von Hanno Hochmuth

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14. Januar 2022

Am 7. Oktober 1984 kam es in West-Berlin zu einer ungewöhnlichen Begegnung. In einem Fernsehstudio des Senders Freies Berlin (SFB) trafen drei Historiker aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Bei den drei Public Historians handelte es sich um einen zentralen Vertreter der Bielefelder Schule, um einen namhaften Berliner Historiker, der kurze Zeit später seinen Ruf verspielen sollte, und um einen jungen Doktoranden, der noch von sich hören machen sollte. Die Rede ist von Jürgen Kocka, Ernst Nolte und Thomas Lindenberger, die in der Fernsehsendung „Geschichte von unten? Alltagsgeschichte – für alle?“ über ihr Geschichtsverständnis und die neue Geschichtsbewegung stritten.

Eine solche direkte Begegnung von Vertretern der historischen Sozialwissenschaft, der klassischen Geschichtsphilosophie und der neuen Alltagsgeschichte war an sich schon aufsehenerregend genug. Dass ein solches Aufeinandertreffen der damals konkurrierenden geschichtswissenschaftlichen Ansätze aber im Fernsehen erfolgte, machte es zu einem besonderen Ereignis. Die überlieferte Diskussionsrunde ist damit eine einzigartige Momentaufnahme, die viel über die Debatten und den Wandel der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1980er Jahren erzählt – Grund genug sie genauer zu betrachten.[1]

Unmittelbar vor der Fernsehdebatte hatte es bereits einen ersten viel beachteten Historikerstreit zur Alltagsgeschichte gegeben. Am letzten Tag des 35. Deutschen Historikertags, der vom 3. bis zum 7. Oktober 1984 an der Freien Universität Berlin stattfand und dezidiert die Debatte um die neue Alltagsgeschichte aufnahm,[2] wurde spontan eine Podiumsdiskussion ins Programm aufgenommen, die große Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie trug den Titel „Geschichte von unten – Geschichte von innen: Kontroversen um Alltagsgeschichte“.[3] Als Vorstandsmitglied des Historikerverbands hatte Jürgen Kocka die Gäste auf dem Podium zusammengetrommelt, zur der neben ihm selbst auch Jochen Martin, David Sabean, Dieter Groh und Wolfgang J. Mommsen gehörten.

Die Antipoden auf dem Podium waren jedoch vor allem der Alltagshistoriker Lutz Niethammer von der Fernuniversität Hagen, der für mehr Erfahrungsgeschichte plädierte, und der Doyen der Bielefelder Schule, Hans-Ulrich Wehler, der dezidiert gegen die vermeintliche Theorieferne der Alltagsgeschichte polemisierte. Wehlers später oft zitierter Vorwurf, die Barfußhistoriker erforschten den „Hirsebrei“, fiel zum ersten Mal auf dieser Podiumsdiskussion.[4] Die Alltagshistoriker setzten sich jedoch zur Wehr, wobei der Widerstand vor allem aus dem Publikum kam. Dort saßen mit Hans Medick und Detlev Peukert zwei prominente Fachvertreter der neuen Alltags- und Erfahrungsgeschichte, die sich gegen den Vorwurf der Theorieferne verwahrten und Wehler ihrerseits scharf kritisierten.[5] Die Podiumsdiskussion avancierte zum denkwürdigen Höhepunkt des Berliner Historikertags und war anschließend in aller Munde.

Davon bekam auch der Sender Freies Berlin Wind und plante eine Diskussionsrunde zum selben Thema, die am selben Abend im Dritten Programm ausgestrahlt werden sollte. Die Hauptkampfhähne Wehler und Medick standen für die Sendung offenbar nicht zur Verfügung. Doch Medick vermittelte den jungen Historiker Thomas Lindenberger, den er zwei Jahre zuvor in Göttingen kennengelernt hatte.[6] Der zweite Gast war Jürgen Kocka, der damals noch Professor an der Universität Bielefeld war.[7] Und schließlich konnte mit Ernst Nolte vom Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin noch einer der Organisatoren des Berliner Historikertages für die Fernsehsendung gewonnen werden. Die Gesprächsleitung übernahm der SFB-Redakteur Klaus Schulz, der im Dritten Programm regelmäßig das Kulturmagazin moderierte. Ausgestrahlt wurde die einstündige Live-Sendung in den späten Abendstunden des 7. Oktober 1984.[8]

Das Fernsehstudio versprüht den Charme der 1980er Jahre. Im Bildhintergrund hängt ein braungrauer Vorhang, vor dem eine große Zimmerpflanze steht. Direkt daneben prangt ein weißes Schild mit dem Titel der Sendung „Geschichte von unten? Alltagsgeschichte – für alle?“. Obwohl sich in der Alltagsgeschichte verstärkt Frauen engagieren, ist die Runde wie schon die Podiumsdiskussion beim Historikertag rein männlich besetzt. Die vier Männer sitzen steif auf kunstledernen Stühlen an einem kreisrunden Tisch, der mit hellbraunem Samtstoff bespannt ist. Das Getränk des Abends ist Orangensaft. Neben den reichlich gefüllten Gläsern stehen Aschenbecher, von denen jedoch keiner der Herren im Laufe des Abends Gebrauch macht. Das ganze Ambiente entspricht den Talkshows, die in den 1980er Jahren in den Dritten Programmen der ARD ausgestrahlt wurden. Nur plaudern diesmal keine Schauspieler*innen, Sänger*innen oder Schriftsteller*innen miteinander, sondern drei Historiker, die zwar wortgewaltig sind, aber mit dem Medium der Talkshow etwas fremdeln.

 

Was ist Alltagsgeschichte?

Die Anordnung der Gäste sagt bereits viel über die Konstellation dieses Abends aus. Kocka und Nolte sitzen gemeinsam an der linken Seite des Tisches, während Lindenberger alleine auf der rechten Seite Platz nimmt. Zwischen ihm und den beiden Mitdiskutanten sitzt der Moderator, der durchaus bemüht ist, eine neutrale Position einzunehmen. Gleich zu Beginn richtet er die erste Frage an Lindenberger und möchte von ihm wissen, was eigentlich mit dem Begriff „Geschichtswerkstatt“ gemeint sei. Dafür, dass die ganze Konstellation einer Prüfungssituation gleicht, schlägt sich der 29-jährige couragiert gegen die beiden Ordinarien und den Moderator, von denen er sich in seinem Strickpullover und dem Ring im rechten Ohr auch äußerlich sichtlich unterscheidet.

Thomas Lindenberger in der Fernsehsendung „Geschichte von unten? Alltagsgeschichte – für alle?“, Sender Freies Berlin, 7.10.1984, Quelle: rbb media.

Rückblickend stellt Lindenberger fest, dass er damals keinen Respekt vor den Professoren gehabt habe.[9] Vielmehr sei er in der Argumentation erprobt gewesen und habe sich mit der neuen Geschichtsbewegung und Historikern wie Peukert und Medick im Hintergrund sehr sicher gefühlt. Dieses Selbstbewusstsein ist Lindenberger in der Diskussion anzumerken und provoziert die beiden Professoren. Dass er auf Augenhöhe mit den Professoren im Fernsehen diskutiert, wertet die Alltagsgeschichte bereits massiv auf.

Jürgen Kocka begegnet Thomas Lindenberger in der Fernsehsendung zum ersten Mal. Der Bielefelder Sozialhistoriker ist damals 43 Jahre alt und zusammen mit Hans-Ulrich Wehler der bekannteste Vertreter der historischen Sozialwissenschaft, die schon seinerzeit als Bielefelder Schule bezeichnet wird.

Jürgen Kocka in der Fernsehsendung „Geschichte von unten? Alltagsgeschichte – für alle?“, Sender Freies Berlin, 7.10.1984, Quelle: rbb media.

Kocka bemüht sich um definitorische Klarheit, indem er zunächst den Begriff Alltagsgeschichte seziert und dabei kritisch Stellung zu deren Vertreter*innen bezieht: „Ich glaube, dass (…) viele Alltagshistoriker eine gewisse modernisierungsskeptische und fortschrittsskeptische Grundstimmung teilen.“[10] Kocka folgt also Wehler in dessen Kritik, die „grüne Bewegung in der Geschichtswissenschaft“ gefährde mit ihrer oft emotionalen Flucht in die Idylle vergangener Mikrostrukturen letztlich die „Leistungen der okzidentalen Kultur“.[11] Und genau wie Wehler kritisiert auch Kocka, dass die Alltagshistoriker ein gewisses Misstrauen gegenüber analytischen Begriffen aufweisen würden. Kocka trägt die Kritik in einem sachlichen und souveränen Ton vor. Ganz im Gegensatz zu Wehler versteht er Geschichte nicht „als Kampfzone“, sondern baut stattdessen Brücken zur Alltagsgeschichte, die er im Laufe des Gesprächs als willkommene Ergänzung der Sozialgeschichte immer stärker umarmt. Kocka verschränkt die Arme vor der Brust, doch nimmt er Lindenberger durchaus ernst.

Ernst Nolte in der Fernsehsendung „Geschichte von unten? Alltagsgeschichte – für alle?“, Sender Freies Berlin, 7.10.1984, Quelle: rbb media.

In der Mitte zwischen beiden – damals aber noch nicht zwischen allen Stühlen – sitzt Ernst Nolte mit einem dunkelblauen Dreiteiler und einer schwarz umrandeten, dunkel getönten Hornbrille. Der damals 61-jährige Geschichtsphilosoph und Faschismusforscher weist sowohl die „Geschichte von unten“ als auch die „Alltagsgeschichte“ zurück, indem er mit hoher Stimme und erhobener Nase süffisante rhetorische Fragen stellt:

Ausschnitt Min. 22:45 – 23.05, Quelle: rbb media

„Gibt es nicht ein Oben des Unten? Was war denn Adolf Hitler anderes als gewissermaßen ein oben gewordenes Unten? Gibt es nicht ein Unten des Oben? Was war ein Mann wie der Römer Catilina? (…) Gibt es nicht den Fall, dass das Unten zum Oben geworden ist in der Geschichte? Was erleben wir denn seit vielen Jahren in der Sowjetunion etwa? Hier ist doch eine Revolution von unten zu einem Herrschaftssystem mit seinem Oben unzweifelhaft geworden.“[12]

Indem Nolte seine historischen Beispiele von der Antike bis zur Gegenwart wählt, betont er die Zeitlosigkeit und Breite des Faches und demonstriert seine epochenübergreifende Kompetenz als Universalhistoriker, um den jungen Historiker aus der Berliner Geschichtswerkstatt einzuschüchtern und vorzuführen.

In Noltes rhetorischen Fragen steckt bereits ein Argumentationsmuster, das er zwei Jahre später in seinen umstrittenen Beiträgen zum eigentlichen Historikerstreit anwenden sollte, um die Radikalität seiner These vom kausalen Nexus zu kaschieren. 1984 fragt Nolte jedoch noch nicht, ob die „asiatische Tat“ ursprünglicher als der NS-Völkermord gewesen sei.[13] Zum Zeitpunkt der Fernsehsendung ist Nolte noch ein respektierter Fachhistoriker. Dass er sich in den folgenden Jahren aus der Historiker*innenzunft herauskatapultieren würde, ist noch nicht abzusehen. Bemerkenswert ist jedoch bereits seine Selbstverortung in der Zunft, wenn er im Hinblick auf den außerakademischen Hintergrund der meisten Alltagshistoriker*innen betont:

„Ich selbst bin ein Beispiel für Einwirkungen des Nicht-Zunftmäßigen auf die Zunft, denn ich habe als ein völlig Unzünftiger begonnen und bin von der Zunft akzeptiert und aufgenommen worden, was ich ihr immer hoch angerechnet habe, um es in aller Aufrichtigkeit zu sagen. Aber kein anderer der Universitätshistoriker ist auf so unorthodoxem Wege dorthin gelangt.“[14]

 

Wer schreibt Geschichte?

Die Frage der Zugangsvoraussetzungen zur Geschichtswissenschaft entwickelt sich im Laufe des Abends zu einem zentralen Thema der Sendung. Es geht vor allem um die Frage, wer dazu berufen sei, eine „Geschichte von unten“ zu schreiben. Hier bleibt Kocka sehr strikt und beharrt auf den Kriterien von Wissenschaftlichkeit.[15] Es stehe nicht an, dass die Geschichte einzig von den Betroffenen selbst geschrieben werden könne. Kocka plädiert vielmehr für eine freie, offene Konkurrenz der Argumente:

Ausschnitt Min. 54:55 – 56:00, Quelle: rbb media

„Dazu gehört, dass (…) jeder unabhängig von Rasse, Geschlecht, Glauben, Gesinnung am wissenschaftlichen Diskussionsprozess teilnehmen kann, sofern er (…) oder sie bestimmte Qualifikationsmerkmale erfüllt.“[16]

So bezweifelt Kocka, dass man eine Frau sein müsse, um bestimmte frauengeschichtliche Studien durchzuführen. Lindenberger bedauert hingegen, dass die „feministische Geschichtsforschung sich hier nicht selbst vorstellen kann und begründen kann, wieso Frauen, wenn sie Geschichte erforschen, durchaus auch mit wissenschaftlichen Methoden, trotzdem zu anderen Ansätzen kommen und warum das auch notwendig ist, dass sie zu anderen Ansätzen kommen.“[17] Er kritisiert also die rein männliche Zusammensetzung der Diskussionsrunde und betont, dass eine Erweiterung der Zunft auch zu einer Erweiterung der Perspektiven führe.[18]

Ausschnitt aus der Fernsehsendung „Geschichte von unten? Alltagsgeschichte – für alle?“, Sender Freies Berlin, 7.10.1984, Quelle: rbb media.

Lindenberger geht es um eine politische Geschichte. Damit folgt er explizit der britischen History Workshop-Bewegung. Die Geschichtswerkstatt versuche, neue politische Prozesse der Öffentlichkeit in Gang zu setzen. Die neue „Geschichte von unten“ sei ein Bestandteil einer politischen Kultur, die unabhängig von staatlichen Institutionen eine Geschichte für alle und im utopischen Sinne auch die Geschichte oder die Beschäftigung mit Geschichte von allen anstrebe. Ohne dass der Begriff Public History bereits Erwähnung findet, adaptiert Lindenberger somit implizit die Programmatik der amerikanischen Public History-Bewegung, die damals in Deutschland noch weitgehend unbekannt war und erst später auf eine einprägsame Formel gebracht wurde: “Public History is history for the public, about the public, and by the public.”[19] Lindenberger und seine Mitstreiter*innen aus der Geschichtswerkstatt erweisen sich somit als Public Historians avant la lettre.

 

„Was sind Sie eigentlich?“

Der politische Anspruch, den Lindenberger vorträgt, erregt den Widerspruch von Ernst Nolte. Ausnahmsweise stellt dieser daraufhin nicht nur allgemeine rhetorischen Fragen, sondern spricht Lindenberger direkt an, aber erneut im suggestiven Fragemodus:

Ausschnitt Min. 44:10 – 45.25, Quelle: rbb media

„Was sind Sie eigentlich? Sind Sie weiter nichts als, sagen wir mit einer banalen Wendung, der ideologische Reflex neuer politischer Bewegungen? Oder sind Sie ein Vorpreschen sich etablierender Schichten? Oder treiben Sie die Kritik an der etablierten Wissenschaft und einem vorhandenen Staat so weit, dass Sie sich etwa einem revolutionären Konzept anschließen? (…) Was sind Ihre ideologischen Hintergründe und Zielsetzungen? Ist da nicht die alte und bekannte Zivilisationskritik auf einmal wiederaufgetaucht?“[20]

Lindenbergers Replik ist bemerkenswert gelassen. Er konzediert, dass die neue „Geschichte von unten“ durchaus ein Teil der Neuen Sozialen Bewegungen sei. Den Vorwurf der Zivilisationskritik, den sowohl Nolte als auch Kocka erheben, weist er jedoch spöttisch zurück:

Ausschnitt Min. 47:50 – 49:00, Quelle: rbb media

„Wir sind hier in Berlin in der Lage, dass bei uns zum Beispiel sehr wenig Geschichte der Agrargesellschaften in Berlin selbst anfällt. Das liegt an dem Großstadtraum Berlin. Wir sind also sehr wenig anfällig dafür, ständig auf die Dörfer zu gehen und das alles ganz toll und schick zu finden. Wir setzen uns sehr viel eher durchaus mit dem Elend, mit den Prozessen in der Industrialisierung und der Urbanisierung Berlins auseinander und haben da bisher eigentlich noch keinen Anlass gefunden, das in irgendeiner Weise aus einer zivilisationskritischen Sicht von heutzutage aus zu idealisieren oder so, wie es häufig Geschichtswerkstätten unterstellt wird.“[21]

Auf diese Weise rechtfertigt Lindenberger auch den Schwerpunkt der Berliner Geschichtswerkstatt auf der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Mehrfach nimmt er Bezug auf die bevorstehende 750-Jahr-Feier Berlins 1987: „Berlin rüstet sich dazu, in drei Jahren so eine Art Freilandmuseum zu sein für Geschichte.“ Lindenberger sieht das aber nicht nur kritisch, sondern zugleich als Chance zur Mitbestimmung und Mitgestaltung. „Das ist dann ein ganz konkreter politischer Kampf um Geldtöpfe“ – an dem sich die Geschichtswerkstatt durchaus beteiligen wird. Frei nach dem Motto „rechtes Geld in linke Taschen“ wird die Berliner Geschichtswerkstatt und der mit ihr verbundene Kulturrat die 750-Jahr-Feier Berlins nutzen, um eigene Akzente zu setzen, öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen und neue Institutionen zu schaffen.[22] Das Stadtjubiläum mit seinen zahlreichen Ausstellungen und Aktivitäten wird zu einer deutlichen Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Berlin-Geschichte führen.[23] Zurecht kann das Jahr 1987 auch als Meilenstein der Public History in Deutschland gelten.

Ein Jahr später nimmt Jürgen Kocka einen Ruf an die Freie Universität Berlin an. Er wird das konservative Friedrich-Meinecke-Institut kräftig umkrempeln. Seine Umarmungsstrategie gegenüber der Alltagsgeschichte hat Erfolg. 1993 holt er Thomas Lindenberger an den neu gegründeten Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien nach Potsdam. Aus dem von Kocka geleiteten Forschungsschwerpunkt wird 1996 das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), an dem Lindenberger zu den einflussreichsten Historiker*innen gehören wird. Sein Konzept des „Eigen-Sinns als soziale Praxis“, das er von Alf Lüdtke entlehnt und auf die Gesellschaftsgeschichte der DDR anwendet, macht weit über Potsdam hinaus Schule.[24]

Heute konzediert Kocka die Bedeutung der Alltagsgeschichte: „Bei aller Kritik habe ich in den Jahren die Chancen der Alltagsgeschichte begriffen.“[25] Die größte Leistung der Alltagsgeschichte sei die Aufmerksamkeit, die sie der Rolle der Erfahrung beigemessen habe. Sowohl bei Lindenberger als auch bei Kocka ist in der Rückschau heute nicht mehr viel zu spüren von den Auseinandersetzungen um die Alltagsgeschichte Mitte der 1980er Jahre. Der Streit ist längst beigelegt. Dagegen sollte der Streit mit Ernst Nolte erst richtig losgehen: Der 2016 verstorbene Historiker rief durch seine Thesen zum kausalen Nexus zwischen dem Stalinistischen Terror und dem NS-Völkermord den Historikerstreit hervor.[26] Noltes Thesen sollten nicht nur die deutsche Geschichtswissenschaft, sondern auch die breite Öffentlichkeit erschüttern. Verglichen mit dem Historikerstreit von 1986 verlief der Streit um die Alltagsgeschichte von 1984 geradezu zivil. Beide Kontroversen stehen aber für eine Geschichtswissenschaft, die sich in den 1980er Jahren radikal pluralisierte und zur Public History wurde.  

 

Das vollständige Transkript der Sendung ist hier abrufbar.

 


[1] Der vorliegende Beitrag erschien parallel in: Frank Bösch/Stefanie Eisenhuth/Hanno Hochmuth/Irmgard Zündorf (Hg.), Public Historians. Zeithistorische Interventionen nach 1945, Göttingen 2021, S. 351-363.

[2] Der 35. Historikertag galt bereits zeitgenössisch als „grüner Historikertag“. West-Berlin war als Austragungsort für das Thema Alltagsgeschichte gut gewählt, da von der 1981 gegründeten Berliner Geschichtswerkstatt viele Impulse für die Alltagsgeschichte ausgingen. Zur Berliner Geschichtswerkstatt vgl. Jenny Wüstenberg, Vom alternativen Laden zum Dienstleistungsbetrieb. The Berliner Geschichtswerkstatt. A Case Study in Activist Memory Politics, in: German Studies Review 32 (2009), S. 590-618.

[3] Die Beiträge der Podiumsdiskussion sind vollständig abgedruckt in einer Studienbroschüre der Fernuniversität Hagen: Franz-Josef Brüggemeier/Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte von unten – Geschichte von innen: Kontroversen um die Alltagsgeschichte, Hagen 1985.

[4] Siehe Hans-Ulrich Wehler, Geschichte – von unten gesehen, in: Die Zeit, 03.05.1985, [26.07.2021].

[5] Vgl. Hanno Hochmuth, Theorie und Alltag. Detlev Peukert und die Geschichtswerkstätten, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 31 (2015), S. 159-174.

[6] Gespräch mit Thomas Lindenberger am 12.12.2017.

[7] Gespräch mit Jürgen Kocka am 22.12.2017.

[8] Das Fernsehprogramm im Berliner Tagesspiegel kündigte die Sendung für 23.05 Uhr an. Der Anmoderation von Klaus Schulz ist allerdings zu entnehmen, dass die Sendung offenbar erst mit einiger Verspätung begann. Zuvor war eine Sportübertragung angesetzt.

[9] Gespräch mit Thomas Lindenberger am 12.12.2017.

[10] Minute 06:10.

[11] Zitiert in: FAZ, 9.10.1984, S. 25.

[12] Minute 22:45.

[13] Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.6.1986, S. 25.

[14] Minute 51:45.

[15] Ähnlich argumentierte Kocka auch 1990 auf dem Bochumer Historikertag, auf dem engagiert darüber diskutiert wurde, welche Rolle DDR-Historiker zukünftig in der vereinigten Zunft spielen sollten. Vgl. hierzu Krijn Thijs, Geschichte im Umbruch. Lebenserfahrung und Historikerbegegnungen nach 1989, in: Franka Maubach/Christina Morina (Hg.), Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland, Göttingen 2016, S. 387-448.

[16] Minute 55:18.

[17] Minute 37:57.

[18] Bemerkenswert ist, dass andere Themen in der Sendung überhaupt nicht angesprochen werden. So wird die neue Methode der Oral History, die von vielen Alltagshistoriker*innen in den Geschichtswerkstätten ausgiebig praktiziert wurde, überhaupt nicht erwähnt. Auch die DDR, die zur selben Zeit nur wenige Kilometer vom Sendestudio ihren 35. Republikgeburtstag feiert, kommt an keiner Stelle vor.

[19] Charles C. Cole Jr., Public History: What Difference Has it Made?, in: The Public Historian 16 (1994), H. 4, S. 9-35, hier S. 11.

[20] Minute 44:10.

[21] Minute 48:00.

[22] Vgl. Krijn Thijs, Drei Geschichten, eine Stadt. Die Berliner Stadtjubiläen von 1937 und 1987, Köln u.a. 2008.

[23] Vgl. Hanno Hochmuth/Paul Nolte, Berlin in der zeithistorischen Forschung, in: Dies. (Hg.), Stadtgeschichte als Zeitgeschichte. Berlin im 20. Jahrhundert, Göttingen 2019, S. 9-36, hier S. 27.

[24] Vgl. insb. Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: Ders. (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln u.a. 1999, S. 13-44. Bemerkenswerterweise spricht Lindenberger auch bereits in der Fernsehsendung von 1984 von der „Entwicklung eines kulturellen Eigensinnes“.

[25] Gespräch mit Jürgen Kocka am 22.12.2017.

[26] Vgl. Ulrich Herbert, Der Historikerstreit. Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte, in: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte, München 2003, S. 94-113.