Die jüdischen Israelis berufen sich im Streit um Land auf die Bibel, die Palästinenser auf ihr Geburtsrecht. Dabei müssen beide Seiten lernen, dass auch das andere Volk zum Land gehört.
In seinen Erinnerungen berichtet der ehemalige Präsident der Zionistischen Weltorganisation und Grandseigneur der jüdischen Interessenvertretung im 20. Jahrhundert, Nahum Goldmann, von einem im Sommer 1956 mitternächtlich geführten Gespräch mit dem Staatsgründer und Ministerpräsidenten Ben Gurion über Israels Zukunft. Ben Gurion gab sich sichtlich pessimistisch: Er werde wohl noch im Lande zu Grabe getragen werden. Ob dies für seinen Sohn Amos gelten werde, daran hege er Zweifel. Er setze wenig Hoffnung in ein Überdauern Israels. Goldmann reagierte bestürzt und fragte nach dem Grund eines derartigen Pessimismus. Ben Gurion erwiderte, dass er nicht glauben könne, dass sich die Araber jemals mit dem jüdischen Staat abfinden würden. Wäre er Araber, er täte es nicht.
Wir, so Ben Gurion weiter, behaupten, Gott habe uns das Land verheißen. Aber es ist unser Gott, nicht der Gott, dem sich die Araber beugen. Wir, so Ben Gurion, führen die Vernichtung der sechs Millionen durch Hitler an. Tragen die Araber hierfür Verantwortung? Möge doch Deutschland den Juden einen Staat gewähren - so die Araber. Nach einer Pause der Besinnung reagierte Goldmann mit der Aussage, glücklicherweise dächten nicht alle Araber so wie Ben Gurion.
Das nächtliche Gespräch offenbart zweierlei: zum einen den Umstand, dass jenes von Ben Gurion derart selbstlos geäußerte Verständnis für die ablehnende arabische Haltung nicht ganz redlich gemeint gewesen sein konnte. Sie kam seiner unnachgiebigen, in Israel durchaus umstrittenen Politik entgegen, keinerlei Kompromisse einzugehen und allein auf eine Strategie der Abschreckung zu setzen. Goldmann hingegen galt als eine Persönlichkeit, die eine Übereinkunft mit den arabischen Nachbarn Israels nicht nur für möglich hielt, sondern auch anstrebte.
Zum anderen war das Gespräch in einer Phase höchster Anspannung in der Region geführt worden. Im Herbst mündete sie in den anglo-französisch-israelischen Angriff auf Ägypten - den Suez-Sinai-Krieg. Nahum Goldmann geriet mit seinen Vorhaben zunehmend in die politische Isolation. Ein Treffen mit dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser 1970 hintertrieb die israelische Regierung unter Golda Meir. Seine frühen Bemühungen um eine Anerkennung der Palästinenser wurden in die Nähe des Verrats gerückt. Goldmann verstarb im August 1982 mitten im Libanonkrieg, den er, bereits sterbenskrank, gegeißelt hatte. All das hatte ihm das herrschende Israel nicht verziehen. Wie ein Hund wurde er in Jerusalem begraben.
Über seine zeithistorische Bedeutung hinaus ist das nächtliche Gespräch zwischen Ben Gurion und Goldmann von einer tiefer liegenden Bewandtnis. Es verweist auf die grundlegende Frage nach der Art der Legitimität des jüdischen Staates - von innen wie von außen. Und dies jenseits seiner international verfügten Legitimation, seiner Legalität, die auf den Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen vom November 1947 zurückgeht.
Drei Arten der Legitimität sind der israelischen Existenz eingeschrieben. Zwei von ihnen hatte Ben Gurion in dem nächtlichen Gespräch zitiert: die biblische Legitimation und eine, die aus dem Holocaust hervorgeht. Dem schließt sich eine dritte Art von Legitimität an, die sich zwar kaum zu Wort meldet, indes in der israelischen Lebenswirklichkeit tief verankert ist: das Prinzip der Nativität, der Gebürtigkeit, ein angeborenes Recht - begründet im israelischen Dasein selbst. So verschieden diese drei Arten der Legitimität weltanschaulich wie erfahrungsgeschichtlich auch sein mögen - im realen Dasein treten sie in jeweils unterschiedlich dichter Verschränkung auf. Zudem unterliegen sie von innen wie von außen her angestoßenen politischen Konjunkturen.
Explizit wird die Frage nach der Begründung der Legitimität des Gemeinwesens in Israel nicht geführt. Gleichwohl ist sie immerfort präsent. Sie durchdringt die politischen wie kulturellen Diskurse und vermag in letzter Konsequenz zu Krisen zu führen, die die Stabilität des Staates bedrohen. Dies konnte man während des vergangenen Jahres beobachten, als in Israel, das offenbar nicht zufällig über keine Verfassung verfügt, ein Verfassungskonflikt ausbrach, der sich auf eine existenzbedrohende Staatskrise zubewegte. Wie erinnerlich, hatte die Regierung mit ihrem als "Justizreform" getarnten Staatsumbau implizit die Frage nach den Quellen der Legitimation des Gemeinwesens gestellt. Damit legte sie die Lunte an ein stillgelegtes, in seiner Brisanz lange verdeckt gebliebenes israelisches Schisma - und ermöglichte so die Katastrophe des 7. Oktober.
Die Kontroverse über die dem Gemeinwesen zugrunde liegende Legitimität entsprang den Folgen des militärischen Sieges im Juni-Krieg von 1967 - dem sogenannten Sechstagekrieg. Codiert war sie in der Frage nach dem Schicksal der damals eroberten beziehungsweise unter israelische Herrschaft geratenen Gebiete. Was die Frage der Legitimität eigentlich betraf, ging diese wesentlich vom Westjordanland und dem Gazastreifen aus - Gebiete mithin, die Erez Israel, dem biblischen Lande Israel, zugehörten und dies in der geographischen Gestalt des vormaligen britischen Mandatsgebiets Palästina.
Kaum schwiegen die Waffen, da erklärte der damalige israelische Außenminister Abba Eban: Zu den "Grenzen von Auschwitz" werde es keine Rückkehr geben. Damit meinte er die sogenannte Grüne Linie - die Demarkationslinie der Waffenstillstandsabkommen von 1949, die dem Staat Israel von Osten her eine Tiefe von gerade mal 15 Kilometern gewährte. Und ohne strategische Tiefe - das gab Eban mit dieser Auschwitz evozierenden Aussage zu verstehen - bleibe das Land existenziell gefährdet, eine Gefährdung, die durch den gerade siegreich beendeten Präventivkrieg abgewendet werden konnte.
Abba Ebans Insinuation zu den "Grenzen von Auschwitz" ist nicht ihrer heiklen Wörtlichkeit wegen interessant, sondern wegen des dort deponierten, vom damaligen Außenminister weder gemeinten noch erfassten tieferen Sinnes: nämlich der mit dieser Linie verbundenen Legitimitätsbegründung des Staates Israel. Denn tatsächlich erweist sich die "Grüne Linie", mithin die Waffenstillstandslinie von 1948/49, als von Auschwitz her insofern gedeckt, als die im Gefolge von Weltkrieg und Holocaust (1945/48) realisierte Staatsgründung von der internationalen Staatengemeinschaft in ebendiesen Grenzen Anerkennung fand. Sie galt einer Nation von Überlebenden, Verfolgten und Flüchtlingen, denen aus einer konkreten historischen Lage heraus ein sicherer Hafen in Gestalt eigener Staatlichkeit gewährt wurde. Diese Anschauung entsprach nicht nur der Haltung der damaligen internationalen Gemeinschaft der Staaten, sondern auch wesentlich dem Bewusstsein der damals lebenden Juden.
Der mit dem Juni-Krieg von 1967 militärisch erlangte Zugang nach Ost-Jerusalem, mit der westlichen Tempelmauer im Zentrum, der Westbank des Jordan und dem Gazastreifens, sollte alles zuvor Gültige umstürzen. Die dabei ausgelöste ekstatische Erregung zog ein politisch-theologisch begründetes Begehren nach sich, das sich zunehmend und in Gestalt einer unmittelbaren Besitznahme als Besiedlung der in der Bibel so genannten Landschaften Judäa und Samaria niederschlug. Die damit verbundene Argumentationsfigur der biblischen Legitimation begann das Gemeinwesen sukzessive zu durchdringen und verdrängte zunehmend jene Legitimation, die sich in Gestalt der Grenzen von 1948/49 verfestigt hatte. Zumindest informell wurde die biblische Legitimation hegemonial.
Jene schleichend sich durchsetzende Legitimität wurde durch die Verknüpfung zweier Tendenzen begünstigt. Die eine Tendenz bestand in der unmittelbar nach dem Krieg verkündeten arabischen Ablehnung, Israel anzuerkennen und mit ihm in Verhandlungen zu treten. Die andere Tendenz war die in Schüben erfolgende Besiedlung von Westbank und Gazastreifen, begleitet von jenem biblischen Diskurs, der einen Anspruch auf das ganze Land rechtfertigte. Um diese Legitimation auch in solchen Bevölkerungsgruppen in Israel zu befördern, die biblischen Begründungen ihres Gemeinwesens eher agnostisch gegenüberstanden, bediente sich dieser Diskurs eines formalen, gleichwohl durchschlagenden Arguments. Es hieß, die nach 1967 einsetzende Besiedlung der besetzten Gebiete verstehe sich nicht etwa als Neubeginn, sondern als direkte Fortführung der zionistischen Besiedlung des Landes, die schließlich zur Staatsgründung von 1948 geführt habe. Verbunden wurde jene Argumentationsfigur mit dem dramatischen Hinweis, wer die zur Staatsgründung geführte Landnahme der Vergangenheit gutheiße, könne deren Fortsetzung über die "Grüne Linie" hinaus nicht verwerfen - und dies bei Strafe, dabei auch die Existenz des jüdischen Staates in den Grenzen von 1948/49 infrage zu stellen.
Im Diskurs über die Legitimation des Gemeinwesens wurde der Akt der Besiedlung der besetzten Gebiete mithin zu einer ehernen Figur argumentativer Konsistenz: Wer damals, in der vorstaatlichen Vergangenheit, A gesagt hatte, müsse heute auch B sagen; und wer sich heute B, der Fortsetzung, verweigere, setze A, also auch den Staat in den Grenzen von 1948/49, aufs Spiel.
Obwohl die Siedlerbewegung und ihre Unterstützer in Israel numerisch keine politische Mehrheit auf sich vereinigen konnten, fand das Argument eines biblisch begründeten jüdischen Anspruchs auf das ganze Land durchaus Verbreitung - wenn auch von der Einschränkung begleitet, zwischen Anspruch und Realisierung unterscheiden zu wollen. Damit verfügten die Anhänger einer fortwährenden Besiedlung der besetzten Gebiete argumentativ über den legitimatorisch stärkeren Part und ließen ihren Argumenten relativ ungehindert Taten folgen. Umgekehrt gerieten jene, die bereit waren, das verheißene Land oder Teile davon für eine denkbare Friedensregelung mit den Palästinensern, für einen territorialen Ausgleich aufzugeben, in den Ruch des Verrats - sie begingen gar eine Sünde, ein regelrechtes Sakrileg. So fand sich auch das 1995 verübte tödliche Attentat auf den damals amtierenden Ministerpräsidenten Rabin, dessen Politik des Verzichts beziehungsweise des Ausgleichs mit den Palästinensern im Zeichen eines historischen Kompromisses stand, von nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung, wenn auch im Stillen, gerechtfertigt.
Mit der seit 1967 andauernden Besatzung und fortwährenden Besiedlung der in der Bibel zu Judäa und Samaria gehörigen Westbank verzog sich die innere politische Statik der israelischen Gesellschaft. Dieser veränderten Statik wegen suchte die Politik, genauer: die gegenwärtige parlamentarische Mehrheit, das Verhältnis der Gewalten zueinander in ihrem Sinne zu adjustieren. Dies bedeutete, das Gewicht der Judikative einzuschränken, sie prozedural wie auch durch die Besetzung der Richterschaft den neuen Verhältnissen anzupassen. Grosso modo wären bei einem Erfolg der beabsichtigten Veränderungen stärker menschenrechtlich begründete Entscheidungen des Obersten Gerichts abgeschwächt, gar zurückgenommen worden. Dies wiederum hätte den Anliegen des eher religiösen jüdischen Bevölkerungsteils, darunter vor allem der Siedler, entsprochen. Zum Nachteil ausgeschlagen wäre eine solche Veränderung für den eher säkularen jüdischen Bevölkerungsteil, des Weiteren aber auch für die arabischen Bürger Israels und erst recht für die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Damit wäre die biblische Legitimität nicht nur deklaratorisch, sondern auch institutionell herrschend geworden.
In dem nächtlichen Gespräch zwischen Nahum Goldmann und Ben Gurion erwähnte der damalige Ministerpräsident zwei Arten der Legitimation des Staates Israel: die biblische Verheißung und die Erfahrung des Holocaust. Beide Varianten erachtete Ben Gurion für die arabische Seite im Konflikt als nicht hinnehmbar. Die biblische Variante könne recht eigentlich nur für Juden gelten, so das Argument; die Variante des Holocaust verpflichte vielleicht noch die westliche Welt. Daraus schloss er pessimistisch eine schier endlose Fortzeugung des Konflikts, auf die sich das jüdische Gemeinwesen einzustellen habe. Eine dritte Variante kam ihm dabei nicht in den Sinn: die Variante nämlich, dass die Araber ganz von sich aus den Staat Israel anerkennen könnten, und dies auf der Grundlage von Gebürtigkeit, mithin dem, was Hannah Arendt als Natalität bezeichnet hat und was in Albert Camus' Romantorso "Der erste Mensch" literarisch unvollendet blieb: ein Neuanfang, frei von der Last der Vorgeschichte und mit Blick in eine neue, unbekannte Zukunft. Es wäre von einer unbefragten Existenz eines jüdisch-israelischen Kollektivs im Lande auszugehen, das mit einem natürlichen Recht auf ein eigenes politisches Gemeinwesen ausgestattet ist - und dies auf Grundlage eines territorialen wie institutionellen Ausgleichs mit dem anderen im Lande ansässigen Kollektiv: dem arabisch-palästinensischen.
Dass diese Perspektive angesichts des genozidalen Angriffs der Hamas am 7. Oktober und des andauernden israelischen Gazakrieges mit Tausenden von palästinensischen Opfern nicht gerade wahrscheinlich anmutet, dürfte einsichtig sein. Gleichwohl sind bislang alle praktizierten Manöver der Umgehung einer auf gegenseitiger Anerkennung und deren institutioneller Verankerung beruhenden Lösung gescheitert. Das galt und gilt bis auf Weiteres für die Politik Netanjahus, die alles unternahm, um die Palästinensische Autonomiebehörde als denkbaren Vorläufer einer palästinensischen Autorität beziehungsweise eines Staates neben Israel zu umgehen. Das galt, scheinbar paradox, auch für die gegen die Regierung Netanjahu und ihre "Justizreform" mobilisierende Protestbewegung des letzten Jahres. Auch dort wurde vermieden, auf das eigentliche Problem zu verweisen, das hinter dem von ihr bekämpften Staatsumbau lauerte: die Palästinenser, die Besatzung und Besiedlung ebenjener 1967 an Israel gefallenen und von ihm seither beherrschten Gebiete.
Die Israelis werden verstehen lernen, dass die Palästinenser zum Land gehören und auch nicht vorhaben, sich aus diesem zu verabschieden. Und die Palästinenser werden verstehen lernen, dass die jüdischen Israelis im Lande keine wildfremden Besucher sind, die irgendwann von dannen ziehen werden, sondern durch Gebürtigkeit, durch Natalität nobilitierte Indigene. Oder wie es der gegenwärtige saudische Thronfolger Muhammad Bin Salman bereits vor Jahren in Worte zu fassen wusste: durch ein den jüdischen Israelis zustehendes grundlegendes, sprich natürliches Recht. Keine bloß pragmatische Hinnahme Israels israelischer Machtausübung wegen, keine bloß formelle Anerkennung, um der Welt oder dem Westen zu gefallen, sondern ein Anrecht sui generis auf ein kollektives Da-Sein im Lande - auch und gerade in staatlicher Form.
Letztendlich könnte es sich herausstellen, dass mit der Erlösung der israelischen Geiseln und den Maßnahmen zu einer einvernehmlichen Beendigung des Gazakrieges wie einer Behebung von Not und Elend der dort darbenden Menschen institutionelle Keime einer zukünftigen Entwicklung gesetzt werden könnten, in der palästinensische, arabische, internationale und israelische Instanzen derart zusammenwirken, dass auch dort und daraus ein erwünschter Neubeginn erwachsen könnte. Alles andere hieße, weiter mit dem Sieb Wasser zu schöpfen.
Dan Diner ist Historiker an der Hebräischen Universität zu Jerusalem. Nach "Er ist wieder da" (16. Januar) und "Genesis und Geltung" (23. Januar) ist dies der dritte und letzte Teil seiner Artikelserie zum Thema Israel.
Quelle: Dan Diner, "Israelis und Palästinenser: : Die Bibel hat nicht das letzte Wort", in: F.A.Z., 02.02.2024, Feuilleton (Feuilleton), Seite 11.
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