprechen, sich der deutschen Schuld an der Vernichtung der europäischen Juden zu stellen. Jedenfalls hat sich kein anderer Vorgang dermaßen in das „kollektive Gedächtnis“ der Vergangenheitsbewältigung der Nachkriegszeit eingeschrieben wie diese TV-Serie. 25 Jahre danach ist es angebracht, sich an dieses Medienereignis zu erinnern, das zugleich ein zeitgeschichtliches Politikum war.
Produktion und Gestaltung der Fernsehserie
Die Fernsehserie „Holocaust“ war vom amerikanischen Fernsehsender NBC produziert und in den Vereinigten Staaten an vier aufeinander folgenden Abenden, vom 16. bis 19. April 1978, ausgestrahlt worden. Schon dortselbst erregte sie großes Aufsehen. Bis zu 120 Millionen Zuschauer wurden erreicht, zwischen 20 und 25 Millionen Haushalte schalteten jeweils ihr Fernsehgerät ein. Dabei war dieser Erfolg nicht nur auf die Sendung zurückzuführen, sondern auch auf eine mustergültige PR-Kampagne.
NBC setzte mit der Serie „Holocaust“ alles daran, im Wettbewerb um die Publikumsgunst mit den großen anderen TV-Networks ABC und CBS gleichzuziehen. ABC war es erst im Jahr davor gelungen, mit der ebenfalls vierteiligen Fernsehserie „Roots“, einem blutrünstigen Sklavenepos, einen Zuschauerrekord in den USA zu erzielen. Diesem Vorbild wollte NBC nacheifern – im selben Format einer „Miniserie“, angelegt nicht als monate- oder jahrelange Endlos-Reihe, sondern bestehend aus vier kompakten Folgen mit einer Sendezeit von zusammen gut sieben Stunden. Das Drehbuch schrieb Gerald Green, von dem Bantam Books zeitgleich zur Sendung den dazugehörigen Roman herausbrachte, der prompt an die Spitze der Bestseller-Listen rückte. Die Regie der Serie übernahm Marvin Chomsky, der schon „Roots“ und andere Hollywood-Streifen gedreht hatte. Produziert wurde der Fernsehfilm von Juli bis November 1977, nachdem man verschiedene Original-Schauplätze in mehreren europäischen Ländern aufgesucht hatte. Die Außenaufnahmen entstanden großenteils in Berlin-Wedding (wo das Warschauer Ghetto nachgestellt wurde) und in Mauthausen (für die KZ- und Lagerszenen). 150 Schauspieler und etwa 1.000 Komparsen wirkten mit. Der Produktionsetat belief sich angeblich auf sechs Millionen US-Dollar.
Die Serie „Holocaust“ war das Produkt eines kommerziellen amerikanischen Fernsehsenders, der sich über Werbung zu refinanzieren hat. Tatsächlich wurde die Ausstrahlung in der üblichen Weise durch Werbespots unterbrochen, die sich an den vier Sendetagen allein auf zusätzliche eindreiviertel Stunden summierten. Dadurch bestimmt war auch der Charakter der Sendung. Das Thema der Verfolgung und Vernichtung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland wurde an zwei fiktiven, miteinander verbundenen Familienschicksalen illustriert. Die Inszenierung erfüllte alle Regeln einer publikumswirksamen Dramaturgie, mit packender Spannung, größten Emotionen und entsprechender Stereotypisierung.
Um die Gestaltung der Sendung entbrannte schon in den Vereinigten Staaten eine höchst kontroverse Diskussion. Ihr prominentester Kritiker war der jüdische Autor Elie Wiesel, selbst ein Überlebender der Vernichtungslager. Er sprach in der „New York Times“ von einer „Trivialisierung des Holocaust“. Der Film, so schrieb er, „verwandelt ein ontologisches Ereignis in eine Seifenoper“, er sei „eine Beleidigung für die, die umkamen und für die, die überlebten“. Wiesel bemängelte gravierende Irrtümer und sah die Gefahr, dass uninformierte Zuschauer nicht zwischen Fiktion und Fakten würden unterscheiden können. Letzten Endes war er der Überzeugung, dass das Schicksal von sechs Millionen ermordeter Juden nicht in einem solchen Spielfilm darstellbar sei. Andere verteidigten, ja priesen die Fernsehserie. So erhielt sie 1978 allein acht Emmy-Awards, gleichsam die TV-Oscars, die die amerikanische Academy of Television Arts and Sciences jedes Jahr für herausragende Fernsehproduktionen verleiht. Auch eine Reihe jüdischer Organisationen zeichnete die Serie mit Preisen aus, und sie erhielt den Abraham Lincoln Preis für Menschenrechte der „Polnischen Kulturgesellschaft von Amerika“.
Die Übernahme der Fernsehserie in Deutschland
Noch bevor die TV-Serie im amerikanischen Fernsehen überhaupt zu sehen war, wusste man in Deutschland von ihr: die Medien durch ihre Auslandskorrespondenten vor Ort, die Programmmacher über die Kanäle des Fernseh- Programmhandels. Denn NBC bot sein Produkt selbstverständlich zur Übernahme in andere Länder an. Eine Woche vor der Ausstrahlung in den USA wurden Kassetten der Serie im WDR intern vorgeführt, um sie hinsichtlich eines möglichen Ankaufs (Lizenzkosten mehr als eine Million DM) zu prüfen. Die in Gang kommende Diskussion beschäftigte alsbald große Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit.
Eine Ausstrahlung im Ersten Fernsehprogramm, einer Gemeinschaftsveranstaltung der Landesrundfunkanstalten, setzte allerdings eine Abstimmung unter den Mitgliedern der ARD voraus. In den ARD-Anstalten aber gab es Befürworter und Gegner der Serie. Konnte Deutschland überhaupt abseits stehen, wenn die Serie in zahlreichen anderen Ländern übernommen wurde? Im Herbst 1978 wurde sie in Belgien, Großbritannien und Israel ausgestrahlt, im Frühjahr 1979 folgten u.a. die Niederlande und Österreich (insgesamt waren es mehr als 30 Länder). Doch nicht allein Gründe der Opportunität spielten eine Rolle. Durch den populären Charakter der Sendung und die Spielhandlung würde man auch viele Zuschauer mit dem schwierigen Thema konfrontieren können, die sich herkömmliche Dokumentationen nicht anschauten. Die Einwände gründeten sich einerseits auf den kommerziellen Stil und die „indiskutable Qualität“ der Sendung: Von „fahrlässig gemachtem Schund“ war die Rede, von „Trivialfilm“ und „Konsumartikel“. Aber auch politisch wurde argumentiert, dadurch könnten der Antisemitismus hierzulande wiederbelebt und die Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden gestört werden – als ob „Wegschauen“ in irgendeiner Form hätte förderlich sein können. Manche fragten sich wohl ängstlich, wie die Serie, welche die Schuld der Deutschen personalisierte, bei der Bevölkerung ankommen würde.
Bei einer Abstimmung der Fernsehdirektoren der ARD im Sommer 1978 sprach sich nur eine schwache Mehrheit von fünf zu vier für eine Ausstrahlung der „Holocaust“-Serie im Ersten Fernsehprogramm aus. Befürchtet werden musste angesichts dieses Votums, dass sich einzelne Anstalten „ausklinken“ würden. Dies hätte jedoch nach innen wie nach außen einen höchst blamablen Eindruck hervorgerufen. Als Kompromiss-Lösung entschied man sich daher dafür, der Serie einen Sendeplatz in den Dritten Fernsehprogrammen einzuräumen und diese dafür zusammenzuschalten, was ein Novum darstellte. Wohl stießen sich einige Beobachter(innen) auch daran und meinten, man „verstecke“ die Sendung auf diese Weise oder beschreite einen „Ausweichweg“. Davon konnte aber, wie sich später zeigte, keine Rede sein. Nur am Rande spielte seinerzeit eine Rolle, dass man durch die gewählte Platzierung die Zuschauer in der DDR weitgehend davon ausschloss, die Sendung zu sehen. Denn der Empfang der Dritten Programme war dort so gut wie nicht möglich.
Die „Story“ der Fernsehserie
Die Fernsehserie „Holocaust“ erzählte die Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung am Beispiel zweier Familien, der fünfköpfigen „arischen“ Familie Dorf und der zehnköpfigen jüdischen Familie Weiss. Beider Schicksale sind miteinander verwoben. Während Erik Dorf unter dem Einfluss seiner ehrgeizigen Frau zum Mitarbeiter des SS-Chefs Reinhard Heydrich aufsteigt und sich in die Organisation des Massenmords an den Juden verstrickt, werden die Angehörigen des jüdischen Arztes Dr. Josef Weiss fast alle zu dessen Opfern. Die amerikanische Fassung endete mit der Perspektive eines neuen Anfangs für die Überlebenden in Palästina. Dieser Schluss wurde in der deutschen Fassung gekürzt. Hier stand stattdessen am Ende der Appell, über die Verbrechen an den Juden nicht zu schweigen.
Das Schicksal der beiden Familien wird in vier Kapiteln geschildert, die jeweils um historische Etappen der Judenvernichtung kreisen. Das erste setzt 1935 ein und führt bis zur „Reichskristallnacht“. Während Erik Dorf persönlicher Referent von Heydrich wird, erfährt die Familie Weiss die zunehmende Bedrohung, weigert sich aber, ihr Heimatland zu verlassen. 1938 wird sie von den ersten brutalen Übergriffen heimgesucht, mit katastrophalen Folgen für einige Familienmitglieder. Der zweite Teil ist in die Jahre 1941/42 verlegt. Babi Yar, wo tausende von Männern, Frauen und Kindern erschossen wurden, und das Warschauer Ghetto sind die Orte, in die das leidvolle Schicksal die zerrissene Familie Weiss verschlagen hat. Der SS-Mann Dorf hingegen, der sonst noch ein bürgerliches Leben führt, ist maßgeblich an der Perfektionierung der nationalsozialistischen Tötungs-Maschinerie beteiligt. Im dritten, „Die Endlösung“ benannten Kapitel begegnet man den Protagonisten vor allem in den Vernichtungslagern Theresienstadt und Auschwitz sowie wieder im Ghetto in Warschau. Im vierten Kapitel bricht der Aufstand im Warschauer Ghetto aus. Das Ehepaar Weiss ist abtransportiert worden, der jüdische Arzt kommt in Auschwitz in der Gaskammer ums Leben. Seinem Sohn jedoch gelingt die Befreiung auf der Flucht, er gehört zu den „Überlebenden“ (so der Titel dieses Teils). Erik Dorf begeht nach der Festnahme durch die Amerikaner Selbstmord. Die Familie glaubt an einen „heldenhaften“ Tod, ein Verwandter will aber die Wahrheit nicht länger verschweigen.
Die Fernsehserie „Holocaust“ verwob historische Fakten mit dem Schicksal fiktiver, dabei aber keineswegs unwahrscheinlicher Figuren. Bei der Produktion war man sehr wohl um historische Authentizität bemüht. Spezialisten entdeckten jedoch einige Irrtümer, und Zeugen, die die Geschehnisse am eigenen Leib miterlebt hatten, monierten Fehler in der Spielhandlung. Kritisiert wurden Verkürzungen, die Ausblendung von historischen Hintergründen, gesellschaftlichen Bedingungen und ökonomischen Zwängen. Andererseits konzedierten Sachkenner durchaus das Bemühen um Akkuratesse. Die deutsche Fassung führte man auch einem Mitarbeiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte vor, der bemerkenswerte Anerkennung kundtat. Anstoß genommen wurde lediglich daran, dass Uniformen von SS-Leuten nicht ganz korrekt waren oder ein Hitlerjunge eine Sommeruniform an Weihnachten trug.
Öffentliche Diskussion und pädagogische Begleitmaßnahmen
Dass die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ im deutschen Fernsehen im Januar 1979 zu einem herausragenden Ereignis wurde, dazu trug die breite Diskussion bei, die sich bereits im Vorfeld entzündete. Doch die hohe Aufmerksamkeit war nicht nur durch die Debatten in Presse, Hörfunk und Fernsehen sowie in Mediendiensten bedingt. Vielmehr sahen Verantwortliche in Schul- und Bildungswesen hier einen Anlass, ja eine Chance, mit Hilfe dieser Sendung die Kenntnis und die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu vertiefen. Man folgte dabei gewissermaßen einer „Medienverbundstrategie“. Die Bundeszentrale für politische Bildung und die Landeszentrale Nordrhein-Westfalen stellten umfangreiches Begleitmaterial her und erlebten den größten Ansturm seit ihrem Bestehen. Insgesamt gingen – nach eigenen Angaben – 450.000 Anfragen ein. Beliefert wurden vor allem Schulen und Lehrer, aber auch private Interessenten. (Übrigens war schon vor der Ausstrahlung in den Vereinigten Staaten eine Dokumentation der Anti Defamation League in 10,5 Millionen Exemplaren gedruckt und als Beilage in Tageszeitungen verbreitet worden.) Zum Thema der Serie fanden ferner Seminare von Volkshochschulen und anderen Bildungsträgern statt.
Ausstrahlung und Rezeption der Sendung
An vier Abenden im Januar 1979, am 22., 23., 25. und 26., jeweils um 21 Uhr, wurde die „Holocaust“-Serie von den fünf erstmals zusammen geschalteten Dritten Fernsehprogrammen der ARD-Sender ausgestrahlt. Vorausgeschickt hatte man eine Woche zuvor im Ersten Programm eine Dokumentation „Endlösung. Judenverfolgung in Deutschland 1933–1945“. Damit sollte den kritischen Stimmen zu der fragwürdigen Gestaltung der Sendung begegnet werden, und die Zuschauer sollten in „seriöser“ Form über den historischen Hintergrund des fiktiven Geschehens aufgeklärt werden.
Am ersten Abend schalteten 32 Prozent der Haushalte ihr Drittes Programm ein, um die TVSerie zu sehen. Am Tag darauf waren es 36 Prozent, zwei Tage später 39 Prozent und bei der letzten Folge am Freitag sogar 41 Prozent. Die Sehbeteiligung lag zwischen 43 und 48 Prozent. Das war eine unerwartet große Resonanz. Praktisch hatte ungefähr jeder zweite Erwachsene in der Bundesrepublik Deutschland (mehr als 20 Millionen Menschen) etwas von „Holocaust“ gesehen, ein Drittel sogar alle vier Sendungen. „‘Holocaust‘ erreichte damit eine Gesamtreichweite wie keine andere Sendung des deutschen Fernsehens zu einem zeitgeschichtlichen Thema zuvor“ (T. Ernst).
Nach der Übertragung der Sendungen fanden jeweils „Open-End“-Diskussionen mit Experten und Diskutanten im Studio statt. Rund jedes sechste Fernsehgerät blieb dabei eingeschaltet. Anrufer von außen wurden mit ihren Fragen zugeschaltet. Nach Angaben der Sender meldeten sich im Laufe der Woche rund 30.000 Personen telefonisch (die meisten davon beim WDR), was einer bis dahin beispiellosen Resonanz auf eine Fernsehsendung gleichkam. Obwohl man zusätzliche Leitungen geschaltet hatte, waren diese ständig blockiert. Offensichtlich hatten die vier Teile der Sendung große Erschütterung bei den Zuschauern ausgelöst. An den Tagen danach setzte sich die Debatte in den Zeitungen und Zeitschriften fort, nicht nur in den Leitartikeln und Kommentaren, sondern auch in den Leserbriefspalten. Eine deutlich erkennbare Mehrheit der Zuschauer äußerte sich zustimmend, nur eine geringe Zahl stark ablehnend. Im Vorfeld der Ausstrahlung war es übrigens zu Anschlägen und Vergeltungsdrohungen gekommen, was erhöhte Sicherheitsvorkehrungen erforderlich machte.
Ergebnisse der Begleitforschung
Vor und nach der Ausstrahlung der „Holocaust“-Serie wurden in der Bundesrepublik aufwändige Begleituntersuchungen angestellt. Die Marplan-Forschungsgesellschaft führte im Auftrag des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung repräsentative Umfragen in mehreren Wellen durch. Vor allem jüngere Zuschauer hatten die Sendungen gesehen, 68 Prozent der 14- bis 29jährigen, unter den über 60jährigen waren es immerhin noch 47 Prozent. Die Sehbeteiligung bei Männern betrug 64 Prozent, bei Frauen 54 Prozent. Höher Gebildete schalteten die Serie überdurchschnittlich ein, aber selbst unter denen mit Volksschulabschluss war es noch jeder zweite. Nicht-Seher nannten als wichtigste Gründe, die Sendung hätte sie zu sehr aufgeregt (33%) oder sie seien verhindert gewesen (28%). Lediglich ein Viertel war der Meinung, man sollte das Thema vergessen, es gehe uns nichts mehr an.
Fast zwei Drittel der Zuschauer äußerten, die TV-Serie habe sie tief erschüttert, zwei Fünftel empfanden Scham darüber, dass Deutsche solche Verbrechen begangen hätten. Ebenso viele gaben jeweils an, über „Holocaust“ in der Familie bzw. außerhalb (mit Bekannten und Arbeitskollegen) gesprochen zu haben. Nach eigener Einschätzung nahm bei den Befragten das Wissen über die Judenverfolgung durch das Anschauen der Serie zu. An erster Stelle nannten sie das Ausmaß der Grausamkeiten und die Systematik, mit der die Vernichtung betrieben worden war. Vor allem jüngeren Frauen sowie den jüngeren und mittleren Altersgruppen insgesamt und den formal weniger Gebildeten war dies vorher nicht in diesem Maße bekannt gewesen. Zwar war der Wissenszuwachs – gemäß der üblichen Vergessenskurve – nach mehreren Wochen wieder etwas rückläufig, blieb aber immer noch beträchtlich.
Nach der Erstausstrahlung der „Holocaust“-Serie sagten drei Fünftel derjenigen, die die Serie angeschaut hatten, sie würden sich diese bei einer Wiederholung „wahrscheinlich oder bestimmt“ wieder ansehen. Dies dürfte subjektiv durchaus ernst gemeint gewesen sein. Tatsächlich wurde die Serie im November 1982 ein weiteres Mal ausgestrahlt. Jetzt war dafür an vier Abenden (14.11., 16.11., 17.11., 21.11.) auch Platz im Ersten Fernsehprogramm, einmal sogar anstelle einer höchst erfolgreichen „soap opera“. „Heute kein Dallas – ARD sendet Holocaust“ – so titelte die „Bild“-Zeitung am 16. November 1982. Ähnlich hohe Einschaltquoten wie 1979 wurden gleichwohl nicht mehr erzielt.
Die TV-Serie – ein Medienereignis
Schon bei ihrer Erstausstrahlung ist die „Holocaust“-Serie als „Medienereignis“ bezeichnet worden. Sie war ein herausragendes Beispiel dafür, dass die Medien der Massenkommunikation, insbesondere das Fernsehen, heute nicht bloß über politische, wirtschaftliche und andere Ereignisse Bericht erstatten, sondern selbst wirkungsmächtige Ereignisse kreieren. Dabei gibt es verschiedene Typen solcher Medienereignisse. Produktionen der Fernsehdramatik stellen nur einen möglichen davon dar. Zu den konstitutiven Merkmalen von Medienereignissen gehören ihre große Reichweite und die Unterbrechung der herkömmlichen Programmroutinen.
Schon vor der Ausstrahlung der „Holocaust“-Serie hatte es zahlreiche TV-Sendungen zur NSVergangenheit gegeben, darunter diverse mit Spielhandlungen wie beispielsweise Egon Monks Fernsehspiel „Ein Tag – Bericht aus einem deutschen Konzentrationslager 1939“ von 1965. Doch von keiner dieser früheren Sendungen ging eine vergleichbar große Öffentlichkeitswirkung aus. Dies ist erklärungsbedürftig. Drei Gründe sind dafür vor allem angeführt worden: das Thema, die Spielhandlung einschließlich ihrer plakativen, emotional anrührenden Ansprache sowie die im Vorfeld der Ausstrahlung geführte publizistische Debatte.
Das Thema war zwar nicht neu, doch von anhaltender Brisanz. Neu war die dramatische „Aufmachung“, die erst im Abstand von Jahrzehnten möglich war und auch dies nur in den Vereinigten Staaten. Der Streit um die Angemessenheit der dramaturgischen Mittel schaffte zusätzliche Aufmerksamkeit. Die breite Debatte im Vorfeld erzeugte einen Erwartungsrahmen, der die Rezeption der Sendung nachhaltig beförderte. Selektivität ihr gegenüber wurde erschwert, schon durch den dem Thema inhärenten moralischen Druck. Ausweichen konnte man davor auch deshalb schwerer, weil 1979 lediglich drei öffentlichrechtliche Programme miteinander konkurrierten. Unter den heutigen Bedingungen des dualen Rundfunksystem mit seinen vielen Kanälen ließe sich Ähnliches kaum mehr wiederholen.
Wenn man der Fernsehserie „Holocaust“ zugute gehalten hat, sie habe bei einem „Tabuthema“ den „Bann gebrochen“, so unterschätzte man wahrscheinlich, was über viele Jahre hinweg durch andere Beiträge und Sendungen in den Massenmedien schon geleistet worden war. Ohne deren „Vorarbeit“ wäre vermutlich auch diese TV-Serie nicht auf so großen Widerhall gestoßen. Nichtsdestotrotz war ihre Ausstrahlung 1979 ein singuläres Ereignis und hat die Bereitschaft aktiviert, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinander zusetzen. Eine langfristige Folge war nicht zuletzt eine semantische, nämlich dass sich in Deutschland (wie auch in anderen Ländern) der Begriff „Holocaust“ als Chiffre für den Massenmord an den Juden durchsetzte. Die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte „Holocaust“ jedenfalls zum Wort des Jahres 1979.
Literatur:
Yitzhak Ahren/ C.B. Melchers/ W. Seifert/ W. Wagner, Das Lehrstück „Holocaust“. Zur Wirkungspsychologie eines Medienereignisses, Opladen 1982.
Christoph Classen, Bilder der Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955-1965, Köln/Weimar/Wien 1999.
Tilmann. Ernst, „Holocaust“ in der Bundesrepublik: Impulse, Reaktionen und Konsequenzen der Fernsehserie aus der Sicht politischer Bildung, in: Rundfunk und Fernsehen 28(1980) S.509-533.
Friedrich Knilli: Endlösung aller Zukunftsfragen des US-Fernsehens? Ein Marketing-Produkt und seine Rezeption in den USA, in: Medium 9,1 (1979) S.22-25.
Peter Märthesheimer/ Ivo Frenzel (Hg.): Im Kreuzfeuer: Der Fernsehfilm Holocaust. Eine Nation ist betroffen. Frankfurt/M. 1979.
Heinrich von Nussbaum, The most beautiful show – Das Medienereignis als Indikator, in: Medium 9,1 (1979) S.8-15.
Karl Prümm, Dokumentation des Unvorstellbaren: Ein Tag. Bericht aus einem deutschen Konzentrationslager 1939. Hinweis auf einen noch immer verkannten Film, in: Waltraud W. Wende (Hg.), Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis. Stuttgart/Weimar 2002, S. 123-140.
Wolfgang Scheffler: Anmerkungen zum Fernsehfilm „Holocaust“ und zu Fragen zeithistorischer Forschung. In: Geschichte und Gesellschaft 5(1979) S.571-579.
Joachim Siedler, „Holocaust“ – Die Fernsehserie in der deutschen Presse, Münster 1984.
Dieter Weichert, „Holocaust“ in der Bundesrepublik: Design, Methode und zentrale Ergebnisse der Begleituntersuchung, in: Rundfunk und Fernsehen 28(1980) S.488-508.
Jürgen Wilke, Massenmedien und Vergangenheitsbewältigung. In: J.W. (Hg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln/Weimar/Wien 1999, S.649-671.
Zitierempfehlung:
Jürgen Wilke, Die Fernsehserie „Holocaust“ als Medienereignis, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die Fernsehserie „Holocaust“ – Rückblicke auf eine „betroffene Nation“, hrsg. von Christoph Classen, März 2004, URL: <http://www.zeitgeschichteonline.de/md=FSHolocaust-Wilke>