von Annette Vowinckel

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21. März 2023

Der Beginn des Yom Kippur-Kriegs im Oktober 1973 war einer der heikelsten Momente in der Geschichte des Staates Israel. Die Menschen feierten das höchste jüdische Fest, viele fasteten und hörten oder sahen keine Nachrichten. Eine Warnung seitens der Regierung, dass die Nachbarstaaten Syrien und Ägypten gerade an diesem Tag das Land angreifen konnten, gab es nicht. Angesichts der Tatsache, dass in diesem Krieg Israels Existenz massiv bedroht war, stellt sich die Frage, wie ausgerechnet ein Staat mit einem Geheimdienst wie dem Mossad von einem solchen Angriff kalt erwischt werden konnte.

Guy Nattiv, der Regisseur von Golda, beantwortet diese Frage mit erstaunlicher Eindeutigkeit: Nicht die damalige Regierungschefin Golda Meir, sondern ihr Verteidigungsminister Moshe Dajan hatte das zu verantworten. Noch trunken von seinen Erfolgen im Sechstagekrieg von 1967 hat er die Bedrohung erst kleingeredet und anschließend (fast) alles falsch gemacht, was man in dieser Notsituation falsch machen konnte. Und der Mossad hat es im entscheidenden Moment versäumt, die Ägypter abzuhören – ein Fehler, für den Golda Meir die volle Verantwortung übernahm, obwohl sie dafür nicht persönlich verantwortlich war.

Die Filmhandlung beginnt, nach einer kurzen halbdokumentarischen Rückschau auf den Unabhängigkeitskrieg von 1948/49, mit der Aussage Golda Meirs vor einem Untersuchungsausschuss im Jahr 1974. Dann springt die Filmhandlung zurück in die ersten Oktobertage des Jahres 1973. In Meirs Kabinett entbrennt eine heftige Debatte darüber, wie ernst man Informationen zu nehmen habe, die auf einen bevorstehenden Angriff Syriens und Ägyptens hinweisen. Moshe Dajan beharrt darauf, dass es Truppenaufmärsche in den beiden feindlichen Nachbarstaaten bereits mehrfach gegeben habe und dass man sich davon nicht verrückt machen lassen solle. Andere, darunter der Generalstabschef, fordern eine Mobilisierung der Streitkräfte. Meir ordnet schließlich eine Teilmobilisierung an, ohne dies öffentlich zu kommunizieren. Eine Warnung an die Zivilbevölkerung bleibt aus mit dem Argument, man wolle den Menschen nicht den Feiertag verderben.

Am 6. Oktober mittags greifen Syrien und Ägypten Israel an und drohen für wenige Tage, den Staat – so die zeitgenössische Rhetorik – von der Landkarte zu fegen. Der Film zeigt fortan abwechselnd Golda Meir in ihrem Regierungsumfeld und die Kriegshandlungen. Sollte der Regisseur mit Golda einen Spagat zwischen Actionfilm und Psychogramm angestrebt haben, so ist ihm das durchaus gelungen.

 

Eine oskarverdächtige Hauptdarstellerin …

Teile dieses Films, nämlich die brutalen Kriegsszenen mit imaginierter Liveübertragung von Stimmen aus den Schützenpanzern könnte man durchaus als war porn klassifizieren. Andere Teile aber zeichnen ein sehr feines Psychogramm der 1898 in Kiew geborenen Golda Meir. Über deren Biografie erfahren wir, anders als der Filmtitel suggeriert, wenig. Nur am Rande erwähnt sie im Gespräch mit Henry Kissinger, dass sie als Kind in der Ukraine antisemitische Pogrome erlebte (die sie allerdings in der Rückschau, merkwürdigerweise, nicht der ukrainischen Bevölkerung anlastet, sondern „den Russen“). Von Kissinger möchte sie deshalb – schließlich befinden wir uns mitten im (Kalten) Krieg – vor allem, dass er Waffen schickt, und das möglichst schnell.

Film still: Helen Mirren als Golda Meir in Golda. Regie Guy Nattiv, Großbritannien 2022. Berlinale Special. © Jasper Wolf

Die USA liefern, und der Krieg nimmt eine Wende. Durch eine Gegenoffensive gelingt es der israelischen Armee, Teile der ägyptischen Streitkräfte im Sinai einzukesseln. Am 25. Oktober 1973 endet der Krieg mit einem Waffenstillstand. 1974 erfolgt Meirs Aussage vor dem eingangs erwähnten Untersuchungsausschuss, der sie – und auch Mosche Dajan, aber das bleibt ungesagt – von allen Vorwürfen freispricht.

Am Ende des Films sehen wir dokumentarische Aufnahmen vom Abschluss des Friedensvertrags zwischen Israel und Ägypten, den Golda Meirs Nachfolger Menahem Begin 1979 in Camp David unterzeichnete. Die 1978 an Krebs verstorbene Golda Meir erlebte diesen Moment nicht mehr. Im Abspann des Films heißt es jedoch ausdrücklich, dass sie mit dem militärischen Sieg von 1973 den Weg geebnet habe für diesen Friedensschluss. Golda ist also nicht (nur) ein Kinofilm, sondern auch ein Projekt zur Rehabilitierung der Regierungschefin, die 1974 unter großem Druck der Öffentlichkeit von ihrem Amt zurückgetreten war.

Dominiert wird der Film über weite Strecken von der wirklich grandiosen Helen Mirren in der Hauptrolle. Bemerkenswert sind auch die Interieurs dieses überaus unterhaltsamen und von guten Dialogen getragenen Films. Sie lassen die Zeit atmosphärisch wieder auferstehen und machen den Film zu einem ästhetischen Vergnügen erster Güte.

 

… und ein höchst zweifelhaftes Narrativ vom Yom Kippur-Krieg

Die Geschichte des Yom Kippur-Kriegs (auch Oktober-Krieg oder Ramadan-Krieg genannt), kann man allerdings auch ganz anders erzählen. In einem 2006 veröffentlichten Aufsatz hat Uri Bar-Joseph eine Version angeboten, in der Golda Meir bei weitem nicht so gut dasteht wie auf der diesjährigen Berlinale.[1] Er verweist auf mehrere von Anwar al-Sadat in den frühen 1970er Jahren ergriffene Friedensinitiativen, vor allem aber auf Gespräche, die er im Februar 1973 mit Henry Kissinger geführt hatte. Sadat verfolgte damals eine Strategie des „peace for territory“, forderte also im Kern einen Friedensvertrag mit Israel im Austausch für die Rückgabe der im Sechstagekrieg eroberten Gebiete an Ägypten, Jordanien und Syrien. „[A]s we know today,” so Bar-Joseph, „Israel's policy-makers' decision to reject the Egyptian proposal was taken despite their estimate that it would lead Egypt to declare war. In this sense they consciously opted for war over peace.”[2]

Bar-Josephs Quellen belegen das Angebot eines ägyptischen Unterhändlers, im Gegenzug für einen Friedensvertrag den Staat Israel anzuerkennen und die Lösung der „palästinensischen Frage“ dem jordanischen König Hussein zu überlassen.[3] Wie wir wissen, sollte Sadat dafür später mit seinem Leben bezahlen, und die palästinensische Frage ist bis heute ungelöst. Die Israelis hingegen nahmen an, dass ein Spiel auf Zeit ihre Verhandlungsposition verbessern würde, und unterschätzten dabei das Risiko, dass Sadat sich durch einen militärischen Angriff Gehör und bei den arabischen Verbündeten Gewicht verschaffen würde.

 

 

Daran, dass der Yom Kippur-Krieg ein syrisch-ägyptischer Angriffskrieg war, der Israel am höchsten jüdischen Feiertag traf und der unnötig viele Menschenleben auf beiden Seiten forderte, ändert all das nichts. Es ist auch nicht die Aufgabe eines Unterhaltungsfilms, eine komplexe historische Gemengelage so darzustellen, dass er dabei allen gerecht wird. Doch anders als ein wissenschaftlicher Text erreicht ein Film, zumal ein so gut gemachter wie dieser, ein sehr breites Publikum. Er formt die kollektive Erinnerung – oft mit dem Ergebnis, dass die Zuschauer*innen das Kino für bare Geschichte nehmen. Die Aufgabe der Zeitgeschichte sollte es deshalb sein, den Yom Kippur-Krieg auch aus anderen als nur dieser hagiografischen Perspektive zu beleuchten. Die Geschichte nämlich, dass es sich dabei um einen Angriff ohne Vorwarnung handelte, der mit diplomatischen Mitteln nicht hätte verhindert werden können, kann man wohl getrost ins Reich der Fabeln verweisen. Vor diesem Hintergrund erscheint Golda als hollywoodeske Hagiografie, wenn nicht gar als Geschichtsklitterung.

 


[1] Uri Bar-Joseph, Last Chance to Avoid War: Sadat's Peace Initiative of February 1973 and its Failure, in: Journal of Contemporary History 41 (2006) H. 3, S. 545-556, hier S. 545. Bar-Joseph war bis zu seiner Emeritierung Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Haifa.

[2] Ebd., S. 546.

[3] Ebd., S. 548f., mit Verweis auf: Memorandum of Conversation between Mr. Muhammad Hafiz Ismail, Egyptian Presidential Adviser for National Security Affairs and additional Egyptian delegates, and Dr. Henry A. Kissinger, Assistant to the President for National Security Affairs and additional American delegates, 25 February 1973 and 26 February 1973, Nixon Presidential Materials Project, NSC Files, Henry Kissinger Files, Country Files, Middle East, Box 25, S. 32.