von Marc Buggeln

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6. Mai 2020

Anlässlich des sich 2020 zum 75. Mal jährenden Endes des Zweiten Weltkriegs haben wir mit Marc Buggeln über die Geschichte hinter und die Debatte um den „Tag der Befreiung“ gesprochen.

 

zeitgeschichte | online: In diesem Jahr ist der 8. Mai in Berlin einmalig ein gesetzlicher Feiertag. Es gibt Stimmen, etwa des Direktors der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Axel Drecoll, die sich dafür aussprechen, diesen Feiertag bundesweit zu verstetigen. Tatsächlich ist die Debatte um den erinnerungspolitischen Umgang mit dem 8. Mai in Deutschland keineswegs neu. Was spricht für und/oder gegen den 8. Mai als gesetzlichen Feiertag der Befreiung?

Buggeln: Die Debatte über diesen Tag ist tatsächlich eine sehr alte, da ja die DDR den 8. Mai bereits 1950 als Feiertag etablierte und als „Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus“ bis 1967 jährlich beging. In der Bundesrepublik wurde dies zur Kenntnis genommen, aber von der damaligen Bundesregierung wurde der 8. Mai kaum als Tag der Befreiung betrachtet. Dies hat sich erst seit den 1970er Jahren zu wandeln begonnen, was dann in der Weizsäcker-Rede von 1985 deutlich Ausdruck gefunden hat, auch wenn sich einzelne Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch im Jahr 1985 noch gegen die Vorstellung vom Tag der Befreiung wandten. Sehr schön hat diese deutsch-deutsche Debatte Jan-Holger Kirsch in seiner inzwischen frei im Internet zugängliche Magisterarbeit aus dem Jahr 1999 nachgezeichnet.
Für den 8. Mai als Feiertag spricht, dass an diesem Tag fast ganz Europa von einem der gewalttätigsten und auf jeden Fall am stärksten rassistisch und antisemitisch agierenden Regime aller Zeiten befreit wurde. Dies kann und sollte gefeiert werden. Skeptischer stehe ich den Äußerungen gegenüber, die davon ausgehen, dass mit dem 8. Mai als Feiertag die AfD bekämpft werden könnte. Zwar gibt es ideologische Versatzstücke aus dem Nationalsozialismus, die in der AfD eine Rolle spielen, aber es gibt eben auch erhebliche Unterschiede. Die Auseinandersetzung mit der AfD im Hier und Jetzt scheint mir in dieser Hinsicht wichtiger als die Begehung eines Feiertags zur Befreiung vom Nationalsozialismus. Zudem besteht bei Feiertagen die Gefahr der Erstarrung in Ritualen, die vielen Menschen nichts mehr sagen. Hier ist es wichtig, dass das regionale Gedenken gefördert wird und vielfältige Erinnerungsformen ihren Platz finden können. Hoffnung macht, dass dies aus meiner Sicht für das Gedenken am 27. Januar bisher ganz gut funktioniert hat.

 

zeitgeschichte | online: Wie betrachten Sie als Historiker den 8. Mai?

Buggeln: Als Historiker ist an solchen Tagen die Debatte um Struktur und Ereignis interessant. Von der strukturellen Seite sieht man, dass Deutschland spätestens 1943 kaum noch eine Chance hatte, den Krieg zu gewinnen, und es gibt Historiker*innen, die sagen, dass das nationalsozialistische Regime diesen Krieg aus strukturellen Gründen niemals hätte gewinnen können. In dieser Perspektive spielt der 8. Mai 1945 dann eine vergleichsweise geringe Rolle. Es ist der Tag, an dem sich ein vorhersehbares Ereignis schließlich manifestiert. Andererseits gibt es die Debatten um den 8. Mai als „Stunde Null“. Sie führt vor Augen, dass erst mit der deutschen Kapitulation grundlegende Veränderungen beginnen konnten. Zeit spielt für Historiker*innen immer eine große Rolle: Zwar war sicher, dass der Sieg der Alliierten kommen würde, aber wäre er ein Jahr früher oder später gekommen, hätten sich vermutlich auch die Koordinaten für die Nachkriegsordnung verschoben. 

 

zeitgeschichte|online: Sie haben zu (Außen-)Lagersystemen und Zwangsarbeit im NS geforscht. Was geschah mit den Zwangsarbeiter*innen unmittelbar und langfristig nach der Befreiung 1945? Und wie lassen sich Debatten und Entscheidungen um Entschädigungszahlungen mit solchen um die bundesweite Begehung des Tags der Befreiung vergleichen? Wo gibt es hier Überschneidungen?

Buggeln: Für die Gefangenen der nationalsozialistischen Lagersysteme und für Millionen Zwangsarbeiter*innen war der 8. Mai ohne Zweifel ein Tag der Befreiung. Sie gehörten zu jenen, sofern es ihr körperlicher Zustand zuließ, die die Ankunft der Alliierten am stärksten feierten. Für die Bundesrepublik würde ich bei den beiden Debatten eine starke Parallelität sehen: Solange die bundesdeutsche Gesellschaft den 8. Mai nicht als Befreiung empfand, war sie auch nur auf  Druck der Alliierten zur Zahlung von Entschädigungen bereit. Auch später blieb Druck aus dem Ausland für die Durchsetzung von Entschädigungszahlungen ein wichtiges Moment. Ohne den Wandel in der deutschen Erinnerungskultur wäre er aber weniger erfolgreich gewesen.

 

zeitgeschichte | online: In der DDR war, wie Sie eben bereits erwähnten, der 8. Mai von 1950 bis 1967 ein gesetzlicher Feiertag und galt als „Tag der Befreiung“. Weite Teile der Bevölkerung sowie die politische Elite der alten Bundesrepublik waren jedoch anderer Meinung, zumindest was den Anteil der Sowjetunion an der Befreiung betraf. Ist die Tatsache, dass wir heute den 8. Mai als Feiertag einer gesamten Gesellschaft anerkennen können, auch ein Zeichen für das vielbeschworene Zusammenwachsen?

Buggeln: Hier wäre ich vorsichtiger und skeptischer. Wir wissen schließlich bisher wenig darüber, inwieweit weite Teile der DDR-Bevölkerung, insbesondere nach 1953, die Sowjetunion als Befreier empfanden. Und auch heute würde ich vermuten, dass ein Teil der Bevölkerung, in Ost wie West, die Sowjetunion eher als Okkupanten denn als Befreier betrachten würde. Es wäre aber sicher interessant, zu prüfen, inwiefern heute in den alten und neuen Bundesländern mit dem 8. Mai Ähnliches oder Unterschiedliches verbunden wird.

 

zeitgeschichte | online: Was sagt der Umgang mit dem 8. Mai über die deutsche Erinnerungskultur aus, gerade auch im internationalen Vergleich? Und gibt es transnationale Bestrebungen, den Tag zu einem europäischen Gedenktag zu machen?

Buggeln: Bisher gibt es nur wenige Äußerungen, die in diese Richtung gehen, aber das schließt nicht aus, dass sich später einmal das Gedenken in diese Richtung entwickelt. Der 27. Januar wurde in Deutschland schließlich auch schon 1996 als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus eingeführt, in Anlehnung an ältere Shoah-Gedenktage in Israel und den USA, die allerdings nicht an einem festen Tag im Jahr liegen. Im Jahr 2001 folgte Großbritannien mit dem 27. Januar als Gedenktag und 2005 wurde der Tag dann von den Vereinten Nationen mit der Resolution 60/7 als „International Holocaust Remembrance Day“ auf Initiative Israels dauerhaft etabliert.
Dies hat zweifelsohne transnationale Debatten über die Erinnerung an den Holocaust befördert. Dennoch sind die Gedenkveranstaltungen aber nach wie vor häufig national geprägt. Zudem besteht bei der transnationalen Erinnerung die Gefahr, dass sich eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner ergibt, wodurch unterschiedliche Erinnerungen eher zugedeckt, als in einen produktiven und durchaus auch politischen Dialog gebracht werden können.

 

zeitgeschichte | online: Wir haben in diesem Jahr Autor*innen gebeten, jeweils ein „Bild der Befreiung“ einzureichen und zu kommentieren. Welches wäre Ihres?

Buggeln: Die meisten Konzentrationslager wurden vor Ankunft der Alliierten geräumt. Zurück blieben nur die Gebäude und wenige geschwächte Häftlinge, die die SS für nicht transportfähig hielt. Dementsprechend sind die meisten Fotos von der Befreiung der Lager Bilder des Schreckens. Zu sehen sind Leichenberge, Gaskammern, Krematorien und wenige Häftlinge, die mehr tot als lebendig aussehen. Das größte Konzentrationslager im angeschlossenen Österreich war das KZ Mauthausen. Von den großen Konzentrationslagern war es das vorletzte, das am 5. Mai 1945 – drei Tage vor dem Kriegsende in Europa – befreit wurde. Nur das KZ Stutthof bei Danzig wurde von der Roten Armee noch vier Tage später befreit. Die späte Befreiung Mauthausens hatte zur Folge, dass die SS kein Ziel mehr hatte, wo sie die Häftlinge hätte hin transportieren können. Deswegen vernichtete die SS im Wesentlichen die Lagerunterlagen und die letzten SS-Angehörigen flohen beim Näherrücken der Alliierten am 3. Mai.  Die große Mehrzahl der Häftlinge war also anwesend, als am 5. Mai alliierte Truppen das Lager befreiten.

Nachgestellte Szene vom ersten Eintreffen amerikanischer Soldaten in Mauthausen, vermutlich 7. Mai 1945. Die tatsächliche Lagerbefreiung geschah am 6. Mai 1945. (Fotograf: Cpl Donald R. Ornitz, Quelle: US National Archives and Records Administration)

 

Unter ihnen waren auch Häftlinge, die noch bei vergleichsweise guter Konstitution waren und ihre Freude über die Befreiung zum Ausdruck bringen konnten. Die im Lager zahlreich vertretenen rotspanischen Häftlinge hatten ein 20 Meter langes Transparent erstellt, das die Befreier begrüßte, und welches sie über dem Lagertor befestigten. Ein oder zwei Tage nach der Befreiung wurde mit diesem Hintergrund die Einfahrt der amerikanischen Truppen für ein Foto noch einmal nachgestellt. Dies ist das bekannteste Foto von der Befreiung Mauthausens. Mein Lieblingsfoto zeigt aber, wie vormalige Häftlinge am Tag der Befreiung den Reichsadler mit Hakenkreuz vom Tor zum Garagenhof entfernen.

Befreite Häftlinge bei der Demontage des Reichsadlers über der Einfahrt zum Garagenhof des Lagers Mauthausen, 5. Mai 1945. (Foto: US Signal Corps)

 

Der spanische ehemalige KZ-Häftling Mariano Constante: „Zwei oder drei Tage zuvor hatte die spanische Organisation beschlossen, ein Transparent anzufertigen, um die Ankunft unserer Befreier zu begrüßen. (...) Auf Spanisch schrieben wir darauf: Los Espagnoles antifascistas saludan a las fuerzas liberadoras – Die spanischen Antifaschisten begrüßen die Befreiungstruppen. In die Mitte kamen die Fahnen der Alliierten und auf jede Seite ein Willkommensgruß auf Englisch und Russisch. (...) Als uns die Nachricht erreichte, war ich gerade dabei, die russische Übersetzung zu schreiben. Wir mussten unsere Arbeit in aller Eile fertigstellen. Deswegen sieht man auf dem … Foto ... beim Wachturmgiebel die russische Inschrift mit so schlecht vorgezeichneten, eilig geschriebenen Lettern. Ein paar Minuten später wurde das Transparent gehisst und am Giebel befestigt, zur großen Überraschung des gesamten Lagers. Während dieser Zeit herrschten im Lager Euphorie und Durcheinander.“[1]

 

 

Das Interview mit Marc Buggeln wurde schriftlich geführt.

 


[1] Zitat aus Quellen der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.