„Nationalismus ist genau das, was die Ukraine jetzt braucht“, bekundete die US-amerikanische Publizistin Anne Applebaum nach dem Durchbruch der Euromaidan-Revolution im Mai 2014.[1] Auf dem Kyjiwer Maidan wurden damals neben Europa-Flaggen und blau-gelben ukrainischen Nationalflaggen auch schwarz-rote Fahnen geschwenkt, mit denen rechtsextreme Kräfte sich auf die Tradition des radikalen ukrainischen Nationalismus aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beriefen. Manche Beobachter*innen schrieben dem „Rechten Sektor“ einen beträchtlichen Anteil an der blutigen Eskalation der friedlichen Protestbewegung zu. Nach der Absetzung des kleptokratischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch nutzte Wladimir Putin die angebliche Bedrohung durch ukrainische „Bandera-Faschisten“ als Vorwand, um die Krim zu annektieren und sezessionistische Bestrebungen in Donezk und Luhansk zu einem regulären militärischen Konflikt auszuweiten.[2]
In dieser postrevolutionären Situation für mehr Nationalismus zu plädieren, bedeutete aus Sicht vieler Westeuropäer nichts anderes, als zusätzliches Öl ins Feuer zu gießen. Zwar hatte Applebaum weniger das martialische Gehabe nationalistischer Kampfgruppen im Sinn als staatsbürgerliches Engagement und nationales Verantwortungsgefühl. Dennoch wirkte die augenfällige Präsenz nationalistischer Symbolik als Alarmsignal, jedenfalls für große Teile der deutschen Öffentlichkeit. Die russische Propaganda, die jede Regung ukrainischen Nationalgefühls sogleich in schlechter sowjetischer Tradition als faschistischen Bandera-Kult denunzierte, trug ihren Teil dazu bei, dieses Unwohlsein zu verfestigen.
Heute, nachdem der alternde Diktator im Kreml mit dem unverhüllten Überfall auf die Ukraine seine letzte Karte auf den Tisch gelegt hat, scheint alles anders. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev konstatierte kürzlich, ganz Europa habe sich in den ukrainischen Nationalismus verliebt.[3] Damit hat sich die Richtung der wechselseitigen Projektionen um 180 Grad gedreht: Im Winter 2013/14 brachten die Demonstranten in Kyjiw mit der Europa-Flagge ihre Hoffnungen auf einen pro-europäischen Kurswechsel ihres Landes zum Ausdruck. Heute wehen ukrainische Nationalflaggen als Zeichen der Solidarität an öffentlichen Gebäuden von Helsinki bis Lissabon. Der Kampf der Ukraine um ihre nationale Souveränität ist zum Inbegriff der Verteidigung der europäischen Werteordnung geworden. Dabei hatte man diese doch zumindest in Deutschland als Errungenschaft eines postnationalen Zeitalters verstehen wollen.
Zwingt die „Zeitenwende“ also auch die deutsche Öffentlichkeit dazu, ihre Skepsis gegenüber offen nationalen oder gar nationalistischen Weltsichten abzulegen? Jedenfalls übernahmen mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs östliche EU-Mitgliedsstaaten wie Polen die innereuropäische Diskurshoheit, deren Beharren auf nationaler Souveränität von deutschen Linksliberalen zuvor bestenfalls belächelt worden war. Ostmitteleuropäische Warnungen vor dem russischem Expansionsdrang, die in Deutschland lange als rückwärtsgewandte Neurosen abgetan wurden, erwiesen sich nun als wohlbegründet.
Inzwischen ist die Bundesregierung längst auf den Kurs der entschiedenen Unterstützung für die ukrainische Selbstverteidigung eingeschwenkt. Deutschland ist nach den USA zweitgrößter militärischer Unterstützer der Ukraine.[4] Dass dies nicht überall anerkannt wird, hat weniger mit dem tatsächlichen Umfang des deutschen Engagements zu tun als mit der ostentativen Zögerlichkeit von Kanzler Scholz und der Abneigung der hiesigen politischen Klasse gegenüber kriegerischem Verbalradikalismus. Zumindest letztere ist historisch wohlbegründet – und es wären wohl dieselben Ostmitteleuropäer, die eine allzu forsch vertretene deutsche Führungsrolle als erste skandalisieren würden.Dennoch hat das deutsche Fremdeln mit den nationalen Sichtweisen der Ukrainer und der anderen Ostmitteleuropäer wertvolle Zeit und kostbares Vertrauen gekostet.
Angesichts der historischen Massenverbrechen des deutschen Nationalismus gilt die Distanzierung von jeder Art von Nationalismus hierzulande zurecht als Lackmustest für staatsbürgerliche Aufgeklärtheit und demokratische Zurechnungsfähigkeit. In der selbstzufriedenen Gewissheit, den eigenen nationalistischen Traditionen im Zuge einer mustergültigen „Vergangenheitsbewältigung“ abgeschworen zu haben, fühlte man sich jedoch zugleich berechtigt, vermeintlich gestrige Positionen der östlichen Nachbarn mit herablassender Ignoranz zu übergehen. Die randständigen, aber lautstarken nationalistischen Tendenzen innerhalb der ukrainischen Demokratiebewegung erleichterten es der deutschen Politik, nach vorübergehenden Sympathiebekundungen für die pro-europäischen Revolutionäre des Euromaidans zum erprobten modus vivendi mit Putin und Gazprom zurückzukehren. Das war nicht nur bequemer und wirtschaftlich einträglicher, sondern ließ sich obendrein als rationaler und historisch reflektierter rechtfertigen.
Der postnationale deutsche Sonderweg beruhte stets auf einem gravierenden blinden Fleck im historischen Bewusstsein der selbsternannten Aufarbeitungsweltmeister. Schließlich hat der deutsche Nationalismus seine präzedenzlosen Massenverbrechen größtenteils im Kontext seiner imperialen Expansion nach Osten begangen. Die jahrzehntelang fehlende Bereitschaft, neben dem Holocaust auch der Opfer des deutschen Vernichtungskriegs im östlichen Europa angemessen zu gedenken, war eine logische Folge der Ausblendung der imperialistischen Anteile des NS-Regimes. Das Desinteresse an den nationalen Emanzipationsbestrebungen der Polen, Ukrainer oder Balten wurde indessen mit einer servilen Romantisierung des imperialen Russlands überkompensiert.
Heute erleben wir aufs Neue die toxische Mischung, die sich aus der Verbindung von Nationalismus und Imperialismus ergibt. Nicht der ukrainische Nationalismus hat diesen Krieg vom Zaun gebrochen, sondern der nationalistisch eingefärbte russische Imperialismus. Die schwarz-roten Flaggen der radikalen ukrainischen Nationalisten sind seit 2014 weitgehend verschwunden, weil es diesen nicht gelungen ist, den patriotischen Nimbus ihrer Freiwilligenbataillone zur Etablierung einer politischen Hegemonie zu nutzen. Trotz des schwelenden Kriegs im Donbas lösten die forcierte Förderung der ukrainischen Sprache und die betont nationale Geschichtspolitik von Petro Poroschenko bei vielen Ukrainern eher Ermüdungserscheinungen aus. Der erdrutschartige Wahlsieg Wolodymyr Selenskyjs 2019 verdankte sich nicht zuletzt der Tatsache, dass Selenskyj der nationalistischen Identitätspolitik ein inklusiveres Verständnis von staatsbürgerlicher Zugehörigkeit entgegensetzte.[5] Nicht das rechtsradikale Asow-Regiment ist zum faschistoiden Marsch auf Kyjiw aufgebrochen – sondern die von dem russischen Neonazi Dmitri Utkin angeführten Wagner-Söldner haben zwischenzeitlich das fragile Machtgefüge im Moskauer Imperium ins Wanken gebracht.
Im Lichte der russischen Aggression erscheint es zunehmend fragwürdig, dass Historiker*innen zuletzt eher dazu neigten, Imperien als Horte von Diversität und filigraner Komplexität zu betrachten, Nationen aber zuvörderst mit rassistischer Homogenisierung und mörderischer Gewalt zu assoziieren.[6] Es ist vielmehr an der Zeit, neben den unstrittigen Schattenseiten des Nationalismus auch die historischen Vorzüge der Nation anzuerkennen. Tatsächlich gehen auch soziale Inklusion, Wohlfahrtsstaat und Massendemokratie maßgeblich auf das Konto des modernen Nationalstaats, ja, sie wären ohne diesen wohl kaum denkbar. Die unübersehbaren Schwierigkeiten, im postnationalen Rahmen der EU substanzielle Solidarität zu organisieren, deuten darauf hin, dass dieses Modell auf absehbare Zeit nicht überholt sein wird. So wie Rogers Brubaker das unerwartete Revival der Nation nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums 1989–91 zum Anlass nahm, die „real existierenden Nationalismen“ im östlichen Europa in ihren differenzierten Facetten zu untersuchen,[7] gilt es heute erneut, sich den Ambivalenzen nationaler Ordnungen nuanciert anzunähern.
Eine solche partielle Rehabilitierung der Nation bedeutet freilich nicht, Nationalismus kritiklos hinzunehmen, sei es im östlichen Europa oder anderswo. Dass die Warnung vor ukrainischen „Bandera-Faschisten“ zum geläufigen Arsenal der Moskauer Propaganda zählt, ist Grund genug, entsprechende Unterstellungen kritisch zu hinterfragen. Mit vorbehaltloser Akzeptanz für überschießenden ukrainischen Nationalismus ist der Ukraine jedoch mittelfristig ebenso wenig geholfen. An die unrühmliche Geschichte der Nationalismen in der Region erinnert dieser Tage der 80. Jahrestag des ukrainisch-polnischen Konflikts in Wolhynien, wo Nationalisten beider Seiten im Sommer 1943 zehntausende Zivilisten brutal dahinmordeten.
Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine erleben wir nicht nur die Wiederkehr imperialistischer Geopolitik, sondern ebenso die erstaunliche Mobilisierungskraft demokratischer, nationaler und eben auch nationalistischer Ideen. Anstelle allergischer Abwehrreaktionen braucht es einen sensibleren Blick auf die zerstörerischen wie auch die emanzipatorischen Dimensionen real existierender Nationalismen. Dazu gehört insbesondere, den in der deutschen Öffentlichkeit und in Teilen der Wissenschaft immer noch verbreiteten pauschalisierenden Blick auf „den Osten“ zu überwinden, der die Aufmerksamkeit für die historischen Erfahrungen der Völker Ostmitteleuropas ebenso trübt wie die Wahrnehmung der Ukraine als eigenständiges historisches Subjekt. Denn ohne kritische Reflexion der Geschichte der Gesellschaften zwischen Deutschland und Russland lassen sich auch die heutige Ukraine und der Krieg in Europas Osten nicht verstehen.
[1] Anne Applebaum: Nationalism is Exactly what Ukraine Needs, in: New Republic, 13.5.2014.
[2] Vgl. Dominique Arel / Jesse Driscoll: Ukraine’s Unnamed War: Before the Russian Invasion of 2022, Cambridge University Press 2023.
[3] Ukraine in the EU: Making the Impossible Happen – An Interview with Ivan Krastev, in: Visegrad Insight, 24.3.2023.
[4] Siehe den „Ukraine Support Tracker“ des Kieler Instituts für Weltwirtschaft.
[5] Jessica Pisano: Why Volodymyr Zelenskyy is a more Complex Leader than most People Know, in: Politico, 23.2.2023.
[6] So auch Martin Schulze Wessel: Osteuropäische Geschichte in der „Zeitenwende“. Konzepte und institutionelle Erfahrungen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 69 (2021), H. 4, S. 536–542, hier S. 537f.
[7] Rogers Brubaker: Nationalism Reframed. Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge University Press 1996.