Politik und Gesellschaft in den USA sind in diesen Tagen derart in Bewegung, dass jede Bestandsaufnahme nur temporären Charakter haben kann und von den Ereignissen womöglich bald überholt wird. Eine solche Bestandsaufnahme sei hier trotzdem in fünf Punkten versucht:
Erstens: Die Auseinandersetzungen, die die amerikanische Gesellschaft spalten, haben in der Polizeigewalt, die zum Tod des Afroamerikaners George Floyd führte, ihren Anlass, doch die Ursachen dafür sind zum Teil über Jahrzehnte hinweg herangereift.
Die schwarze Bürgerrechtsbewegung konnte seit den 1950er Jahren unter großen Opfern eine Reihe von Erfolgen erringen, die die rechtliche Stellung der afroamerikanischen Bürgerinnen und Bürger vor allem im Süden deutlich verbesserte. Sichtbarer Ausdruck war im Jahr 1964 die Aufhebung jener Gesetze, die bis dahin die Trennung nach Hautfarben in der Öffentlichkeit festschrieben. Die Regierung in Washington, die Bundesstaaten sowie private und religiöse Organisationen unternahmen große Anstrengungen, um die Chancen für Nicht-Weiße vor allem im Bildungsbereich zu verbessern. Diese Anstrengungen wurden jedoch faktisch (kaum in Worten) seit Ronald Reagans Präsidentschaft 1980 konterkariert mit der Ablösung der zaghaften Reformpolitik durch die Politik des Neoliberalismus. Diese Politik strich wohlfahrtsstaatliche Programme rigoros zusammen, was die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößerte, zunächst aber breitere Teile des Mittelstandes noch verschonte. Allerdings wurde eben dieser Mittelstand durch die Bankenkrise, die sich zur ökonomischen Strukturkrise ausweitete ab 2008 umso härter getroffen.
Der Verlust an realer wie an erträumter Sicherheit ließ breite Teile des Mittelstandes nach rechts rücken, noch nicht im Sinne einer autoritären Krisenlösung, wohl aber durch gesteigerten Unwillen, überhaupt etwas für die sozial Schwachen zu tun. Der Republikanischen Partei gelang in diesen für sie kritischen Jahren der Spagat zwischen dem Anspruch, den hart arbeitenden „einfachen Mann“ zu vertreten, und den Interessen des Big Business durch einen nationalistisch aufgeladenen Nativismus, für den in seiner krudesten Form Sarah Palin, für seine „gemäßigte“ Form Präsident George W. Bush stand. Die Demokratische Partei konnte dem nur zeitweise durch Barack Obama erfolgreich begegnen.
Zweitens: Die heutige Protestbewegung entstand spontan und ist zumindest bisher führungs- und weitgehend auch ziellos.
Es gibt keine Persönlichkeiten wie Martin Luther King oder auch Malcolm X als Sprecher der Protestbewegung – Sprecherinnen gab es damals überhaupt nicht, was sich seitdem geändert hat. Bernie Sanders erzielt derzeit kaum öffentliche Wirkung. Die politische Immobilität der Demokratischen Partei zeigt sich daran, dass viele ihrer Mitglieder und ihrer Anhängerschaft ihn in den Vorwahlen zugunsten von Joe Biden als Präsidentschaftskandidaten abwählten. Dafür war nicht zuletzt die schwarze demokratische Wählerschaft in den Südstaaten verantwortlich. Das dort im letzten halben Jahrhundert zu Wohlstand gekommene afroamerikanische Bürgertum möchte seine Lage nicht für soziale Experimente, hinter denen es Sozialismus vermutet, aufs Spiel setzen. In der spanischsprachigen Arbeiterklasse gibt es Ansätze eines politischen Bewusstseins, unter weißen Arbeiterinnen und Arbeitern ist davon – dies ist nüchtern zu konstatieren – nur sehr wenig zu bemerken. Insgesamt aber mangelt es der Protestbewegung – über die berechtigte Forderung nach einem Ende rassistischer Diskriminierung und Gewalt hinaus – an programmatischen Forderungen, die auf eine positive Veränderung der Gesellschaft abzielen.
Drittens: Die Protestbewegung ist breiter als in den 1960er Jahren.
Ex-Präsident Obama hielt kürzlich mit Recht fest, dass die Protestbewegung gegen die heutige Wirklichkeit der USA breiter ist als in den 1960er Jahren. Damals wurde die schwarze Bürgerrechtsbewegung von Weißen in größerer Zahl unterstützt, wenngleich nur solange die Männer den Einberufungsbefehl nach Vietnam befürchten mussten. Mit der Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht 1973 wurde der Protestbewegung eine wichtige Spitze genommen. Eine Ausnahme stellte zunächst die starke jüdische Unterstützung für die schwarze Bürgerrechtsbewegung dar, bis diese in großen Teilen im israelisch-arabischen Krieg Partei für die arabischen Staaten und später die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) bezog, die jüdische Gemeinschaft hingegen Israel unterstützte.
Noch nicht eindeutig nachweisbar ist, inwieweit die Ausschreitungen und Plünderungen durch den in allen Krisenzeiten stets präsenten Mob, inwieweit sie durch rechtsradikale Provokateure verursacht wurden. Für die letztere Annahme – mehr kann es vorerst nicht sein – spricht, dass es verkehrstechnisch in Corona-Zeiten nicht einfach ist, größere und selbst kleine militante Gruppen an relativ abgelegene Plätze wie Minneapolis-St. Paul oder Atlanta zu bringen und dass dies einer guten logistischen Vorbereitung bedarf.
Viertens: Die aktuelle Krise ist komplex und überlagert sich mit älteren Konfliktlinien.
Die aktuelle Krise wird aus der – nicht mehr rechtlichen, doch ökonomisch-strukturellen sowie sozial-kulturellen – Benachteiligung gespeist, die die afroamerikanische Bevölkerung erfährt - trotz deklarierter und zum Teil durch Quoten tatsächlich garantierter Bevorzugung in einigen Bereichen (wie dem Hochschulwesen). Jeder und jede Schwarze auf Suche nach Arbeit oder mit der Absicht, sich in einer weißen Wohngegend niederzulassen, kann darüber berichten. Die herabwürdigende (und zum Teil tödliche) Behandlung durch Teile der Polizei tut ein Übriges, und gerade dies brachte das Fass des Zorns zum Überlaufen. Jetzt aber bedroht die Corona-Krise, deren unmittelbare Einschränkungen schon einschneidend genug sind, auch das Wirtschaftsleben der USA: die Arbeitslosigkeit erreicht derzeit schwindelerregende Höhen, für die nur die Jahre ab 1929 einem Vergleich standhalten.
Fünftens: Zur sozialen Spaltung und der gegenwärtigen Wirtschaftskrise kommt die Polarisierung der Gesellschaft durch das Handeln und die Äußerungen des US-Präsidenten hinzu.
Über die Politik Donald Trumps ist vieles gesagt, was hier nicht wiederholt werden muss. Nur so viel: Er ist noch immer imstande, Massen zu mobilisieren. Gegenwärtig ändert er seine Wahlkampf-Strategie. Suchte er bisher seinen – farblosen – Kontrahenten Biden als Sozialisten abzustempeln, lässt er ihn derzeit nahezu links liegen und konzentriert sich auf zwei Themen: auf China als behauptete Bedrohung für die USA sowie auf das Prinzip von Law and Order, das nur er allein garantiere. Ob er wirklich durch den gesetzwidrigen Einsatz des Militärs im Inneren „durchgreift“ oder abwartet, dass die Plünderungen die Protestbewegung soweit diskreditieren, bis diese sich womöglich totläuft, ist derzeit nicht vorherzusagen. Dass die Politik des Präsidenten innen- wie außenpolitisch auf wachsenden Widerspruch auch der ökonomisch und politisch Mächtigen stößt, ist aber unbestreitbar. Nur sollte niemand das präsidiale Machtkartell unterschätzen, denn dieses hat – im Unterschied zur Demokratischen Partei und ihrer Anhängerschaft – eine klare Botschaft: Make America great again – im Sinne der Umgestaltung des Landes, in dem zwar die demokratische Fassade erhalten bleibt, doch gleichzeitig mit autoritären Mitteln sowie durch „Brot und Spiele“ die Bürgerinnen und Bürger davon abgehalten werden sollen, über die eigenen Angelegenheiten sachkundig zu entscheiden.
Zum Weiterlesen
Yves Müller und Dominik Rigoll, Rechtsextremismus als Gegenstand der Zeitgeschichte, in: Zeitgeschichte-online, Oktober 2019.
Niklas Krawinkel, „Opfer und Überlebende sind keine Statisten“. Das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt/M. thematisiert die Perspektive von Betroffenen rassistischer Gewalt , in: Zeitgeschichte-online, Februar 2019.
Charlotte Wittenius, BİZİM BERLİN 89/90 im Märkischen Museum in Berlin. Mauerfall und Wiedervereinigung aus deutsch-türkischer Sicht, in: Zeitgeschichte-online, September 2018.
Konrad Jarausch, Der Trump-Schock. Vier Wochen nach der Inauguration Donald Trumps - eine Bilanz , in: Zeitgeschichte-online, Februar 2017.
Bernd Greiner und Michael Wildt, Die ersten 100 Tage. Autokratische Machtsicherung im Vergleich, in: Zeitgeschichte-online, Juli 2017.
Maria Alexopoulou, Blinde Flecken innerhalb der zeithistorischen Forschung in Deutschland. Eine Antwort auf Martin Sabrows Kommentar „Höcke und Wir“, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2017.
Martin Sabrow, Höcke und wir, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2017.
Annette Schuhmann und Christoph Plath (Hg.), Europa an der Grenze. Zeithistorische Anmerkungen zur „Flüchtlingskrise“, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2017.
Timothy Snyder, Americans are not wiser than the Europeans. 20 lessons from the 20th century, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2017.
René Schlott, The Day after in Washington. Eine Woche Konferenz- und Archivreise in den USA, in: Zeitgeschichte-online, November 2016.
Ariane Leendertz, US-Außenminister John Kerry und der Krieg. Essay über biographische Kontinuität und amerikanische Politik. Teil I: John Kerry und der 22. April 1971, in: Zeitgeschichte-online, Mai 2016.
Sandra Vacca und David Christopher Stoop, „Bin ich Deutsch genug?“. Die Ausstellung „Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland“ im Deutschen Historischen Museum, in: Zeitgeschichte-online, April 2016.
Sarah Czerney, Migration als Normalzustand. Eine Ausstellung im Dresdner Hygiene-Museum erzählt Geschichten von Einwanderer/innen und stellt Fragen zum Zusammenleben in Deutschland, in: Zeitgeschichte-online, Juli 2014.
Bettina Greiner und Anne Kwaschik, „Einer muss es tun“ - Zur Effizienz der Folter in „Zero Dark Thirty“. (USA 2013) Regie: Kathryn Bigelow, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2013.
Konrad Jarausch, Auftakt für ein besseres Amerika? Gedanken zu Obamas Wahlsieg, in: Zeitgeschichte-online, November 2012.
Christoph Classen, Frost-Nixon, in: Zeitgeschichte-online, März 2009.