Zwei Männer sitzen beim Frühstück. Einer trägt Hausjacke mit Monogramm, der andere einen dunklen Zweireiher. Man diskutiert Weltpolitik und wird sich nicht einig: Gustav Stresemann (Werner Wölbern) und Regierungsrat Wendt (Benno Fürmann). Am Ende der Szene liegt Stresemann am Boden und Wendt schaut tatenlos zu, wie dessen Atem endgültig aussetzt. Während die historische Person Gustav Stresemann zu den wichtigsten deutschen Politiker*innen des 20. Jahrhunderts gehört, ist Regierungsrat Wendt eine fiktive Figur, die die Filmemacher Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten als Antagonisten ihrer Serie Babylon Berlin erschaffen haben. Wahrheit und Fiktion gehen in der Serie Hand in Hand. Während die Ausstattung bis ins kleinste Detail stimmt, werden historische Ereignisse an dramaturgische Anforderungen angepasst, um ins Geschichtsbild einer sterbenden Demokratie zu passen.
Der vorliegende Beitrag untersucht das Spannungsverhältnis zwischen dem historischen Abbild im engeren und dem Geschichtsbild im weiteren Sinne. Hierfür untersuchen wir erstens die „Oberflächengenauigkeit“[1] (Friedrich Knilli) auf der Abbildungsebene, bei der der Schauwert der historischen Inszenierung der historischen Authentisierung der Serie dient und die Authentizitätserwartung des Publikums befriedigt. Zweitens diskutieren wir, wie beim Geschichtsbild von Babylon Berlin Abstriche von der historischen Genauigkeit gemacht werden und wie hierbei Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit aufeinandertreffen. Drittens untersuchen wir die Produktion von Geschichtsbildern im innerdiegetischen Bildgebrauch der Serie, in der die Produktion von Bildern ständig thematisiert wird. Uns geht es also um Bilder als Teil der Filmhandlung und somit um das Bild im Bild einer Serie, die unser Geschichtsbild von der Weimarer Republik nachhaltig prägt.
1. Abbildungsebene
In der dritten Folge der dritten Staffel der Serie besucht der Journalist Katelbach (Karl Markovics) das Romanische Café. Es gibt Kaffee, filterlose Zigaretten und die Folha de Sao Paulo inklusive geheimer Unterlagen (der Schriftzug „Geheim!“ wird dabei wenig subtil direkt in die Kamera gehalten). Später werden sich der Hauptprotagonist Gereon Rath und Katelbach ebenso im Romanischen treffen wie Malu Seegers und Regierungsrat Wendt. Das Romanische Café der 1920er Jahre war ein populärer Treffpunkt des intellektuellen Berlins, ein Künstlerlokal an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Herzen Charlottenburgs. Stammgäste wie Else Lasker-Schüler und Otto Dix ebenso wie Bertolt Brecht und Mascha Kaléko tummelten sich im „Schwimmer-Becken“, dem exklusiven Bereich des Romanischen Cafés. Wer nicht mit einem bekannten Namen oder dem entsprechenden Renommee aufwarten konnte, musste mit dem „Nichtschwimmer-Becken“ vorliebnehmen. Erich Kästner spottete 1928, das Romanische Café sei der Wartesaal der Talente. Es gebe Leute, die hier seit zwanzig Jahren, Tag für Tag, aufs Talent warten. Heute steht an derselben Adresse das Europacenter und vom einstigen Glanz ist nichts geblieben. Als Drehort fungierte daher das ehemalige Café Grosz am Kurfürstendamm. Vergleicht man jedoch die hohen Marmorbögen mit Aufnahmen aus dem historischen Café, ist die Ähnlichkeit verblüffend.
Gleichzeitig verlassen sich die Filmemacher nicht auf die rein optische Wiedererkennung. Vielmehr wird die etablierende Totale – ein eindrucksvoller Raum, Kellner in weißen Jacken und Schürzen, dunkles Holz und Blattgold – mit der folgenden Einblendung versehen: „Romanisches Café; Berlin-Charlottenburg“. Aber warum blendet die Serie, die sonst durchaus sparsam mit solch konkreten Details ist, jene Ortsangabe ein, die letztlich wenig mit der Handlung zu tun hat? Das Café könnte jeden Namen tragen. Das vielbesuchte Aschinger und das Josty in der ersten Staffel werden viel beiläufiger inszeniert. Doch wer kennt sich gut genug aus im Berlin der 1920er Jahre, um zu wissen, dass es sich beim Romanischen Café der Serie um eine so detaillierte Nachbildung handelt? Wenn der Wiedererkennungseffekt aufgrund fehlender historischer Kenntnisse oder Erinnerungen nicht überzeugen kann, muss sich ein Zwischentitel ins Filmbild einschreiben. Es scheint fast wie eine schriftliche Anweisung an die Zuschauer*innen: Recherchiere, schlage nach, und sei dann beeindruckt von den Details und Kleinigkeiten, die es in dieser Filmwelt – und damit in der Geschichte – zu entdecken gibt. Hunderte Cafés hat es gegeben im Berlin jener Tage, aber die wenigsten haben einen eigenen Wikipedia-Artikel.
Jede Zeitung, die der weiß gekleidete Zeitungskellner in der Szene verteilt, und jede Zeitung, die im Hintergrund am Haken an der Wand hängt, ist die historische Ausgabe jenes Datums, an dem die entsprechende Szene spielt. Es sind Zeitungen ohne unmittelbare dramaturgische Funktion, Zeitungen, die niemals in Großaufnahme ins Bild kommen. In den Streichholzschachteln mit dem Logo des Romanischen Cafés sind Streichhölzer, auch wenn damit nie eine Zigarette angezündet wird. In den Karteikarten-Schränken der Mordkommission sind, nun ja, Karteikarten, auch wenn die Schubladen nie aufgehen. Die Zuckerwürfel im Moka Efti in rotem, gelbem, blauem Papier sind tatsächlich essbar. Die Komparsinnen tragen historische Unterkleider, ohne dass diese jemals zu sehen sind, und Ohrringe, die, unter Bubikopf und tief ins Gesicht gezogenem Hut, vollkommen verborgen bleiben.
Man mag diese Details als Pedanterie oder Obsession abtun, aber letztlich sind sie eine Frage des Anspruchs und der Möglichkeiten, mit dem die Filmschaffenden hinter der Kamera an das Projekt herangehen. Ein Set, bei dem 360 Grad von der Ausstattung eingerichtet sind, bei dem jede*r Kompars*in einer Großaufnahme standhält, ist ein Luxus, den sich die wenigsten Produktionen leisten können und welcher auch Babylon Berlin regelmäßig an die Grenzen des Machbaren bringt. Babylon Berlin ist ein Mammutprojekt und gilt aus gutem Grund als teuerste deutsche Fernsehproduktion aller Zeiten. Das Produktionsbudget allein der ersten beiden Staffeln (2017) lag bei etwa 40 Millionen Euro. Die Hälfte davon wurde über Auslandsverkäufe und Filmförderungen finanziert, der Rest durch eine unkonventionelle, wenn auch nicht unumstrittene Kooperation von ARD und dem privaten Pay-TV-Sender Sky.[2] Letztlich erlaubt dieses Budget der Regie und vor allem der Kamera die größtmögliche Freiheit. Eine Freiheit, die man sieht und spürt. Es ist alles da, es kann alles gezeigt werden, und um die Ecke, hinter der nächsten Tür, geht die Geschichte weiter. In dieser Detailverliebtheit auf der Abbildungsebene kommt die Serie Volker Kutschers Romanvorlagen, mit denen sie ansonsten recht frei umgeht, vielleicht am nächsten.
Am Beispiel der Sequenzen im Romanischen Café lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen Authentizität und Fiktion ausloten, mit dem Babylon Berlin in beinahe jeder Szene operiert. Die Serie gewinnt einen Großteil ihrer optischen Schauwerte aus der historischen Re-Inszenierung der 1920er Jahre: die Kostüme, die Ausstattung, die Bildsprache. Diese Details sind dabei jedoch keineswegs rein illustrativ. Vielmehr ist es auch ein Spiel mit den Authentizitätserwartungen der Zuschauer*innen, deren historische Kompetenz vorausgesetzt wird. Die Serie schöpft ihr visuelles Geschichtsbild aus Wiedererkennung und Detailversessenheit. Gleichzeitig stehen diese Oberflächengenauigkeiten auf der Abbildungsebene in permanentem Kontrast zur Handlungsebene der Serie.
2. Geschichtsbild
Bei aller Detailversessenheit macht Babylon Berlin durchaus Abstriche von der historischen Genauigkeit. So starb Gustav Stresemann nicht urplötzlich beim Frühstück am Morgen des 3. Oktober 1929 (auch jenes Datum findet sich als Einblendung in der Szene), sondern fiel bereits am Abend zuvor ins Koma, aus dem er nicht mehr erwachte. Die Schwarze Reichswehr, die in der ersten und zweiten Staffel von Babylon Berlin im Jahr 1929 den Staatsstreich gegen die ihr verhasste Demokratie plant, war eher ein Phänomen der frühen Weimarer Republik. Und auch der expressionistische Film, der am Anfang der dritten Staffel aufwendig produziert wird, war im Jahre 1929 eigentlich schon längst aus der Mode. So tritt die Fiktion an die Seite der historischen Fakten.
Das gilt auch für die Protagonist*innen der Serie. Es gibt drei Umgangsweisen mit historischen Personen in Babylon Berlin: Die meisten Hauptfiguren wie Gereon Rath, Charlotte Ritter oder Regierungsrat Wendt sind rein fiktiv und ohne historische Vorbilder. Hinzu kommen zweitens eine Reihe historischer Persönlichkeiten, die mit leicht verfremdeten Namen in der Serie auftauchen. So heißt der Großindustrielle Thyssen in der Serie Alfred Nyssen, aus dem Chef der Reichswehr Hans von Seeckt wird Generalmajor Seegers und der SA-Mann Horst Wessel heißt in der Serie Horst Kessler. Und drittens treten in Babylon Berlin schließlich einige historische Persönlichkeiten unter ihrem richtigen Namen auf. Hierzu gehören in den ersten beiden Staffeln neben Gustav Stresemann etwa der Reichspräsident Paul von Hindenburg, der Polizeipräsident Karl Zörgiebel, und der legendäre Chefermittler der Berliner Mordinspektion, Ernst Gennat.
Bemerkenswert ist, dass in der dritten Staffel von Babylon Berlin deutlich mehr historische Persönlichkeiten auftreten als zuvor. Wir begegnen den späteren Reichskanzlern Brüning, von Papen und von Schleicher ebenso wie dem Berliner SA-Führer Walther Stennes. Auf der Seite der Republik spielen der „Arbeiter-Anwalt“ Hans Litten und – als einzige historische Frauenfigur – die Gefängnisdirektorin Rosa Helfers wichtige Rollen. Dass die Zahl der historischen Persönlichkeiten in der Serie zunimmt, ist kein Zufall, denn in der dritten Staffel greifen die Protagonist*innen immer stärker in das Rad der Geschichte ein. Während die Geschichte der Weimarer Republik in den ersten beiden Staffeln eher eine historische Hintergrundfolie für die Krimihandlung bildete, hat sich das Verhältnis in der dritten Staffel umgekehrt. Immer öfter führen die Figuren nun selbst bekannte historische Ereignisse herbei, während der eigentliche Kriminalfall in den Hintergrund tritt.
Damit unterscheidet sich Babylon Berlin zunehmend von der Romanvorlage Volker Kutschers, der seine Figuren nicht in die große Geschichte „eingreifen“ lässt. Anders als in der literarischen Vorlage werden in der Serie wichtige historische Ereignisse dezidiert angesprochen und aufwendig inszeniert. Hierzu gehören sowohl der „Blutmai“ als auch der Börsencrash von 1929. Noch wichtiger ist jedoch, dass Babylon Berlin einige wichtige Prozesse und historische Zusammenhänge der Weimarer Republik thematisiert. So wird anhand der weiblichen Hauptfigur Charlotte Ritter die Emanzipation der Frauen und der Aufbruch in die Moderne dargestellt. Außerdem beschreibt die Serie, wie die „Konservative Revolution“ gemeinsam mit der deutschen Schwerindustrie und der NSDAP eine Allianz gegen Weimar bildet. Diese Verschwörung von rechts ist das zentrale Thema der dritten Staffel, die sie so aktuell macht.
Bei Babylon Berlin stimmen also die kleinen Details und die großen Linien. Dazwischen gibt es durchaus historische Unschärfen, die hauptsächlich dramaturgischen Notwendigkeiten folgen. Stresemann stirbt zwar nicht wie ‚in Wirklichkeit‘, aber sein dramatischer Tod vor den Augen des rechtskonservativen Verschwörers Wendt steht symbolhaft für das Sterben der Republik. Babylon Berlin erzählt somit eine ‚wahre‘ Geschichte, deren Grundaussage zutrifft. Olaf Guercke hat hierfür den Begriff der „historischen Triftigkeit“ vorgeschlagen: „Triftigkeit ist hierbei nicht mit einer objektiven Wahrheit gleichzusetzen, sondern mit dem Grad der Vereinbarkeit der Erzählung mit einer bereits vorhandenen plausiblen Rekonstruktion.“[3] Es geht also vor allem um die historische Plausibilität der Handlung vor dem Hintergrund unseres geschichtlichen Vorwissens. Wichtiger als die oft bemühte Detailkritik und der müßige Authentizitätscheck ist, dass die Handlung insgesamt historisch glaubwürdig ist.
Wie jeder Film muss eine historische Serie vor allem dramaturgisch überzeugen. Hierbei helfen die historischen Oberflächengenauigkeiten. Die oben beschriebenen Schauwerte unterstützen die Dramaturgie und plausibilisieren die politische Botschaft von Babylon Berlin. Die erste und zweite Staffel der Serie wurden gewissermaßen von der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit überholt, als sie die Bedrohung der Republik durch die Rechte aufzeigten. Bei der dritten Staffel verhält es sich andersherum. Sie entstand bereits ganz vor dem Hintergrund des erstarkenden Rechtspopulismus in unserer Gegenwart und macht die Zerstörung der Weimarer Republik durch die vereinigte Rechte ganz bewusst zum Thema. Im Jahr 2018 äußerten sich Tykwer, von Borries und Handloegten in einem Interview mit der FAZ: „Wir wollen die Nazis nicht als die anderen zeigen, in unserer Welt werden fast alle in ein paar Jahren dazugehören.“[4] Wie Volker Kutscher geht es den Machern von Babylon Berlin erklärtermaßen darum, gegen die Geschichtsvergessenheit anzukämpfen und für die Bedrohung unserer freiheitlichen Ordnung zu sensibilisieren.[5]
Zugleich ist Babylon Berlin aber auch ein Beispiel für die heutige Geschichtsversessenheit. Das gilt nicht nur für die historische Detailverliebtheit der Filmschaffenden, sondern auch für das große historische Interesse des Publikums, ohne das eine Serie wie Babylon Berlin nicht möglich wäre. Die Serie profitiert von einer boomenden Erinnerungskultur, die gerade die Weimarer Republik wiederentdeckt. Aufgrund der anstehenden Jahrestage und der vermeintlichen Analogien zwischen den „Zwanziger Jahren“ des 20. und des 21. Jahrhunderts erscheint Weimar so aktuell wie nie.[6] Der Erfolg von Babylon Berlin basiert auf dieser geschichtskulturellen Konjunktur – so wie die Serie ihrerseits zur Renaissance der Weimarer Republik beiträgt. Babylon Berlin ist fest verwebt in ein Netz multimedialer Veröffentlichungen: Podcasts, Stadtführungen, Fernsehdokus und Themen-Tische in Buchhandlungen: Das Berlin der 1920er Jahre ist, zumindest in Berlin, allgegenwärtig. Und so liegen in der Buchhandlung des Vertrauens neben Neuauflagen von Kästner und Kaléko inzwischen mindestens drei Titel über das Romanische Café, die in den vergangenen zwei Jahren erschienen sind.
3. Bild im Bild
Doch Babylon Berlin ist nicht einfach nur Teil einer Maschinerie, die auf der visuellen Präsenz der Weimarer Republik basiert. Vielmehr thematisiert die Serie ihr Verhältnis zur eigenen Bildreproduktion auch innerdiegetisch, also innerhalb der Filmhandlung. So ist das „Bilder machen“ omnipräsentes Thema in allen bislang erschienen Staffeln: von der Razzia im Pornostudio, über die Spionagefotos vom Flugzeug aus, bis hin zum Filmdreh in Babelsberg. Die Serie thematisiert permanent die Produktion von Bildern und kommentiert damit nicht nur ihr eigenes Verhältnis zu den historischen Vorlagen, sondern auch ihre Beziehung zu aktuellen Bildtraditionen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die erste Begegnung der beiden Hauptfiguren Gereon Rath und Charlotte Ritter am Paternoster in der ersten Folge der ersten Staffel. Es ist jene scheinbar belanglose Begegnung, aus der sich nicht nur für den weiteren Verlauf der Handlung Schlüsse ziehen lassen, sondern mit der sich Babylon Berlin auch im innerdiegetischen Bildgebrauch als Teil einer Visual History präsentiert.
Es ist Feierabend im Polizeipräsidium. Das Bild ist symmetrisch, man sieht die zwei Kabinen eines Paternosters. Charlotte Ritter kommt links unten ins Bild, Gereon Rath von rechts oben. Sie kommen, im doppelten Wortsinn, aus verschiedenen Welten. Und sie kollidieren. Aber die Szene ist eindeutig: In diesem Moment begegnen sich zwei auf Augenhöhe. Sie stoßen zusammen, die Bilder ihrer Fälle fallen zu Boden. Es mischen sich die beschlagnahmten pornografischen Aufnahmen aus dem Filmstudio mit den Tatortfotografien abgetrennter Gliedmaßen. Man sortiert zurück, die Sprache ist von ausgesuchter Höflichkeit, während gleichzeitig erotische Aufnahmen und Bilder von Axtmorden die Besitzer*in wechseln. Schließlich kommentiert Charlotte: „Ich hoffe, Sie sind von der Sitte“ und Gereon antwortet: „Und ich hoffe, Sie sind von der Mord.“ Und beide gehen ihrer Wege. Die Szene weist beide als Menschen aus, denen einiges zuzutrauen ist und etabliert gleichzeitig eine kollegiale Ebene. Sie kommunizieren über die Fotografien und keiner von beiden zuckt bei deren Anblick mit der Wimper. Einen Teil der Fotografien wird Gereon später beim Apotheker gegen Morphium tauschen und damit die Bilder vom Kommunikationsmedium in harte Währung verwandeln.
Die Szene kommuniziert aber vor allem eine visuelle Seite der 1920er Jahre. Sie zeigt uns Bilder von Berlin als gefährliche und als lasterhafte Stadt. Sie benutzt die Bilder, die immer wieder deutlich in Großaufnahmen zu sehen sind, nicht nur als Kommunikationsträger zwischen den Figuren, sondern auch als Lockmittel an die Zuschauer*innen: Das ist es, worum es geht: Sex and Crime. Darum sind wir hier. Das sind die anderen Schauwerte Babylon Berlins. Und wer dranbleibt, wird mehr sehen als antiquierte Schwarz-Weiß-Bilder. So nimmt der kurze Dialog die Entwicklung der Figuren vorweg. Nur wenig später sehen wir Charlotte im Keller des Moka Efti mit einem Freier und Gereon wird am Ende der ersten Staffel selbst einen Mord begehen. Die Bilder der Vergangenheit werfen einen Blick in die Zukunft der Figuren.
Babylon Berlin arbeitet sich ab an unseren Geschichtsbildern der Weimarer Republik und erschafft diese gleichzeitig neu. Die Serie ist anschlussfähig an aktuelle Bildtraditionen und schließt zugleich historische Bildlücken. Stresemanns Tod beim Frühstück innerhalb der Serie ist vor allem möglich, weil davon keine Bilder existieren. Von Stresemanns Staatsbegräbnis hingegen, das den dramaturgischen Höhepunkt im Finale der dritten Staffel einleitet, existieren Fotografien und Filmaufnahmen, die die Filmschaffenden bis ins Detail reproduzieren. Letztlich kann man diesem Spannungsfeld nur gerecht werden, wenn man auch fiktionale Serien wie Babylon Berlin unter den wissenschaftlichen Maßgaben der Visual History untersucht und die Macht der Bilder analysiert. Denn eins ist sicher: Das Geschichtsbild von der ersten deutschen Demokratie wird in Zukunft stark von Babylon Berlin geprägt sein.
[1] Friedrich Knilli, Siegfried Zielinski (Hrsg.), Holocaust zur Unterhaltung – Anatomie eines internationalen Bestsellers, Berlin 1982, S. 26.
[2] Vgl. Heike Jahberg, Der Gebührenzahler schaut erst mal in die Röhre, in: Der Tagesspiegel, 16.10.2017 (27.9.2021).
[3] Olaf Guercke, Babylon Berlin und der Anfang vom Ende der Weimarer Republik. Wie eine moderne Fernsehserie Geschichte erzählt (=Veröffentlichungen der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung 26), Bonn 2020, S. 62.
[4] Bert Rebhandl, Im Rausch vor dem Untergang, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.09.2018 (24.09.2021).
[5] Volker Kutscher warnt vor Geschichts-Vergessenheit, in: B.Z., 27.12.2020 (24.09.2021).
[6] Vgl. Hanno Hochmuth, Mythos Babylon Berlin. Weimar in der Populärkultur, in: Hanno Hochmuth, Martin Sabrow und Tilmann Siebeneichner (Hg.), Weimars Wirkung. Das Nachleben der ersten deutschen Republik, Göttingen 2020, S. 111-125, hier S. 123f.