von Aleida Assmann

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15. Februar 2021

Zur Bonn-Nostalgie Westdeutschlands gehörte die Anhänglichkeit an das Provisorium der Nachkriegszeit, verbunden mit der Absage an staatliche Symbole und internationale politische Verantwortung. Nach dem Umzug nach Berlin kam die Prussifizierung der deutschen Nation. Sie fand ihr Sinnbild in der Rekonstruktion des Schlosses in der Hauptstadt. Von 2013 bis 2020 konnten sich die Berliner allmählich auf die neue Kulisse einstellen. Zuvor, von 2006-2008 konnte man sich vom Palast der Republik verabschieden. Der Abbau dauerte fast drei Jahre, weil das Gebäude aufgrund seiner hohen Asbestbelastung nicht einfach weggesprengt werden konnte. Mit dem Palast der Republik verschwand mit der DDR Geschichte auch der historische Ort, an dem 17 Jahre zuvor die deutsche Einheit beschlossen wurde. 

In den ‘Sechzehn Grundsätzen des Städtebaus’ der neugegründeten DDR von 1950[1] gab der 6. Grundsatz Auskunft über die Umwandlung des Stadtkerns in eine politische Bühne: „Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmarschplätze und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt."[2] Dieser Grundsatz veranlasste Walter Ulbricht zum Abriss des Berliner Schlosses im Jahre 1950, um ihn durch den Palast der Republik zu ersetzen: „Das Zentrum unserer Hauptstadt, der Lustgarten und das Gebiet der jetzigen Schlossruine, müssen zu dem großen Demonstrationsplatz werden, auf dem der Kampfwille und Aufbauwille unseres Volkes Ausdruck finden.“ Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte immer noch oder schon wieder der Kampfwille des Volkes demonstriert werden. 60 Jahre später folgte auf das Ping der jungen DDR das Pong der wiedervereinigten Berliner Republik mit der Entscheidung für die Rekonstruktion der Winterresidenz der Hohenzollern. Das riesige Schloss ist inzwischen in die Silhouette der Stadt in der Mitte Berlins zurückgekehrt. Da es in Deutschland keinen Kaiser mehr gibt, ist noch nicht ganz klar, wofür der neue Bau dienen wird.

Die Frage nach dem Nutzungskonzept hat sich inzwischen auf die Frage nach der Bespielung des ‚Humboldt Forums‘ verschoben, eine Seite des Schlosses, die als moderner Neubau gestaltet ist. Während der Name des weltreisenden Forschers Alexander von Humboldt zunächst eine globalgeschichtliche Perspektive eröffnete, die die Weltoffenheit der Stadt Berlin bestätigen sollte, steht der Name ‚Humboldt-Forum‘ inzwischen für eine kolonialgeschichtliche Perspektive, die Deutschland unter Erinnerungsdruck setzt und mit einem bislang noch kaum diskutierten Erbe in Beziehung bringt. Denn die Zeit von 1871 bis 1918, als Berlin Hauptstadt und das Hohenzollernschloss kaiserliche Residenz war, war auch die Zeit der imperialen Expansion, in der Deutschland versuchte, mit anderen europäischen Nationen als Kolonialmacht gleichzuziehen.

In dieser Zeit florierte nicht nur die Wirtschaft mit einem Turbo-Kapitalismus, den man heute noch an den stattlichen Häuserzeilen der ‚Gründerzeit‘ nachvollziehen kann. Es florierte die Wissenschaft, zu deren Fächerkanon damals auch die Rassenkunde gehörte. Für diese neue Disziplin des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die es heute nicht mehr gibt, sammelte man damals endlos Schädel, so wie man heute Datensätze sammelt. Man glaubte, einen Schädel neben den anderen legen zu müssen, um wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse über die Genetik zu gewinnen. Deshalb gibt es heute in den ethnologischen Sammlungen unter den Kunstgegenständen nicht nur sehr viel Raubgut mit offenen Fragen nach der Herkunft von Exponaten, sondern auch die Notwendigkeit, die menschlichen Überreste in einer würdigen Weise an die Menschen in den Herkunftsländern zurückzugeben.

Die koloniale Expansion, die von Europa ausging, ist ein negatives Erbe, das viele Nationen in Europa teilen. Der Rassismus, der sie stützte, ist die Schattenseite der europäischen Aufklärung und bis heute ein blinder Fleck im europäischen Selbstverständnis geblieben. Der Menschheitsbegriff der Aufklärung ist das stolze Erbe, das in die Grundlagen der westlichen Demokratien eingegangen ist: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ lautet der Artikel 1 der Menschenrechte. Dieser Menschheitsbegriff ist bis heute unvollständig geblieben, weil er die dunkelhäutige Bevölkerung nicht de jure aber de facto weiterhin ausschließt und die Leidensgeschichte ihrer Begegnung mit den Europäer:innen nicht anerkennt. Diese kolonialen Ausbeutungs- und Gewaltgeschichte ist mit einer historischen Schuld beladen. Diese Geschichte hatten die Deutschen fast ganz vergessen, doch mit der Einrichtung des Humboldt-Forums fiel sie ihnen plötzlich auf die Füße.

Die unterschiedliche Bedeutung der Geschichte des Schlosses und des Humboldt-Forums kann man sehr gut mit Prousts Begrifflichkeit einer vom Willen gesteuerten (‚mémoire volontaire‘) und einer unwillkürlichen Erinnerung (‚mémoire involontaire‘) beschreiben. Mitten im Prozess der architektonischen Rekonstruktion und Zurückholung eines Gebäudes, das der Stadt imperialen preußischen Glanz verleihen soll, ist unversehens ein Ort entstanden, der die lange verdrängte und verneinte Kolonialgeschichte in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit rückt. In diesem Bau stoßen die Konturen eines freiwilligen und eines unfreiwilligen kulturellen Erbes aufeinander. Ohne dass irgendjemand das so geplant hätte, gibt es jetzt plötzlich in Berlin eine Bühne und einen konkreten Rahmen, in dem dieses verleugnete europäische Erbe in seiner deutschen Variante zum Gegenstand historischer Aufklärung und gesellschaftlicher Diskussion wird. Inzwischen kreuzt sich die Kolonialgeschichte mit der gegenwärtigen Migrationsgeschichte. Einige der afrikanischen Migrant:innen rufen uns inzwischen zu: ‚Wir sind hier, weil Ihr Europäer zuvor bei uns wart!‘ In dieser Kreuzung liegt aber auch eine Chance. Sie könnte darin bestehen, die gegensätzlichen Perspektiven von ehemaligen Kolonisator:innen und Kolonisierten zusammenzuführen und als eine Beziehungsgeschichte anzunehmen und weiterzuentwickeln.  

 


[1] Werner Durth, Jörn Düwel, Niels Gutschow): Architektur und Städtebau der DDR. Berlin: Jovis Verlag 2007. 136-162.

[2] Durth et al., Architektur, 2007, S. 173.