von Sarah Mayr

  |  

1. Januar 2015

Sergej Litwin
Die sowjetischen Kriegsgefangenen erhielten niemals und von niemandem Hilfe
...

 

Sergej Litwin. Foto: Sarah Mayr. All rights reserved.

 

Am Bahnhof Bremervörde wurden wir ausgeladen. Vom Bahnhof trieb man die Gefangenen zu Fuß zum Lager X B Sandbostel. Auf den Feldern zu beiden Seiten des Weges lagerten Rüben, die noch nicht abtransportiert worden waren. Wenn jemand von den Gefangenen aus der Kolonne ausscherte, um eine der Rüben zu schnappen, wieder in die Kolonne zurückkehrte und sich dabei nicht beeilte, trafen ihn die Kugeln der Bewacher. Von Zeit zu Zeit hörte man vom Ende der Kolonne her einzelne Schüsse. Dort erschossen die Wachleute diejenigen, die am Ende ihrer Kräfte waren und nicht mehr weitergehen konnten.
Nach der Ankunft im Lager wurden die Gefangenen im Waschraum gründlich gereinigt. Alle wurden mit einer Personalkarte registriert. Jeder erhielt eine metallene Nummer, die der Ausweis des Kriegsgefangenen war. Dies war das wichtigste Dokument jedes Kriegsgefangenen. Meine Nummer im Lager X B war 114013.
Die Kriegsgefangenen im Lager waren in zwei Hauptkategorien unterteilt: in die der Kriegsgefangenen westlicher Länder und die der östlichen. Zur Kategorie der östlichen wurden alle sowjetischen Kriegsgefangenen gezählt, zu den westlichen – alle anderen.
Alle westlichen Kriegsgefangenen erhielten regelmäßig Lebensmittel vom Internationalen Roten Kreuz.
Die sowjetischen Kriegsgefangenen erhielten niemals und von niemandem Hilfe. Die Deutschen bewachten sie mit besonderer Härte, und zur schnelleren Erkennung waren auf die Rücken der Mäntel groß mit weißer Farbe die Buchstaben „SU“ aufgemalt.
Ich arbeitete im Lager als Schreiber bei der Registrierung derjenigen sowjetischen Kriegsgefangenen, die vom Lager X B in andere Arbeitslager gebracht wurden. Wir mussten Listen über diejenigen Gefangenen führen, die zur Arbeit eingeteilt wurden. Normalerweise wurden die Gefangenen zwei Tage nach ihrer Ankunft zur Arbeit eingeteilt. Sie mussten sich aufstellen, wurden anhand der Listen überprüft und von bewaffneten Deutschen aus dem Lager geführt. Vor dem Verlassen des Lagers mussten die Gefangenen in eine Baracke gehen, wo sie die notwendigste Bekleidung erhielten. In dieser Baracke arbeiteten Franzosen. Die Ausgabe wurde in die Bekleidungskarte eingetragen. Die Schreiber sammelten die Karten ein und brachten sie ins Büro. Mit der Zeit entwickelte sich zwischen den Schreibern und den Franzosen ein gutes Verhältnis, und die Franzosen gaben den Schreibern häufig zusätzliche Bekleidung, vor allem Unterwäsche.

Die als Hilfswachleute eingesetzten sowjetischen Kriegsgefangenen konnten abends, wenn die Deutschen das Lager verließen, auf die Lagerstraße gehen. Dort zogen sie sich serbische oder französische Mäntel an und konnten so in den serbischen oder den französischen Lagerteil gelangen. Sie gingen vor allem dorthin, um Tauschhandel zu treiben. Von uns bekamen sie Kleidung oder Schuhe, und wir bekamen Lebensmittel.
Auf diesem Wege erhielten wir auch einige Nachrichten über den Kriegsverlauf. Gute Beziehungen gab es zwischen den sowjetischen Kriegsgefangenen und den Franzosen – vor allem, wenn es Gefolgsleute von General de Gaulle waren – und den Serben. Zu den Polen gab es nur geschäftsmäßige Beziehungen durch den Stacheldraht hindurch.

 

„Das bin ich ich dort, der in der Mitte. Links und rechts steht jeweils ein Kamerad....“ - Sergej Litwin. Foto: privat. All rights reserved.

 

Jeden Tag starben viele sowjetische Kriegsgefangene, vor allem an Entkräftung. Zum Lager gehörte ein Lazarett für Kriegsgefangene. Aber sowjetische Gefangene wurden zu Beginn des Krieges nicht in diesem Lazarett behandelt. Für sie gab es ein „Revier“, das aus den Baracken 60, 36 und 38 gebildet wurde. Das Revier diente hauptsächlich der Isolierung der Kranken. Die Baracken waren mit Stacheldraht umgeben, und es gab ein Tor als Ein- und Ausgang. Am Tor stand ein bewaffneter Posten. In diesen Baracken arbeiteten sowjetische, aber auch deutsche Sanitäter. Die Kriegsgefangenen fürchteten sich sehr vor dem „Revier“. Sie wussten, dass es von dort nur einen Weg hinaus gab: zum Friedhof.
Die nackten toten Kriegsgefangenen wurden auf einem Wagen zum Friedhof gefahren. Der Wagen wurde nicht nur von Pferden, sondern von Gefangenen gezogen. Das Begräbniskommando warf die Leichen auf den Wagen und warf sie ebenso in lange Gräben auf den Friedhof, der sich in einiger Entfernung vom Lager befand. Die Leichen lagen dort, wie man sie hineingeworfen hatte, in mehreren Schichten übereinander.

 

Aus dem Archiv der Gedenkstätte Sandbostel