von Luisa Jabs

  |  

20. August 2019

Ein alter BMW fährt auf der Autobahn. Der Schnitt in den Innenraum zeigt Leo Wagner am Steuer. Wagner ist parlamentarischer Geschäftsführer der Union, Bundestagsabgeordneter der CSU, enger Vertrauter von Franz Josef Strauß. Die schwarz-weiß Aufnahmen stammen aus einem Wahlwerbefilm der 1960er-Jahre. Wagner mit der markanten schwarzen Hornbrille blickt freundlich drein, als sich der Sprecher aus dem Off zu Wort meldet: „Was man nicht sieht: Sein ausschweifendes Nachtleben mit Kaviar, Champagner und leichten Frauen.“ Die melancholische Hintergrundmusik tut ihr Übriges um dem sonst fröhlich anmutenden Ausschnitt, eine beklemmende Wirkung zu geben.

Benedikt Schwarzer, der Regisseur und Drehbuchautor von Die Geheimnisse des schönen Leo, ist der Enkel von Leo Wagner. Seine Mutter Ruth ist dessen Tochter. Doch die Familienverhältnisse sind nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint. Ruth Schwarzer begleitet ihn als Gesprächspartnerin durch den Film, erzählt von einem gespaltenen Verhältnis zum Vater. Sie habe ihn, so Ruth Schwarzer, lange vor seinem Tod beerdigt. In die Geschichte eingegangen ist Leo durch seine Skandal-Schlagzeilen: Das Wirtschaftsmagazin Capital titelt 1973 mit der desolaten finanziellen Situation Wagners, in der er versucht, seine wachsenden Schulden durch immer weitere Kredite zu tilgen. Der Spiegel berichtet ebenfalls an prominenter Stelle darüber.[1] Die zeithistorische Forschung beschäftigt sich mit seiner Rolle im Zuge des Misstrauensvotums gegen Willy Brandt 1972, bei welchem Wagner von der DDR bestochen worden sein soll, um gegen seine eigene Koalition zu stimmen.[2]

 

Eine Reise in die Vergangenheit

Der Regisseur hat es sich zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, „was wirklich passiert ist.“ Das bedeutet eine Reise zurück in die BRD der 60er- und 70er-Jahre, in denen Wagner als schillernde Figur eine große Rolle in der Politik gespielt hat. Genauer aber auch eine Reise in die Geschichte von Schwarzers Familie und die der Kontroversen um seinen Großvater. Dass er sich dazu im gleichen, mittlerweile Oldtimer, BMW auf den Weg macht, scheint nach einem Kommentar über die Brillenmodelle Schwarzers und seiner Mutter, die jenem Leo Wagners zum Verwechseln ähnlichsehen, ausgenommen kitschig. Nichtsdestotrotz ist Die Geheimnisse des schönen Leo ein sehr persönlicher Film geworden, der Schwarzer und seine Familie nachhaltig beeinflussen wird.

Die Zuschauer*innen folgen mit Schwarzer Leo Wagners Lebens- und Karriereverlauf. Das beginnt in Günzburg, Bayern, wo Wagners politische Karriere startet, und zieht sich weiter über Bonn und Berlin. Die Interviewpartner sind alte Weggefährten seines Großvaters. Bereits hier zeigen sich die Kontroversen um Leo deutlich ab; während ein anonymer Kollege skandiert, Schwarzer könne stolz auf seinen Großvater sein, der immer für seine Ideale eingetreten sei, lehnt CSU-Politiker Theo Waigel ein Gespräch aufgrund schlechter Erfahrungen mit Wagner ab.

 

Abstieg ins Zwielicht

Was sich bereits angedeutet hat, wird nun bestätigt: Leo Wagner war ein Freund des süßen Lebens. In Gesprächen mit einem Bekannten und dem ehemaligen Barkeeper einer Kölner Bar entfaltet sich erstmals eine Idee seiner nächtlichen Abenteuer, allerdings nie visualisiert, sondern unterlegt mit klischeehaften schwarz-weiß Aufnahmen hübscher Tänzerinnen. Umgeben von den wichtigsten Leuten der Stadt und zahlreichen „Traumfrauen“, wie der Film es nennt, die nebenbei in den schicken, aber zwielichtigen Bars anschafften, fühlte sich Leo wohl. Fast jeden Abend fand er sich in eben solchen Lokalen ein. Rechnungen von über 1.000 DM pro Nacht waren die Regel, unfassbare Summen für diese Zeit. Die Vergnügungen hinterlassen ein Loch in seinen Finanzen – der schöne Leo Wagner ist in Geldnot.

Die Beschaffung von Geld führt in eine Abwärtsspirale. Wagners Fahrer Herr Jankowiak erinnert sich an dubiose Kuvert-Übergaben in der Nacht. Wagner lernt damals den Journalisten Georg Fleißmann kennen. Schwarzer trifft Fleißmanns Sohn, der von ähnlichen Familienverhältnissen und einer exzessiven Lebensführung des Vaters berichtet. In Berlin erfährt Schwarzer von Horst Kopp, einem ehemaligen Offizier der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A), dem Auslandsspionagedienst der DDR, dass Fleißmann als inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit fungierte. Und er meldete, dass er mit Wagner in Kontakt steht. So begann Leo, laut Kopp, Informationen gegen Geld an die Stasi zu liefern.[3]

Der Film ist mit all den Aufnahmen von den Hauseingängen der Interviewten und ausgedehnten Autofahrszenen gewollt langsam gehalten. Der Versuch, Atmosphäre zu erzeugen, scheitert allerdings und zuweilen entwickelt sich eine unfreiwillige Komik durch die wiederholten Schnitte auf Benedikt Schwarzer, dessen Mimik dabei häufig ebenso wenig spricht wie er selbst.

 

Wie ein Politkrimi

Nach einem behäbigen Anfang entwickeln sich die Szenen nun zum Krimiformat. Es geht um Willy Brandt, der 1969 erster Kanzler der SPD wird, und um seine neue Ostpolitik. Um die Verträge von Moskau und Warschau zu verhindern, versucht die Opposition, erstmals in der noch kurzen Geschichte der Bundesrepublik den Kanzler durch ein Misstrauensvotum zu stürzen. Und immer mittendrin Leo Wagner, der eng mit dem Oppositionskandidaten Rainer Barzel zusammenarbeitet. Der Ausgang des Votums ist bekannt: Brandt bleibt im Amt, denn Barzel fehlen zwei Stimmen der eigenen Partei.[4]

Die Suche nach den Schuldigen bleibt erfolglos, bis der Bundestagsabgeordnete Julius Steiner zugibt, dass er mit 50.000 DM von der HV A bestochen wurde. Ein Untersuchungsausschuss wird eingerichtet, auch Leo Wagner fordert eine Aufklärung. Doch das bleibt aus. Unterlegt sind die Geschehnisse mit zeitgenössischen Fernsehbildern.

 

In Eigenrecherche

Der Regisseur kehrt in die Gegenwart zurück, als er sich auf den Weg zur Stasiunterlagenbehörde nach Berlin macht. Gemeinsam mit dem Historiker Georg Herbstritt sucht er nach Unterlagen über Leo. Bei der HV A ist er tatsächlich unter dem Decknamen Löwe als Agent registriert. Allerdings erst ab 1975, also drei Jahre nach dem Misstrauensvotum. Das Urteil Herbstritts lautet: Die Dokumente geben keinen Beleg für Leos Parteiverrat. Doch Schwarzer sucht weiter. Es steht weiterhin die Aussage Kopps im Raum, der für Wagners Bestechung verantwortlich sein will. Der Regisseur leistet Archivarbeit und wälzt Kopps Akte sowie alte Gerichtsakten von Leos Prozess wegen Kreditbetrugs – und wird fündig.

 

Keine heile Welt

Die alles andere als heile Familiengeschichte um Leo und Elfriede Wagner wirft weitere ungeahnte Abgründe auf, die sich nicht wie ein Krimi, sondern viel eher wie ein Drama anfühlen, und Benedikt und Ruth Schwarzer in den Mittelpunkt des Films rücken lassen. Der Regisseur selbst schließt am Ende, dass er durch seine Suche mehr über seine Mutter als über Leo Wagner gelernt hat. Viel mehr sollte dazu nicht verraten werden, die relevanten Szenen muss man mit eigenen Augen sehen, denn sie gehören zu den stärksten des Films.

Die Dokumentation arbeitet mit einer Collage aus neuen und historischen Szenen. Mit den zwei Handlungssträngen, des Misstrauensvotums Ende der sechziger Jahre und der Familiengeschichte, unterhält die Co-Produktion von Lichtblick Film mit dem BR und dem WDR den Zuschauer besonders ab der zweiten Hälfte außerordentlich gut.
Die kurze Spieldauer von nur 80 Minuten ist angemessen, dennoch wirken ein bis zwei Gesprächspartner deplatziert und eine weitere Kürzung hätte nicht geschadet. Auch der Kommentar des Regisseurs ist bisweilen recht platt, wenn er sich etwa nach den Vorwürfen in den zeitgenössischen Medien fragt: „Mein Großvater, ein Verräter?“ Dennoch entlässt der Film die Zuschauer*innen durch seine intimen Einsichten in die Gesellschaftsgeschichte der sechziger Jahre und die schwierige Familiengeschichte seines Protagonisten nachdenklich.

 

Die Geheimnisse des Schönen Leo

Regisseur und Drehbuchautor: Benedikt Schwarzer

Verleih: RealFiction

Produktion: Lichtblick Film in Kooperation mit BR und WDR 

Kinostart: 17.01.2019

 

 

 

 


[1] Der Spiegel, Affäre Wagner: In den Wind, [abgerufen am 20.08.2019]

[2] Andreas Grau, Auf der Suche nach den Fehlenden Stimmen 1972. Zu den Nachwirkungen des gescheiterten Misstrauensvotums Barzel/Brandt, [abgerufen am 20.08.2019]; Georg Herbstritt, Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage. Eine analytische Studie, Göttingen 2007.

[3] Siehe zu Kopp: Horst Kopp, Der Desinformant. Erinnerungen eines DDR-Geheimdienstlers, Berlin 2016.

[4] Grundlegend zum Misstrauensvotum 1972, [abgerufen am 20.08.2019].