An einem regnerischen Sonntagabend sitzen etwa 30 Personen auf einer langen Bank in der Redoute in Weimar. Sie sollen die wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen des „Zentrums für Zeitsichtungen“ bei der Rekonstruktion der Geschichten ziviler Zwangsarbeiter:innen aus Weimar unterstützen. Für die Recherchen liegen Artefakte, historische Dokumente, Postkarten, Zeitzeug:innen-Berichte und Briefe der Nachkommen bereit. Doch was wie eine wissenschaftliche Veranstaltung klingt – vielleicht ein Workshop in einer Gedenkstätte oder eine Weiterbildung für Geschichtslehrer:innen – ist in Wahrheit etwas ganz anderes: ein partizipatives Theater-Game. Die Personen auf der Bank sind keine Historiker:innen, sondern Theaterbesucher:innen, die vermeintlichen wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen sind in Wirklichkeit Schauspieler:innen und das „Zentrums für Zeitsichtungen“ ist frei erfunden.
Die Geschichte der zivilen Zwangsarbeit hingegen ist sehr real: Rund 6.000 bis 7.000 Menschen aus ganz Europa mussten während dem Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeit in Weimar leisten – in Rüstungsbetrieben, der Landwirtschaft oder in privaten Haushalten. Obwohl sie eines der sichtbarsten Verbrechen des Nationalsozialismus war, bleibt die Zwangsarbeit bis heute ein vergleichsweise wenig beleuchtetes Kapitel der deutschen Geschichte. Es gelingt dem Theaterkollektiv machina eX auf eindrucksvolle und sorgfältige Weise, dieses bedeutende historische Thema innovativ auf die Bühne zu bringen und so ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.
„Drahtwolken“ von machina eX
Das Theaterkollektiv machina eX entwickelt seit 2010 interaktive Theaterspiele, die klassische Theateraufführungen und Rauminstallationen mit Point-and-Click-Computerspiellogik verbinden und so „immersive spielbare Theaterstücke [kreiert], die zugleich begehbare Computerspiele sind“.[1] Das aktuelle Stück „Drahtwolken“[2] wurde im Auftrag des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar (DNT) entwickelt und im Rahmen der „Themenwoche zur Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald und dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.
In der Konzeptionsphase kooperierte das Theaterkollektiv eng mit dem Museum Zwangsarbeit im Nationalsozialismus.[3] Die Geschichten der drei zur Zwangsarbeit verpflichteten jungen Menschen –Etienne Dubois, Agnieszka Cybulska und Halyna Petriwna Lewchenko – sind zwar fiktional, die Stationen ihres Leidenswegs hätten so oder so ähnlich aber tatsächlich stattfinden können. Machina eX ließ sich von realen Biographien und historischen Quellen inspirieren und ergänzte sie um erfundene Aspekte, um sie so zu fiktiven „Lebenserzählungen“ zu verdichten. Die Besucher:innen erfahren Details über das Leben der drei in Polen, der Ukraine und Frankreich vor der Verschleppung ins Deutsche Reich, erforschen ihre Lebensumstände während des Zwangsarbeitseinsatzes in Weimar und finden heraus, wie es ihnen nach Ende des Krieges ergangen ist.
Hierfür werden die Besucher:innen in Kleingruppen eingeteilt und schlüpfen in die Rolle von Zeithistoriker:innen. Unter Anleitung der Schauspieler:innen recherchieren sie an unterschiedlichen Stationen und in atmosphärisch gestalteten Räumen. Das Sound-Design trägt dabei zur Erzeugung einer unterschwelligen Anspannung bei, während die Rauminstallationen eine immersive Zeitreise an die verschiedenen Orte der Zwangsarbeit ermöglichen. Für ihre Recherchen können die Besucher:innen persönliche Gegenstände anfassen und betrachten, fiktiven Unterhaltungen zuhören und historische Dokumente auswerten. An jeder Station gilt es, versteckte Hinweise zu entdecken, die in ein Tablet eingegeben werden, um zum nächsten Teil der Geschichte zu gelangen. Schicht um Schicht rekonstruieren sie so die Biographien von Halyna, Agnieszka und Etienne.
Die dramaturgische Inszenierung historischen Arbeitens
Die Arbeit von Zeithistoriker:innen wird in „Drahtwolken“ auf zwei miteinander verschränkten Ebenen reflektiert und inszeniert. Zum einen erleben die Besucher:innen unmittelbar, wie immersiv die historische Recherche sein kann, wenn man den Spuren eines individuellen Schicksals folgt. Dabei gelingt machina eX die Gradwanderung zwischen einer gelungenen spielmechanischen Dynamik und der Relevanz des historischen Themas: Der Drang, den nächsten Hinweis zu entdecken, überlagert nie die inhaltliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Gewaltgeschichte. Mit fortschreitendem Spielverlauf tritt die Fiktionalität der Protagonist:innen zunehmend in den Hintergrund – nicht, weil sie als reale Figuren missverstanden werden, sondern weil ihre Geschichten auf historischen Vorbildern basieren und dadurch eine tiefere emotionale Resonanz erzeugen. Gerade diese dramaturgische Verdichtung macht „Drahtwolken“ zu einem immersiven Erfahrungsraum, in dem Spielmechanik und Geschichtsbewusstsein nicht in Konkurrenz treten, sondern sich gegenseitig verstärken.
Zum anderen wird die Reflexion historischer Forschung auch durch die Schauspieler:innen immer wieder angestoßen. In der Rolle einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin des fiktiven „Zentrums für Zeitsichtungen“ schildert eine Schauspielerin, wie sich ihr Blick auf die Stadt Weimar durch die regionalhistorischen Recherchen unwiderruflich verändert hat: Sie habe eine „mentale Stadtkarte“ voller Spuren der NS-Verbrechen entwickelt, die sich über die vertraute Topografie lege. Ein anderer Schauspieler verweist auf das paradoxe Erbe der NS-Bürokratie: Nur aufgrund der entmenschlichenden NS-Verwaltungspraxis wurden jene Spuren überliefert, die heute eine Rekonstruktion individueller Biographien ermöglichen. Doch zugleich drohen diese persönlichen Schicksale hinter der unvorstellbaren Dimension der Verbrechen zu verschwinden.
Indem ‚Drahtwolken‘ diese Facetten der Geschichtswissenschaft auf die Bühne bringt, gelingt es machina eX, die Komplexität historischer Forschung spielerisch erfahrbar zu machen – von der immersiven Dynamik der Recherchearbeit bis hin zu den strukturellen Bedingungen archivalischer Überlieferung. Am Ende bleibt nicht nur ein vertieftes Wissen über die zivile Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, sondern auch die Erkenntnis, dass historische Forschung stets von Lücken und Ungewissheiten geprägt ist. Gerne hätte man noch mehr über Agnieszka, Halyna und Etienne erfahren, deren Lebenswege man in den eineinhalb Stunden des Theaterspiels nachgezeichnet hat – doch die Quellen geben nicht alles preis.
„Drahtwolken“ ist ein außergewöhnliches Theater-Game, das historische Forschung erlebbar macht – für Historiker:innen ebenso wie für ein breiteres Publikum. Konzipiert für Schulkassen und Erwachsene, verbindet es eindrucksvoll die Erforschung der nationalsozialistischen Zwangsarbeit mit innovativen Erzählformen. Nach der Uraufführung am 30. März 2025 im Rahmen der „Themenwoche zur Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald und dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ sind weitere Aufführungen am 3., 4. und 5. Juni geplant.
Uraufführung: 30.03.2025, Redoute, Weimar
Konzept und Game Design: machina eX
Performance: Marcus Horn, Martin Schnippa, Anna Windmüller
Regie: Anton Krause
Text: Clara Ehrenwerth
Interaction Design, Programmierung: Lasse Marburg, Benedikt Kaffai
Dramaturgie: Lena Vöcklinghaus, Carsten Weber
Interface und UX Design: Elisa Haubert
Szenografie: Barbara Lenartz
Kostümbild: Sophie Lichtenberg
Sound Design: Matthias Millhoff
Produktionsleitung: Sina Kießling
Regieassistenz: Christoph Dechamps
Bühnen- und Kostümbildassistenz: Kristin Franke
Hospitanz: Reneé Schüsterl
[1] Siehe „Über machina ex“ (07.04.2025).
[2] Drahtwolken. Ein interaktives Theaterspiel von machina eX (31.03.2025).
[3] Webseite des Museums Zwangsarbeit im Nationalsozialismus (01.04.2025).