von Christian Mentel

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29. Juni 2021

Seit anderthalb Jahrzehnten floriert in Deutschland die Behördenforschung. Auf der Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen wurden insbesondere von Ministerien und nachgeordneten Behörden eine längst nicht mehr zu überblickende Zahl an Forschungsprojekten finanziert. Dabei standen zumeist das Handeln der Behörden im Nationalsozialismus und ihr Umgang mit seinen Nachwirkungen im Zentrum.

Die Behördenforschung ist gekennzeichnet durch mehrfache Überlagerungen verschiedener Rollen und Interessen. Auf der einen Seite stehen die Behörden selbst, die zugleich Forschungsgegenstand, Geld- und Quellengeber sind, nach positiver Außendarstellung streben und in aller Regel bestimmen, wer die Fördermittel erhält. Auf der anderen Seite finden sich die stets an neuen Projekten interessierten Forscher*innen, die in quasi offizieller Position sowohl mit ihrem Untersuchungsgegenstand unweigerlich verbundene Akteur*innen als auch außenstehende Wissenschaftler*innen sind, zwischen Nähe und Distanz zu den Behörden changieren und ihre Agenden mit jeweils teils stark divergierenden fachlichen, politischen und öffentlich-medialen Erwartungen konfrontiert sehen.

Diese komplexe Konstellation ist keineswegs auf die zeithistorische Behördenforschung beschränkt. Wenn auch weniger ausgeprägt und nicht unbedingt in dieser Dichte, sind die sich hieraus ergebenden Problemlagen sehr wohl auch in anderen Disziplinen und Wissenschaftssegmenten erkennbar – in erster Linie dort, wo Forschungsaufträge mit großer gesellschaftlicher Relevanz und entsprechender öffentlicher Wahrnehmung vergeben werden und die zugleich den Geldgeber selbst berühren. Dass die im Rahmen der Behördenforschung tätigen Historiker*innen sich des schwierigen Terrains bewusst sind, ist ähnlich umfänglich dokumentiert wie die Beispiele dafür, dass sie den damit verbundenen Herausforderungen nicht immer in hinreichendem Maße gerecht werden. Zu diesem Befund gelangte ich vor Jahren in dem Kommentar „Über die Notwendigkeit der Selbstreflexion“ sowie zuletzt in dem Beitrag „Der kritische Blick auf sich selbst“ – und verband ihn mit dem Plädoyer, für zukünftige Projekte und Studien die entsprechenden Schlüsse zu ziehen.[1]

Die vorliegende Intervention, die als paraphrasierendes Postscriptum beider Texte verstanden werden kann, weist denselben Fluchtpunkt auf. Anhand dreier Themenkomplexe mache ich im Folgenden Vorschläge, wie man die Praxis der Behördenforschung verbessern könnte. Der erste dieser Komplexe betrifft die Forschungsorganisation, der zweite rückt den Forschungsprozess in den Fokus, der dritte schließlich zielt auf die Forschungspräsentation. Ganz bewusst führe ich hier ausschließlich Handlungsoptionen an, die nicht von Behörden, Dritten oder übergreifenden Strukturveränderungen abhängig sind, sondern allein bei den an einem bestimmten Projekt beteiligten Historiker*innen liegen.

 

1. Rollen, Handlungsräume und Erwartungshaltungen benennen

In der Behördenforschung sind Einzelprojekte die Ausnahme. Das Gros der Forschungsarbeiten wird in gebündelter Form durchgeführt; mehrere Wissenschaftler*innen bearbeiten entweder arbeitsteilig ein gemeinsames Projekt oder verfolgen separate, gleichwohl aufeinander abgestimmte Teilprojekte. Konzipiert und organisatorisch zusammengehalten werden diese Projekte zumeist von mehreren Projektleiter*innen oder Kommissionsmitgliedern, nicht selten sekundiert von einem Beiratsgremium. Diese Art der Verbundforschung wirft unweigerlich wissenschaftsethische Fragen auf, darunter: Welche Funktionen und Verantwortlichkeiten sind den Beteiligten jeweils zugeordnet? Wie unabhängig von übergeordneten Projektvorgaben können die Forscher*innen agieren? Welcher Art sind die wechselseitigen Erwartungen beispielsweise in Hinblick auf öffentliche Auftritte?

Antworten auf Fragen wie diese lassen sich weder in den standardisierten Arbeits- und Werkverträgen der Mitarbeiter*innen finden, noch helfen hier Konventionen und Verhaltensmaßregeln des wissenschaftlichen Betriebs sonderlich weiter. Angesichts dieser Lücke plädiere ich für projektspezifische Übereinkünfte, mit denen diese ebenso wichtigen wie potenziell konfliktträchtigen Fragen möglichst konkret bereits vor Forschungsbeginn geklärt werden sollten. Es wären also die jeweiligen Rollen, Handlungsräume und Erwartungshaltungen zu benennen. Wobei die Determinanten der Forschungspraxis, der Projektsteuerung und damit das Verhältnis der Projektbeteiligten zueinander näher bestimmt würden.

Im Idealfall ginge aus einer solchen Vereinbarung – zumindest in Grundzügen – das hervor, was bislang weitestgehend unausgesprochen und schriftlich unfixiert bleibt. Etwa, wer in welchem Maße wie zum Forschungsunterfangen beiträgt und wie sich dies schließlich in der Ausweisung von Autor*innen niederschlägt, welche Eingriffsmöglichkeiten die Projektleiter*innen oder Dritte hinsichtlich der Bearbeitung eines Teilprojekts, der Verschränkung dieser Projekte miteinander beziehungsweise der Abgrenzung voneinander sowie der Qualitätssicherung besitzen oder welche Bedeutung forschungsbegleitenden (fach)öffentlichen Auftritten und Nebenpublikationen zuzumessen sind.

 

2. Selbstreflexion als integralen Teil des Forschungsprozesses begreifen

Die Öffentlichkeitsarbeit der Behörden zu den von ihnen finanzierten und sie selbst betreffenden Forschungsprojekten macht die Forscher*innen unmittelbar oder mittelbar zum Gegenstand eines politisch-medialen Vorgangs; sie werden zu einem Teil des Behördenhandelns, das sie untersuchen und historisieren sollen. Damit wird nicht nur das Verhältnis relevant, das die Forscher*innen zu ihrem Untersuchungsgegenstand Behörde pflegen, sondern auch sie selbst rücken als Akteur*innen in einem umfassenderen Sinn in den Fokus: Wie wirken die auf behördlicher Seite und in der Öffentlichkeit bestehenden Erwartungshaltungen auf die Forscher*innen und ihre Arbeiten ein? In welche Forschungs- und Abhängigkeitsstrukturen sind sie selbst eingebunden? Welche Art und welches Maß an Nähe und Distanz zu den Behörden suchen und bewahren sich die Forschenden?

Das ungeschriebene Gesetz, als Autor*in eines wissenschaftlichen Textes möglichst unsichtbar zu bleiben, scheint mir ein wesentlicher Grund dafür zu sein, dass Antworten auf derlei Fragen nur äußerst selten gegeben werden. Dementgegen lautet mein Plädoyer, dass Forscher*innen sich, die Forschungsbedingungen und weitere wesentliche Umstände ihrer Arbeit in systematischer Weise reflektieren sollten. Eine solche Selbstverortung und Reflexion der Einflüsse auf das eigene Tun und die eigene Perspektive wäre als integraler Teil der Projektkonzeption, des Forschungs- und Schreibprozesses zu begreifen und entsprechend sichtbar in die Publikationen zu integrieren.

Erkundungen und Selbsthinterfragungen wie diese würden letztlich dazu führen, dass Historiker*innen klarer Position zum Forschungsgegenstand bezögen. Äußere Bedingungs- und Einflussfaktoren zu benennen hieße auch, Rechenschaft darüber abzulegen, ob der eigene Umgang mit diesen Einflüssen angemessen und wirkungsvoll war. Damit würde zudem Licht auf das Selbstverständnis, die Arbeitsweise und Motivation der Forschenden fallen. Doch selbst wenn lediglich dokumentiert würde, dass und inwiefern die Forscher*innen sich ihrer selbst als dem Dreh- und Angelpunkt ihrer Forschungen, des eigenen Hineinragens in ihre Arbeiten bewusst sind, wäre schon einiges erreicht.

 

3. Rahmenbedingungen des Forschungsprozesses offenlegen

Der entscheidende Motor für die noch anhaltende Konjunktur der Behördenforschung waren nicht Wissenschaftler*innen, sondern Behörden. Dahinter stand insbesondere öffentlicher Druck und das Interesse, die Tatsache der Forschungsförderung in eigener Sache imagefördernd nach außen zu tragen. Unmittelbar tun sich Fragen nach formellen oder informellen Absprachen, Zusicherungen und Verpflichtungen auf. Wie gestaltete sich die organisatorische und konzeptionelle Genese der Forschungsprojekte? Welche rahmensetzenden Übereinkünfte bestehen zwischen den Behörden, den Instituten und Lehrstühlen sowie den Forschenden? Wie sind die Arbeitsbedingungen etwa in Hinsicht auf den Quellenzugang oder die finanzielle Ausstattung der Projekte beschaffen?

Nur selten wird von Forscher*innen hierüber in einem Umfang Auskunft gegeben, der wenige Absätze in einer Vorbemerkung, einem Nachwort oder vereinzelte Fußnoten übersteigt. Entsprechend plädiere ich dafür, offensiv Transparenz in Hinblick auf all jene Aspekte herzustellen, die aus Rezipient*innensicht die Validität einer Forschungsarbeit tangieren. Damit würden also sämtliche Absprachen zwischen Forschenden und Behörden erfasst, aber auch forschungspraktische und organisatorische Gesichtspunkte wären darzulegen und insbesondere dürfte nicht ausgespart werden, wenn es bedeutende Konflikte gab und wie mit diesen umgegangen wurde.

Würde offengelegt, was die Rahmen- und Arbeitsbedingungen eines Projektes waren und wie diese in Abstimmung mit der jeweiligen Behörde zustande kamen, wäre damit eine neue Qualität historiografischer Souveränität erreicht. Rezipient*innen würden in die Lage versetzt, die vorgelegten Arbeiten sowohl umfassender als auch genauer einzuordnen und zu bewerten. Vorbehalten hinsichtlich der wissenschaftlichen Unabhängigkeit, die durch Intransparenz regelmäßig Nahrung erhalten, wäre der argumentative Boden entzogen. Da zudem Versäumnisse und Fehler klarer hervorträten und nicht im Diffusen belassen werden könnten, entstünde der nötige Druck, selbstbewusst Verantwortung zu übernehmen.

 

Historiker*innen in der Pflicht

So banal die vorstehenden Vorschläge sind, so sehr verfügen sie über das Potenzial, die Praxis nicht nur der Behördenforschung in wesentlichen Aspekten zu verbessern, insoweit Zuständigkeiten innerhalb von Projektteams detailliert, wissenschaftliche Imperative konsequenter befolgt sowie entscheidende Forschungsbedingungen transparent gemacht würden. Setzten Forschende dies in nennenswertem Umfang um, würden Allgemeinplätze konkretisiert und damit größere Verbindlichkeit hergestellt. Neben dem sicherlich konsensualen Appell, dass Historiker*innen ihr kritisches Bewusstsein nicht nur auf ihre Forschungsgegenstände, sondern angesichts der eigenen Prägungen, Abhängigkeiten und Begrenzungen auch auf sich selbst richten und dies in Beziehung zu ihrem professionellen Tun setzen sollten, stünde dann die wohl weit weniger geteilte Forderung, dass dies nicht nur abstrakt und implizit erfolgen, sondern auch für Außenstehende nachvollziehbar sein sollte.

Es wäre ein großer Fortschritt, wenn Historiker*innen das Schweigen überwänden, das sie im Allgemeinen über den entscheidenden Faktor im Forschungsprozess ausbreiten: nämlich über sich selbst und damit auch über das Verhältnis, in dem sie zu ihrer Arbeit stehen. Es wäre also zu wünschen, dass die Forschenden es als ihre Bringschuld begriffen, ihre Involvierung mit dem Forschungsgegenstand, die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit und ihre eigene Verantwortung hierfür konkret zu benennen. Doch: die Wirkung von Reflexions- und Berichtskapiteln bleibt begrenzt, wenn sie lediglich nachträglich hinzugefügt würden, ohne dass der Forschungsprozess davon substanziell profitiert hätte. Es wäre also essenziell, dass bereits in der Projektentwicklungsphase nicht nur auf sogenannte „harte“ inhaltsbezogene Fragen Gewicht gelegt, sondern vermeintlich „weichen“ wissenschaftsethischen und organisatorischen Aspekten ähnlich großer Raum zugestanden würde.

Setzte man dies um, bedeuteten die genannten Vorschläge die Preisgabe von Macht, zumindest ein Stück weit. Nicht nur nähmen Historiker*innen sich damit selbst in die Pflicht, sondern erleichterten es auch anderen, sie ihrerseits in die Pflicht zu nehmen. Bequem ist dies nicht. Aber notwendig.

 

Anmerkung der Redaktion:

Mehr zur Behördenforschung findet sich im Dossier Auftragsforschung und NS-Aufarbeitung, in das auch das Dossier Zeithistorische Konjunkturen integriert ist, beide herausgegeben von Christian Mentel.

Auch Annette Weinke hat in „Alles noch schlimmer als ohnehin gedacht“?. Neue Wege für die Behördenforschung über den Themenkomplex geschrieben.

 

 


[1] Christian Mentel, Über die Notwendigkeit der Selbstreflexion. Eine Anmerkung zum Stand der Behördenforschung, in: Zeitgeschichte-online, 30. Januar 2017; ders., Der kritische Blick auf sich selbst. Zur Verantwortung der historiografischen Zunft in der Behördenforschung, in: Marcus Böick/Marcel Schmeer (Hg.), Im Kreuzfeuer der Kritik. Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2020, S. 139-161.