„[…] gelangen sie auf humorvolle Weise in die Zeit, als Soldaten märchenhafte Uniformen und dreieckige Hüte trugen […]“.[1]
Dies ist eine seltsame Beschreibung für einen Besuch in der sogenannten „Kleinen Festung“ von Theresienstadt, einem Ort, der als Gefängnis der Gestapo für politische Gefangene genutzt wurde und dessen angrenzende Stadt als jüdisches Ghetto und Durchgangslager diente. 140.000 Menschen wurden nach Theresienstadt deportiert, 33.000 von ihnen wurden ermordet, 88.000 in Vernichtungslager deportiert, meist nach Auschwitz.
Dennoch bewirbt das Tourismusportal „Theresienstadt – Stadt der Veränderung“ einen Besuch des Ortes mit einer Reise in eine Zeit, in der „[…] Soldaten bei Kerzenschein aßen und im Heu schliefen.“[2] Unter diesem romantisierenden Motto finden seit einigen Jahren sogenannte „Reenactments“ in der „Kleinen Festung“ Theresienstadts statt, die (fiktive) Schlachten des 18. Jahrhunderts nacherzählen wollen.[3] Diese Darbietungen stehen im Widerspruch zu jeder historischen Faktizität, da die Festung kaum eine militärische Bedeutung hatte und es dort nie zu einer kriegerischen Auseinandersetzung im Sinne der „Reenactments“ gekommen ist. Zudem ignorieren die Werbedarstellungen des Tourismusportals die Geschichte des Ghettos und Gefängnisses Theresienstadt vollkommen und inszenieren die Anlage als historische Erlebnisstätte.
Wie kann es sein, dass ein Ort wie Theresienstadt, der untrennbar mit den Erfahrungen der Shoa verflochten ist, heute vollkommen losgelöst von diesen Verbrechen inszeniert werden kann? Um dies zu verstehen, lohnt sich ein kurzer Blick in die schwierige und umkämpfte Erinnerungskultur an Theresienstadt.
Mit der Befreiung begann der Kampf um die Erinnerung
Bereits direkt nach der Befreiung des Ghettos bemühten sich jüdische Überlebende, vor Ort ein genuin jüdisches Gedenken zu schaffen, und errichteten dazu eine provisorische Gedenkstätte am Ufer der Ohře an einer Stelle, an der die Asche von ermordeten Jüdinnen und Juden in den Fluss geschüttet wurde. Hier erinnerte zunächst ein Davidstern aus Birkenholz an die Toten. Dieser wurde später jedoch durch die Statue einer betenden Frau sowie durch eine Tafel ersetzt, die nur auf den Ruheort der Urnen hinweist, ohne auf eine bestimmte (Opfer-)Gruppe hinzuweisen. Die Gedenkstätte an der Ohře war neben dem jüdischen Friedhof am ehemaligen Krematorium der einzige „jüdische” Ort der frühen Erinnerung an Theresienstadt. Beide Stätten hatten gemeinsam, dass sie durch freiwillige Arbeit von Jüdinnen und Juden entstanden und gepflegt wurden und dass sie abseits von der Festungsstadt und der „Kleinen Festung” lagen. Das jüdische Gedenken existierte somit von Anfang an, aber eben nicht in Theresienstadt, sondern lediglich daneben. Es lassen sich weitere Beispiele finden, die zeigen, dass jüdische Initiativen bereits kurz nach Kriegsende versuchten, das jüdische Leid zu dokumentieren und den Toten zu gedenken. So auch die zionistische „Dokumentační akce“ [Dokumentationsaktion], die zwar nur ein Jahr lang bestand, allerdings eine Vielzahl von Dokumenten akquirieren und archivieren konnte.[4]
Im Gegensatz zum jüdischen Gedenken an Theresienstadt fokussierte sich die staatliche Erinnerungspolitik hauptsächlich auf die Opfer des Gefängnisses in der „Kleinen Festung“. So sprach man bereits unmittelbar nach Kriegsende in der Tschechoslowakei von Theresienstadt als „[…] größtes nationalsozialistisches Konzentrationslager auf dem Boden des Protektorats Böhmen und Mährens“.[5] Unter der Bezeichnung „Konzentrationslager“ verstand man allerdings nur die „Kleine Festung“ und demnach die Erfahrungen tschechoslowakischer, „politischer“ Gefangener. Das Ghetto Theresienstadt wurde in der öffentlichen Wahrnehmung als weniger „schlimm“ und daher weniger relevant verstanden. Als physischen Ort des Gedenkens an die Opfer des „Konzentrationslagers“ schuf der neue tschechoslowakische Staat einen großen, zentralen „Nationalfriedhof“ vor den Toren der „Kleinen Festung“. Ab Mai 1946 fanden hier „Befreiungsfeiern“ unter dem Titel „Golgatha der tschechischen Nation“ statt. Nach der Konsolidierung des sozialistischen Staates 1948 wurde auch die erste ständige Ausstellung in der „Kleinen Festung“ konzipiert. Diese konzentrierte sich ausschließlich auf den kommunistischen Widerstand und die Erfahrungen der Insassen des Gestapo-Gefängnisses in der Festung.[6]
Diese schnelle Nationalisierung der Gedenkstätte und die damit verbundene Marginalisierung der jüdischen Opfer lässt sich als ein Sinnbild des Umgangs mit der Shoa in der tschechischen Nachkriegsgesellschaft verstehen. Jüdisches Gedenken wurde ausschließlich der jüdischen Gemeinde zugesprochen. Diese pflegte den Friedhof nahe Theresienstadt und brachte verschiedene Entwürfe zur zukünftigen Gestaltung der Gedenkstätte ein, die mehrheitlich kein Gehör fanden. Der Kampf um das jüdische Gedenken wurde zudem bereits Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre durch einen erneut wachsenden Antisemitismus in Ostmittel- und Osteuropa erschwert. Dieser sorgte dafür, dass viele Jüdinnen und Juden emigrierten. Die verbliebene, nun sehr kleine jüdische Gemeinde in der ČSSR war kaum mehr in der Lage, das jüdische Gedenken und die Erinnerungsorte und Friedhöfe zu unterhalten. Somit verschwand das jüdische Gedenken zusehends und machte einem nationalen Narrativ Platz: Der neue Staat inszenierte sich im Rahmen eines universellen Antifaschismus und erzählte die Geschichte des tschechoslowakischen Martyriums und Widerstands als Genese des neuen Staates.
Erinnerung im Spät- und Postsozialismus
Dieser nationale Fokus dominierte die Erzählung der Okkupationsgeschichte in der ČSSR bis auf wenige punktuelle Ausnahmen, die sich in den Publikationen dissidentischer Historiker*innen im Samisdat finden lassen.[7] Auch im Zuge der gesellschaftlichen Liberalisierung der 1960er Jahre entstanden neue Versuche zur Konzeption eines Ghetto-Museums in Theresienstadt.[8] Mit der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings und dem Beginn der „Normalisierung“ verblassten diese Pläne jedoch. Eine breite Öffentlichkeit fand die jüdische Erinnerung erst mit dem Ende des Staatssozialismus.
In den 1990er und frühen 2000er Jahren wurden unter der Regierung Václav Havels verschiedene Projekte der Erinnerung ins Leben gerufen, wie beispielsweise im Jahr 1988 „Fenomém Holocaust“. Zudem trat die Tschechische Republik 2001 in die internationale „Task Force for international Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research“ ein. Auch der Erinnerungsort Theresienstadt konnte in dieser Zeit einen deutlichen Zuwachs an Besucher*innen und öffentlicher Aufmerksamkeit verzeichnen. 1991 wurde schließlich das Museum des Theresienstädter Ghettos eröffnet. Dabei entstanden eine Vielzahl neuer Gedenktafeln und Erinnerungsorte im öffentlichen Raum der Kleinstadt. Trotz dieser Erfolge lässt sich das Jahr 1989 nicht nur als Beginn einer Wiederentdeckung der jüdischen Geschichte interpretieren. Mit Ende des Staatssozialismus begann auch die Suche nach einer neuen nationalen Identität. Die Kulturwissenschaftlerin Marketa Spiritova hat in diesem Zusammenhang anschaulich argumentiert, dass der literarisch und akademisch geprägte Dissens in der ČSSR nach 1989 keine „wirkmächtige“ politische Tradition erschaffen und somit als identitätsstiftendes Paradigma nicht funktionieren konnte.[9] Daher suchte man Identität in der Vergangenheit und besann sich auf die tschechoslowakische Vorkriegsrepublik und auf den Widerstand im Verlauf des Zweiten Weltkrieges. In diesen Erzählungen spielte die jüdische Lebenswelt allenfalls nur eine Nebenrolle.
Schlussbemerkungen
Bestimmend für die Erinnerung an die Shoa in den Jahrzehnten seit der Befreiung des Ghettos ist ihre Verdrängung an den Rand des kollektiven Gedächtnisses beziehungsweise – ganz physisch – an den Rand des Ortes Theresienstadt. Daher ist es nur konsequent, dass heute populäre, pseudo-historische Reenactments diesen Ort nutzen können. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Gedenken in Theresienstadt im Spannungsfeld zwischen Erinnerungsort und Tourismusattraktion im Weiteren entwickeln wird.
[1] Vgl. „Theresienstadt – Stadt der Veränderung“ [zuletzt abgerufen am 4.07.2019].
[2] Ebd.
[3] Vgl. Projekt Terezin [zuletzt abgerufen am 4.07.2019].
[4] Die durch die „Dokumentační akce“ akquirierten Dokumente stellen bis heute zentrale Quellen für die Geschichte der Shoa dar. Sie liegen dem Jüdischen Museum in Prag vor und können in großen Teilen online eingesehen werden [zuletzt abgerufen am 4.07.2019].
[5] Hallama, Peter: Nationale Helden und jüdische Opfer. Tschechische Repräsentationen des Holocaust (Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa 1), München 2015, S. 67.
[6] Blodig, Vojtech: Die Gedenkstätte Theresienstadt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Wann ziehen wir endlich den Schlussstrich? Von der Notwendigkeit öffentlicher Erinnerung in Deutschland, Polen und Tschechien, Berlin 2004, S. 181-190, hier: S. 182.
[7] Hallama, Peter: „Vergangenheitsbewältigung“ auf Tschechisch. Der Holocaust im tschechischen Samizdat, in: Hallama, Peter und Stach, Stephan (Hg.): Gegengeschichte. Zweiter Weltkrieg und Holocaust im ostmitteleuropäischen Dissens (Schriftenreihe der Societas Jablonoviana 3), Leipzig 2015, S. 237-260, hier S. 237.
[8] 1962 wurde beispielsweise die Gedenkstätte Theresienstadt erstmals als Kulturdenkmal definiert und somit unter Denkmalschutz gestellt. Anfang der 1970er Jahre wurden Pläne für ein jüdisches Museum in Terezín allerdings bereits zu Gunsten eines „Museums der nationalen Sicherheit und revolutionären Tradition Nordböhmens“ verworfen.
Blodig, Vojtech: Die Gedenkstätte Theresienstadt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Wann ziehen wir endlich den Schlussstrich? Von der Notwendigkeit öffentlicher Erinnerung in Deutschland, Polen und Tschechien, Berlin 2004, S. 181-190, hier S. 183f.
[9] Vgl. Spiritova, Marketa: Performing the Nation. Inszenierung des Nationalen in der Populären Kultur, in: Götz, Irene; Roth, Klaus und Spiritova, Marketa (Hg.): Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (Ethnographische Perspektiven auf das östliche Europa, Bd. 3). Bielefeld 2017, S. 17-37, hier S. 19.