Überall in der Welt des Fußballs duellieren sich nicht nur Kicker auf dem grünen Rasen, sondern mit ebensolcher Leidenschaft Fußballanhänger mit Ordnungs- und Sicherheitskräften. Doch in der DDR stand dieser Konflikt unter den Vorzeichen einer Diktatur: Eine im Rahmen der Fußball-EM 2024 eröffnete Ausstellung des Zentrums deutsche Sportgeschichte zeigt die visuelle Geschichte der Kampfzonen rund um das Fußballfeld. Die Berge fotografischen Materials von Volkspolizei und Staatssicherheit zeigen den Alltag der Fans durch die Linsen der Staatmacht – und legen dabei auch die spezifischen Bedrohungsängste der SED-Diktatur frei.
Klandestine Kameraschüsse
Bereits der Winkel, in dem einige Bilder aufgenommen wurden, lässt erahnen, dass hier kein alltäglicher Schnappschuss entstand: Verwackelt, aus exzentrischer Perspektive, zum Teil mit abgeschnittenem Kopf – so kommen hier einige Fußballfans ins Bild. Die ungewöhnliche Sichtachse ist den Umständen der Fotografie geschuldet: denn die Abgebildeten wurden heimlich abgelichtet. Das MfS bediente sich hierbei verschiedener Methoden: so etwa Kameras mit Knopfaufsatz, die unbemerkt an Körper und Kleidung getragen und bedient werden konnten. Nicht nur in Stadien, auch schon im Umfeld, auf Anfahrtswegen und Sammelpunkten in den Innenstädten, wurden die Schlachtenbummler nicht aus dem mechanischen Auge von Polizei und Geheimdienst gelassen.
So war es ein einfacher Aufnäher des VfB Stuttgart, der das Objektiv der Staatsschützer magisch anzog: denn offenkundig trafen sich am Rande des UEFA-Pokalspiels der Stuttgarter bei Dynamo Dresden im Jahr 1979 Anhänger beider Clubs im Stadtzentrum von Dresden und tauschten Fan-Utensilien aus.
"Chemie Leipzig grüßt Rudi Völler"
Weshalb es diese Szene wert war, im Bild festgehalten zu werden? Hintergrund war die scharfe Ideologie der Abgrenzung, die der SED-Staat gegenüber der Bundesrepublik kultivierte. Sie wurde im Alltag ebenso eingefordert wie im Sport. So war der Westen in der DDR-Propaganda als politischer Feind „allgegenwärtig wie der Teufel im mittelalterlichen Weltbild.“[1] Aus Sicht der SED war es deshalb besonders ärgerlich, dass gerade die Generation der „Mauerkinder“, die in der DDR aufgewachsen war und eigentlich kein gesamtdeutsches Bewusstsein mehr hätte haben dürfen, im Fußball häufig eine doppelte Leidenschaft ausprägte: Wer einem DDR-Klub anhing, besaß häufig auch einen Favoriten im Westen: Doch war es die mangelnde Gelegenheit, ihre Idole live zu sehen, die viele DDR-Fans schmerzte. Denn Spiele konnte man nur in Präsenz mitverfolgen, wenn der FC Bayern, der HSV oder die DFB-Elf im Ostblock antraten. Hier kam es dann zu Szenen, die der Stasi die Haare zu Berge stehen ließen. Etwa wenn auf Transparenten verkündet wurde: „Chemnitz grüßte die deutsche Nationalelf und den Kaiser Franz“, wie bei einem Spiel des DFB-Teams im Oktober 1971 in Warschau, zu dem Tausende DDR-Fans angereist waren.[2] Auch abwesenden West-Idolen sollte nicht Respekt gezollt werden: so war bereits ein einfaches Spruchband „Chemie Leipzig Fanclub Möckern grüßt Rudi Völler“, das im Sommer 1983 während eines Punktspiels der Chemiker gegen den FC Hansa Rostock ausgerollt wurde, der Stasi ein Beweisfoto wert.
Auch Logos und Sticker westlicher Mannschaften auf Kutten konnten Anlass sein, einen Fan polizeilich vorzuführen. Sogar die Autogrammjagd begleitete die Stasi, wie beim Achtelfinale im Europapokal der Landesmeister zwischen dem 1. FC Magdeburg und dem FC Bayern München 1974: Nach Ankunft der Bayern eilte ein Fan Sepp Maier hinterher, um eine Signatur zu erhalten. Der Stasifotograf hielt im Laufschritt mit beiden mit, nicht für eine Unterschrift des Fußballstars, sondern für eine kompromittierende Aufnahme seines jugendlichen Verehrers.
"Angriffsobjekt Jugend: bunt, primitiv, gefährlich"
Die Überwachung hatte System. Die Stasi erstellte eine eigene Ausstellung zur Schulung ihrer Mitarbeiter, die unter der Überschrift „Angriffsobjekt Jugend – bunt, primitiv, gefährlich“ zur erfolgreichen „Bearbeitung“ der DDR-Fußballfanszene durch die Sicherheitskräfte anhielt. Hier wurden vor allem „böse“ Objekte gezeigt, die von den Spähern identifiziert werden sollten: Von Fankutten abgetrennte Aufnäher der Bundesligaclubs Hertha BSC, des HSV und des 1. FC Köln. Auch der „Schlachtgesang“ des 1. FC Union, der die Freundschaft zu den Fans von Hertha BSC über die Mauer hinweg feierte, wurde zur Warnung exponiert.[3] Dies geschah auch, weil er zugleich Kritik am Mauerstaat übte: „30 Meter im Quadrat, hohe Mauern Stacheldraht, dann wißt Ihr, wo ich wohne, ich wohne in der Zone …“.
Stadien stellten in den Augen der Staatsmacht Risikobereiche dar, konnte doch in der Weite der Ränge und Traversen nicht jeder diszipliniert werden, der Staatsfeindliches artikulierte. Aus diesem Grund nahmen als Stadion-Reporter getarnte Informelle Mitarbeiter des MfS nicht das Spielgeschehen, sondern die Zuschauer ins Visier. Doch immer häufiger bemerkten die Fans, dass sie im Blickpunkt standen: so zeigen einige wenige Überwachungsbilder, wie die Beobachteten schützend ihre Gesichter mit den Händen verdeckten – oder fröhlich-ironisch in die Kamera winkten.
Randale und Rechtsradikalismus
Mit der repressiven Verfolgung von deutsch-deutschen Fanfreundschaften definierte die DDR ein Verhalten als „abweichend“, das nirgendwo sonst auf der Welt auch nur Anlass zu Stirnrunzeln, geschweige denn politischer oder strafrechtlicher Verfolgung gegeben hätte. Doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass DDR-Stadien von den gleichen Phänomenen heimgesucht wurden, wie sie bundesdeutsche Stadien der 1970er und 1980er Jahren prägten: Rechtsradikalismus und Gewalt. Allerdings wurden, im deutlichen Unterschied zur Bundesrepublik, in der ein öffentlicher und wissenschaftlicher Diskurs hierüber stattfand,[4] derartige Vorkommnisse weitgehend tabuisiert. Denn das Selbstbild der DDR als „antifaschistischer Staat“ drohte hierdurch beschädigt zu werden.[5] Auch in der gewaltbereiten und rechten Subkultur dieser Zeit gab es – das belegen Fotos der Ausstellung – bereits „transnationale“ Kontakte: So zeigt eine Privataufnahme mit Baseballschlägern bewehrte Hooligans des FC Zürich und des BFC-Dynamo-Fanclubs „Die Analen“ in einer Ost-Berliner Privatwohnung. Das MfS gelangte vermutlich durch einen Spitzel im BFC-Fanclub an die Verbrüderungsfotos mit den Schweizern.
"Sportverräter"
Die Ausstellung zeigt noch eine weitere Kategorie ungewöhnlicher „Sportbilder“, die in dieser Form auch nur von der SED-Diktatur hervorgebracht werden konnten. Es sind auf den ersten Blick die langweiligsten Bilder der Welt: ein Eckhaus, eine Autobahnabfahrt, ein Klingelknopf. Doch war dieses Material zeitgenössisch von hoher Brisanz: denn die Fotos dokumentierten den Alltag und die Lebensumstände von „Sportverrätern“ – also von Fußballern, die in den Westen geflüchtet waren.[7] Wie die Aufnahmen belegen, folgte das MfS den Abtrünnigen nicht nur unmittelbar auf dem Fuße, sondern behielt ihren Fahrtweg zur Arbeit und zum Training, ihre neue Freundin und die Lage ihrer Wohnung im Blick. Hintergrund dieser minutiösen Überwachung war die Option, die Seitenwechsler eventuell in die DDR „zurückzuführen“ – oder ihnen anderes anzutun? Einer der Überwachten, den seine Verfolger bereits kurz nach seiner Flucht 1979 fotografisch einfingen, war Lutz Eigendorf.
Der ehemalige Spieler beim BFC-Dynamo, dessen Flucht Stasi-Minister und Dynamo-Sportchef Erich Mielke besonders erzürnt hatte, starb wenige Jahre darauf bei einem ungeklärten Autounfall. Sein Klubkamerad Falko Götz, der 1983 türmte, und andere Geflüchtete blieben scheinbar unbehelligt. Sie entdeckten erst nach dem Mauerfall in ihrer Opfer-Akte beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit (BStU), wie erschreckend nah die Stasi auch ihnen gekommen war, wie eng sich die Schlinge gezogen hatte, wie die Häscher präzise ihre Wohnungsfenster auf Bildern mit dem Farbstift markiert hatten.
Zudem wurden bundesdeutsche Fußballstars beobachtet, wenn sie die DDR bereisten: Darunter der Weltmeistertrainer der Nationalelf von 1974, Helmut Schön. Während seiner Besuche beschattete ihn das MfS regelmäßig, um die Kontakte zu Freunden, Verwandten und Fans festzuhalten. Denn, was heute kaum jemand erinnert: auch Helmut Schön war ein „Sportverräter“, 1950 hatte er sich aus seiner Heimatstadt Dresden abgesetzt, bevor seine steile Karriere im Dienst des bundesdeutschen DFB begann.
Im „Objektiv der Staatsmacht“ zeigt somit eine Visual History ganz eigener Art: Während Bilder randalierender Fans denen bundesdeutscher und europäischer Hooligans ähneln, zeugt die Beobachtung von Kontakten zwischen Fans aus Ost und West und ihre repressive Unterbindung von einem jugendlichen deutsch-deutschen Fußball-Kosmos, der trotz politischer und stacheldrahtbewehrter Demarkation zwischen beiden deutschen Staaten bis zum Ende der DDR existierte. Die Überwachung der „Sportverräter“ illustriert, wie sehr sich das SED-Regime getroffen fühlte, wenn ein Leistungsträger des Sozialismus sich entschied, zum „Klassenfeind“ zu wechseln. Die Umstände des Todes von Eigendorf wurden nie vollständig geklärt, aber das MfS streute selbst unter Fußballern das Gerücht, dass der eigene Geheimdienst dafür verantwortlich sei – zur Abschreckung.
Die Wander-Ausstellung „Im Objektiv der Staatsmacht. Fußballfans im Blick von Volkspolizei und Stasi“ des Zentrums deutsche Sportgeschichte e.V. und der Ausstellungsagentur exhibeo wurde von René Wiese kuratiert und Jutta Braun beraten. Sie entstand in Kooperation mit der Universität Potsdam, dem Landesarchiv Sachsen-Anhalt, dem Deutschen Rundfunkarchiv und Zeitzeugen TV und ist noch bis zum 18. August 2024 am Alten Markt in Potsdam zu sehen. Die Schau wurde gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der DFB-Kulturstiftung.
www.im-objektiv-der-staatsmacht.de
[1] Stefan Wolle: Der Traum vom Westen. Wahrnehmungen der bundesdeutschen Gesellschaft in der DDR, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.): Wege in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR. Göttingen 1999, S. 196 f.
[2] Jutta Braun: Wettkampf der Systeme. Sport im geteilten Deutschland. Berlin 2024, S. 49.
[3] René Wiese: Hertha BSC im Kalten Krieg (1945-1961), in: Jutta Braun/Hans Joachim Teichler (Hg.): Sportstadt Berlin im Kalten Krieg. Prestigekämpfe und Systemwettstreit. Berlin 2006, S. 96-149.
[4] Vgl. etwa Wilhelm Heitmeyer/Jörg-Ingo Peter: Jugendliche Fußballfans. Soziale und politische Orientierungen, Gesellungsformen, Gewalt. München 1988, S. 31ff. sowie Wilhelm Heitmeyer u.a.: Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie. Erste Langzeituntersuchung zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher. Weinheim 1992.
[5] Jutta Braun: Vom Troublemaker zum Integrationsstifter? Fußball und Gewaltprävention in Deutschland vor und nach 1989, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 15 (2018), H. 2, Druckausgabe: S. 302-328.
[6] Christian Bangel: #Baseballschlägerjahre: ein Hashtag und seine Geschichten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 72 (2022) 49-50, S. 4-9.
[7] Jutta Braun/René Wiese: „Tracksuit Traitors“: East German Top Athletes on the Run, in: The International Journal of the History of Sport (2014), Vol. 31, Nr. 12, S. 1519-1534.