von Tobias Ebbrecht-Hartmann

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14. Februar 2024

Nach seiner Befreiung zeichnete der ehemalige Häftling des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, Ervin Abádi, ein Bild, das den Ausschnitt einer Baracke zeigt. Tief gebeugt sitzen zwei Häftlinge in einem Stockbett. Ganz oben liegt ein dritter Häftling. Neben dem Bett, von dem die farbige Tuschezeichnung nur einen Teil darstellt, stehen zwei weitere Häftlinge mit dem Rücken zum Betrachter. Das Bild stellt eine Alltagsszene aus dem Lager dar. Kurz nach der Befreiung angefertigt, ist es ein subjektives Zeugnis der Lagererfahrung. Für uns dient es heute als wertvolles Dokument, um das Leben im Konzentrationslager Bergen-Belsen in all seiner Komplexität besser vorstellen zu können und uns auf diese Weise dem historischen Verstehen anzunähern. Im Rahmen des EU geförderten Projekts MEMORISE wurde nun eine neue Technik entwickelt, um sich mit solchen Häftlingszeichnungen interaktiv auseinanderzusetzen.

Interaktive Zeichnung basierend auf einem Bild von Ervin Abádi. © MEMORISE

Begehbare Zeichnungen

Ein 3D Explorer ermöglicht es Nutzer:innen das Gemälde virtuell zu betreten und im dreidimensionalen Bildraum zu navigieren. Anklickbare Annotationen stellen Hintergrundinformationen zur Zeichnung, ihrem Urheber und zum Alltag im Konzentrationslager zur Verfügung. Der virtuelle Rundgang durch das dreidimensionale Bild lenkt die Aufmerksamkeit auf leicht übersehbare Details. Insgesamt vier solcher begehbaren Häftlingszeichnungen wurden bisher für das Projekt entwickelt. Neben dem ehemaligen KZ Bergen-Belsen ermöglichen sie auch Einblicke in das Lager Westerbork. Zwei Bilder der Häftlinge Leo Kok und Otto Birman zeigen detailreiche Szenen aus dem niederländischen Transitlager, in dem sich unter anderem jüdische Häftlinge sowie Sinti und Roma befanden.

Vier interaktive Zeichnungen von Häftlingen aus Bergen-Belsen und Westerbork. © MEMORISE

Für die 3D Modelle wurde der sichtbare Bildausschnitt der Zeichnungen erweitert. Die Erweiterungen basieren allerdings auf Elementen, die in den historischen Zeichnungen, welche als Ausgangspunkt für die visuelle Entdeckungsreise dienen, tatsächlich vorhanden waren. Neu hinzugefügte Elemente sind als solche durch Struktur und Farbgebung gekennzeichnet.

Außerdem wurden den Bildern zusätzliche Quellen hinzugefügt. Vom 3D-Modell der von Abádi gezeichneten Baracke gelangt man beispielsweise zu einer weiteren Häftlingszeichnung und zu einer Fotografie, die ebenfalls eine Häftlingsbaracke, dieses Mal zum Zeitpunkt der Befreiung des Lagers, zeigt. Auf diese Weise können die Nutzerinnen auch vergleichend mit verschiedenen Quellen arbeiten.

 

Kulturelles Erbe der NS-Verfolgung

Häftlingszeichnungen wie die des ungarischen Zeichners Ervin Abádi, der nach seiner Emigration nach Israel den Namen Aaron annahm, gehören zum kulturellen Erbe der NS-Verfolgung. Gedenkstätten, Archive und andere Institutionen haben in den vergangenen Jahrzehnten mit großem Aufwand dieses Erbe digitalisiert und für die zukünftige Verwendung nutzbar gemacht. In den letzten Jahren sind außerdem zahlreiche Projekte entstanden, die mithilfe digitaler Technologien Anwendungen entwickelt haben, die dieses Erbe zugänglich machen. Das Forschungsprojekt #LastSeen hat zum Beispiel eine Online-Plattform entwickelt, auf der sich interessierte Nutzer:innen mit dem visuellen Erbe der Deportationen von Jüdinnen und Juden sowie Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich auseinandersetzen können. Der Bildatlas macht Fotografien zugänglich, von denen zahlreiche erst in jüngster Zeit in Archiven und Privatsammlungen entdeckt wurden, und ordnet sie konkreten Orten und Aufnahmesituationen zu. Auf den Fotografien abgebildete Personen wurden identifiziert. Nutzer:innen können entsprechende Markierungen und Annotationen in den Digitalisaten einblenden. Außerdem erhalten sie Hintergrundinformationen zu den historischen Ereignissen. Neben der vor allem für historische Recherchen dienenden Plattform gibt es auch ein digitales Spiel, in dem sich Nutzerinnen mit den Fotografien aus der Perspektive einer jungen Bloggerin auseinandersetzen können. Auf diese Weise soll das visuelle Erbe der nationalsozialistischen Verfolgung auch einer jüngeren Nutzergruppe zugänglich gemacht werden.

Im Rahmen des EU geförderten Projektes „Visual History of the Holocaust: Rethinking Curation in the Digital Age“ wurde eine Plattform für die Auseinandersetzung mit historischen Filmaufnahmen der Alliierten aus befreiten Konzentrationslagern und von anderen Orten von NS-Verbrechen entwickelt. Diese Plattform macht die historischen Filme in einem Film Player zugänglich, der Verknüpfungen mit Hintergrundinformation, Personen und Aufnahmeorten ermöglicht, die mit einer Kartenansicht verknüpft sind. Außerdem enthält die Plattform weitere Dokumente, die die historischen Hintergründe sowie die Aufnahmebedingungen und ihre Kontexte näher beleuchten.

Die Augmented Reality Anwendung ARt der KZ-Gedenkstätte Dachau bettet digitalisierte Häftlingszeichnungen und andere Bilder, unter anderem aus einer Grafik Novel, in die gegenwärtige Gedenkstättenlandschaft ein.

 

Quellen als Ausgangspunkt

An solche Ansätze knüpft das MEMORISE Projekt an und nimmt das digitalisierte Erbe der NS-Verfolgung zum Ausgangspunkt für digitale Entdeckungen und virtuelle Erfahrungen. Neben Häftlingszeichnungen beschäftigt sich das Projekt, vor allem mit Tagebüchern, die Häftlinge in den Lagern Bergen-Belsen und Westerbork geführt haben. Solche Tagebücher ermöglichen es, ausgehend von konkreten Lebensgeschichten und persönlichen Erfahrungen den Lageralltag und seine verschiedenen Facetten zu beleuchten. Dazu wird eine digitale Lernplattform entwickelt, auf der sich die Nutzer:innen anhand von persönlichen Aufzeichnungen mit verschiedenen Lebens- und Verfolgungsgeschichten auseinandersetzen können. Dazu können sie zwischen drei Zugängen wählen: einem zeitlichen, einem topographischen und einem thematischen. Visualisiert werden diese Zugänge durch einen Zeitstrahl, eine Karte und thematische Cluster. Die in einem Mosaik angeordneten Biografien verteilen sich so jeweils neu und ermöglichen verschiedene Bezüge zur Geschichte der NS-Verfolgung über persönliche Zeugnisse. Gleichzeitig sollen die Nutzer:innen auf der zukünftigen Plattform jederzeit auf die historischen Zeugnisse in ihrer Gesamtheit zugreifen und sich mit dem Digitalisat eines Tagebuchs genauer auseinandersetzen können.

Entwurf für eine auf Tagebüchern basierenden interaktiven Lernplattform. © MEMORISE

Anders als in Projekten, die sich, wie zum Beispiel das VR-basierte Vermittlungsprojekt „In Echt!“ mit Volumetrischen Zeugnissen von Überlebenden befassen oder wie die im Rahmen des Brandenburger Spur.lab entstandenen eher ortsspezifisch angelegten digitalen Anwendungen, stellen die MEMORISE Prototypen historische Quellen ins Zentrum. Dies zeigt die gestiegene Bedeutung historischer, gerade auch persönlicher Dokumente für die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe des Nationalsozialismus, neben historischen Orten und den Berichten von Überlebenden. Ein zentrales Ziel des Projektes ist es daher, eine digitale Infrastruktur zu entwickeln, in der ungefähr 80.000 digitale Objekte verwaltet und in verschiedenen Formaten digitalen Erzählens zugänglich gemacht werden können.

 

Auseinandersetzung mit kulturellem Erbe

MEMORISE wird zusammen mit anderen Projekten zur Bewahrung und Zugänglichmachung des europäischen Kulturerbes bis September 2026 von der Europäischen Union gefördert. Koordiniert von der University of Southern Denmark in Odense, bringt das Projekt verschiedene Perspektiven zusammen. Beteiligt sind unter anderem die Gedenkstätten Bergen-Belsen und Westerbork, Archive, Forschungseinrichtungen, IT-Spezialist:innen, Designer:innen und Entwickler:innen.

Gerade wurden konzeptionelle und ethische Standards und Prinzipien entwickelt, die die weitere Arbeit an Prototypen sowie Konzepten für deren zukünftige pädagogische Nutzung unterstützen sollen. Darin spielen insbesondere Nutzer:innenorientierung, der Schutz historischer Quellen und Informationen, Formen einer eher andeutungsweise digitalen Rekonstruktion, die Förderung und Unterstützung historischer Vorstellungskraft sowie Empathie fördernde, personalisierte Erzählformen eine zentrale Rolle. Unter anderem werden auf dieser Grundlage auch 3D Modelle der historischen Lagertopographien in Bergen-Belsen und Westerbork weiterentwickelt.

Temporäre Ausstellung im Erinnerungszentrum Westerbork, in der erste Prototypen getestet werden können. © Tobias Ebbrecht-Hartmann

Erste Ergebnisse wurden bereits auf der Projektwebsite zugänglich gemacht. Seit November letzten Jahres stellt sich MEMORISE außerdem mit einer temporären Ausstellung in der niederländischen Gedenkstätte Westerbork der interessierten Öffentlichkeit vor. Die interaktive Ausstellung erlaubt es den Besucher:innen, einige der Anwendungen vor Ort zu testen. Dazu gehören auch die begehbaren Häftlingszeichnungen, die zu neuen Formen der Auseinandersetzung mit den Zeugnissen der NS-Verfolgung anregen sollen.

 

Anmerkung: Der Autor ist mit seinem Team an der Hebrew University Partner im MEMORISE Projekt und hat bis 2023 in dem ebenfalls von der EU geförderten Projekt „Visual History of the Holocaust: Rethinking Curation in the Digital Age“ mitgearbeitet. Er war außerdem wissenschaftlicher Experte im Brandenburger SPUR.lab und ist im wissenschaftlichen Beirat des Vermittlungsprojekts „In Echt! - Virtuelle Begegnung mit NS-Zeitzeuge:innen“.

 

Dieser Text ist im Rahmen der Arbeit im Projekt „MEMORISE: Virtualisation and Multimodal Exploration of Heritage on Nazi Persecution“ entstanden, dass als Teil des Research & Innovation Programms der Europäischen Union unter der Grant Agreement Nr. 101061016 gefördert wird.