Hg. von Andreas Kötzing, Annette Schuhmann

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16. Dezember 2021

Für die Inszenierung und Vermittlung von Geschichte spielen filmische Medien seit langem eine wichtige Rolle. Vom Kino hat sich der Schwerpunkt in den vergangenen Jahren allerdings deutlich hin zu den Angeboten der Streamingdienste verschoben. Insbesondere der Boom des seriellen Erzählens sticht dabei hervor. Gegenwärtig ist Netflix mit ca. 215 Millionen Abonnent*innen weltweit aktueller Marktführer im Streaming-Bereich. Seit Beginn seiner eigenständigen Produktionstätigkeit im Jahr 2012 hat dieser Streamingdienst ca. 300 Serien auf den Markt gebracht. Addiert man dazu die Angebote der konkurrierenden Anbieter sowie die Serien-Produktionen der ‚traditionellen‘ Fernsehsender, stößt man schnell auf eine Serien-Vielfalt, die in ihrer Breite kaum noch zu überschauen ist.

In der Forschung hat serielles Erzählen schon seit geraumer Zeit größere Aufmerksamkeit gefunden, zumal es sich hier keineswegs um ein neues Phänomen handelt, sondern sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.[1] Der Fortsetzungscharakter einer Serie und die damit verbundene Bindung des Publikums an liebgewonnene Figuren beinhaltet einen eigenständigen Unterhaltungswert. Im linearen Fernsehen haben Serienformate schon immer eine besondere Bedeutung gespielt, etwa in Gestalt der Telenovelas, die bereits seit den 1950er Jahren „Straßenfeger“-Qualität hatten. Serien galten aber häufig als trivialere Form der Unterhaltung, vor allem im Vergleich zu vermeintlich anspruchsvolleren Spielfilmen. Dieses Verhältnis hat sich spätestens in den vergangenen 15 bis 20 Jahren deutlich gewandelt – eine Entwicklung, die auch in der medienwissenschaftlichen Forschung entsprechend rezipiert worden ist.[2] Die rasante Etablierung von „Qualitätsserien“ ist eng verknüpft mit innovativen Erzählkonzepten, die u.a. auf einer wesentlich komplexeren Dramaturgie und ambivalenteren Charakteren aufbauen.[3] Zugleich haben die zum Teil enorm hohen Produktionskosten den Unterhaltungswert der Serien maßgeblich gesteigert, etwa durch akribisch genaue Ausstattungsdetails oder generell neue Akzente in der visuellen Gestaltung. Dass sich dabei auch historische Themen als Schwerpunkte etablieren konnten verwundert nicht – im Gegenteil. Die Möglichkeit, historische Zusammenhänge in einer längeren Erzählzeit detaillierter schildern zu können, ermöglicht ein höheres Maß an Komplexität, an dem viele Spielfilme leicht scheitern. Auch andere, dramaturgisch bedingte Gestaltungselemente einer Serie eröffnen neue Möglichkeiten für die Darstellung von geschichtlichen Themen, beispielsweise durch die höhere Anzahl der Charaktere und deren langfristige Entwicklung im Rahmen der Erzählung. Nicht zuletzt ist der hohe Publikumszuspruch ein klares Indiz für die Wirkmächtigkeit der Serien-Formate mit historischen Themen: Von den zehn erfolgreichsten Netflix-Serien der vergangenen Jahre hatte die Hälfte einen geschichtlichen Hintergrund.[4] Das breite öffentliche Interesse an populär aufbereiteten Geschichtsinszenierungen hat durch den Serien-„Hype“ – so scheint es – eine geradezu prädestinierte Plattform gefunden.[5]

Doch was unterscheidet die Geschichtsinszenierungen in Serien von anderen medialen Formen der Geschichtsvermittlung? Welche eigenständigen Darstellungen bedingen das serielle Erzählen? Und inwiefern prägen und beeinflussen Serien und ihre individuelle Rezeption die öffentliche Wahrnehmung von bestimmen historischen Ereignissen oder Epochen? Diese Fragen greift das Dossier „Geschichtsbilder im Serien-Format“ auf, natürlich ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können. Die Fallstudien zu einzelnen Serien werfen eher ein Schlaglicht auf ein komplexes und dynamisches Untersuchungsfeld, das bislang selten systematisch erforscht worden ist. Bestimmte narrative Schwerpunkte der jeweiligen Geschichtsinszenierung werden in den Beiträgen ebenso untersucht, wie deren audiovisuelle Umsetzung. Am Beispiel von Serien, die international auf große Resonanz gestoßen sind, lässt sich die Frage diskutieren, inwiefern gerade der historische Hintergrund der Handlung und die komplexe Form der Unterhaltung zum Erfolg mancher Serien beigetragen hat. Hanno Hochmuth und Bettina Köhler schildern etwa am Beispiel von „Babylon Berlin“ (Sky/ARD, seit 2017) nicht nur die akribisch genau recherchierten historischen Details der Serie, sondern fragen zugleich nach den Auswirkungen auf das Geschichtsbild, das in der Serie vom Leben in Berlin am Ende der Weimarer Republik vermittelt wird. Während sich die populäre Geschichtsinszenierung im Falle von „Babylon Berlin“ – und generell in vielen anderen Geschichtsserien – vor allem aus Krimi- und Thriller-Elementen speist, greifen andere Serien auf dezidiert andere Genres zurück, um historische Themen zu verdichten und dabei das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums zu bedienen. Im Fall der Netflix-Produktion „Ratched“ (seit 2020), die Christina Templin in ihrem Beitrag näher beleuchtet, finden sich zum Beispiel klassische Elemente des Horrorfilms, die benutzt werden, um einen kritischen Blick auf die Geschichte der Psychiatrie und die Behandlung von psychischen Erkrankungen in den USA zu werfen. 

Ein anderer zentraler Aspekt, der im Dossier diskutiert wird, sind die Auswirkungen unterschiedlicher Erinnerungskulturen und deren politische Hintergründe. Die Relevanz und Wahrnehmung einer Serie kann – je nachdem, wo und von wem sie rezipiert wird – recht unterschiedlich sein, wie Daria Gordeeva am Beispiel von „Chernobyl“ (HBO, 2019) herausarbeitet. Während die US-amerikanische Mini-Serie über das Reaktorunglück in vielen westlichen Ländern mit Preisen ausgezeichnet wurde, stieß sie in Russland eher auf Ablehnung, zumindest in den offiziellen Medien, sodass sich anhand des Diskurses über die Serie auch fortwirkende Denkmuster aus der Zeit des Kalten Krieges ablesen lassen. Andere im Dossier näher betrachtete Serien – wie etwa „Überleben unter deutscher Besatzung“ aus Frankreich („Un Village Française“, 2009-2017) oder „Frontkämpfer“ aus Norwegen („Frontkjempere“, 2021) veranschaulichen, dass die jeweiligen Debatten in einem Land unmittelbaren Einfluss auf die Rezeption einer Serie haben können bzw. Serien selbst Anstoß für eine kontroverse Diskussion über die Deutung der Vergangenheit liefern können. Beide Serien behandeln die Frage nach dem Verhältnis von Kollaboration und Widerstand während der Besatzung durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg und damit ein Thema, welches in der jeweiligen nationalen Erinnerungskultur lange Zeit eher verdrängt worden ist.

Das Dossier ist mit den jetzt vorliegenden Beiträgen nicht abgeschlossen. Es soll kontinuierlich erweitert werden. An neuen Untersuchungsgegenständen wird es sicher nicht mangeln, denn ein Ende des Serien-Booms ist im Moment nicht abzusehen.

 

Andreas Kötzing    


 

[1] Vgl. die Beiträge in Frank Keller (Hg.): Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Bielefeld 2012.
[2] Seit 2015 gibt es sogar eine eigene Fachzeitschrift, die sich ausschließlich mit narrativen und ästhetischen Entwicklungen im Kontext von TV-Serien beschäftigt. „Series. An International Journal of TV-Series Narratives“ wird gemeinsam von den medien- und kulturwissenschaftlichen Departements der Universitäten Bologna und Valencia herausgegeben. 
[3] Vgl. Daniela Schlütz: Quality-TV als Unterhaltungsphänomen. Entwicklung, Charakteristika, Nutzung und Rezeption von Fernsehserien wie „The Sopranos“, „The Wire“ oder „Breaking Bad“, Wiesbaden 2016, S. 100-128. Schlütz verweist darauf, dass sich die Entwicklung von qualitativ hochwertigen Serien bis in die 1980er Jahre zurückverfolgen lässt.
[4] Vgl. die statistische Übersicht vom Oktober 2021, die auf den eigenen Angaben von Netflix basiert, allerdings nur eine Momentaufnahme widerspiegelt.
[5] Vgl. hierzu die Beiträge in den von Edgar Lersch und Reinhold Viehoff herausgegebenen Teilbänden „Geschichte als TV-Serie“ I und II der Zeitschrift „Spiel. Neue Folge“, Jg. 2 (2016), Heft 2 und Jg. 3 (2017), Heft 1.

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