von Sarah Mayr

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1. Januar 2015

Roger Cottyn

Man soll sich an die Sachen erinnern, damit sie nicht wieder passieren...

 

Roger Cottyn. Foto: Sarah Mayr. All rights reserved.

 

Ich wurde am 25. April 1920 in Laeken, Belgien geboren.
In meiner Jugend hatte ich viel mit Musik zu tun, ich spielte Geige und Blasinstrumente. Als ich sechzehn war und aus der Schule kam, musste ich sehen, dass ich irgendwo arbeiten konnte.
In den 1930er Jahren, zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise, war es schwierig Arbeit zu bekommen. Ich hätte in den Kohlengruben arbeiten müssen, aber als sechzehnjähriger Junge hatte ich keine Lust dazu. Das Einzige, was übrig blieb, war Soldat zu werden. Mit siebzehn Jahren bin ich dann Soldat geworden und habe mich 1937 für vier Jahre freiwillig gemeldet.

 

Roger Cottyn (Unteroffiziersanwärter 1938). Foto: privat. All rights reserved.

 

Traumberuf kann man dazu nicht sagen, es war eben mein Beruf. Ich habe das nicht als etwas Fremdes angesehen oder als etwas Schlechtes. Ich habe diesen Beruf achtunddreißig Jahre lang ausgeführt. Am 10. Mai 1940 war ich an der belgisch-holländischen Grenze. Morgens griffen die Deutschen an. Wir hatten bereits am Morgen Kontakt mit den deutschen Truppen, das heißt wir wurden schon, bevor wir die deutsche Infanterie gesehen hatten, von deutschen Flugzeugen bombardiert. Man kann sagen, ich habe den ersten und den zweiten Tag der Kampfhandlungen mitgemacht.

 

Wo wurden Sie festgenommen?

In Westflandern, mit den Füßen fast im Wasser an der Nordsee. Da, wo der erste Weltkrieg war, dieser Flandern-Krieg, da waren wir dann auch 1940.
Die belgische Armee kapitulierte, und wir waren automatisch alle Kriegsgefangene. Ich kam in die Nähe von Antwerpen als Kriegsgefangener. Zehn Tage später sind wir dort in Züge verladen worden, und am nächsten Tag kamen wir in Dortmund in der Westfalenhalle an. Die Gruppe, mit der ich im Zug war, die von Dortmund nach Bremervörde gefahren ist, das war eine Gruppe von 800 Mann. Da war Militär aller möglichen Waffengattungen. Auch viele von meinem Regiment waren im Zug.

 

Wie war der Transport, wie wurden Sie verpflegt?

Als wir von Belgien nach Dortmund fuhren, hielt der Zug einmal irgendwo, und alle, die konnten, stiegen aus. Wir wussten nicht, wo wir waren, ob in Holland oder in Belgien. Da arbeiteten Zivilisten auf einem Feld, und dann haben wir gerufen: „Wo sind wir hier?“ und die haben gesagt: „In Deutschland! Ihr seid in Deutschland!“ Als die Wachleute das merkten, sagten sie gleich: „Weg hier!“ Da war dann Schluss.
Wir bekamen in Dortmund ein Stückchen Brot. Ein Glück, dass wir noch was aus Belgien mit hatten. Solange wir in Belgien in der Kaserne waren, wurden wir durch belgische Soldaten verpflegt. Dort gab es noch Essen. Aber in Dortmund kriegte man nur ein wenig Essen, so eine Art Kartoffelbrei. Aber die Kartoffeln wurden mit Sand und allem Dreck gekocht. Auch Heu wurde dort mit verkocht, da es nicht genug gab.
Man war nichts mehr, man war wirklich nichts. Mit sechzig Mann in einem Viehwaggon, das müssen Sie sich mal vorstellen, wo kein Fenster drin war, wo wir nur stehen konnten, von einem Nachmittag bis zum nächsten, eingeschlossen. Wir standen da und wurden durcheinander geschüttelt. Die Meisten haben im Stehen geschlafen. Einige konnten sich doch noch hinsetzen, aber Liegen war unmöglich. Einige hatten Wasser, aber das war schnell alle.

 

Wie hat die Wehrmacht Sie behandelt?

Am Anfang haben wir von der Wehrmacht nicht viel gesehen, nur ein paar Wachmänner mit Gewehren. Als wir mit dem Zug in Bremervörde ankamen, waren dort mehr Soldaten, die uns begleiteten, von Bremervörde nach Sandbostel.
Im Lager von Sandbostel verrichteten wir am Anfang zunächst nur Innendienst: Kartoffeln schälen, die Baracke putzen. Wir waren dort und warteten. Dann wurden wir in Gruppen geteilt, sie wurden Kommandos genannt. Nach zehn Tagen in Sandbostel haben wir wirklich richtig gehungert. Mittags sollte jeder einen Liter Suppe bekommen, das hieß ein Eimer für zehn Mann. Abends gab es Tee, doch war das ein Gebräu. Man musste etwas haben, wo man das rein tun konnte. Da waren welche, die hatten überhaupt kein Essgeschirr dabei. Ich persönlich hatte meinen Brotsack und mein Essgeschirr, welch ein Glück. Aber da waren andere, die hatten nichts dabei, zum Beispiel mein Kamerad Aurel Windey.
Das sind viele gewesen. Ein Essgeschirr war in Sandbostel überlebensnotwendig - ohne musste man die Suppe nur mit den Händen essen.
Für eine Woche sollte es 80 Gramm Fleisch geben, aber ich habe nie Fleisch gesehen. Es gab 1645 Gramm Kartoffeln, dann gab es auch Käseersatz und Wurstersatz, 50 Gramm pro Woche. Man hatte wirklich Hunger. Uns wurde natürlich alles abgenommen, was wir privat hatten. Wir durften nur einen Brief behalten und ein Foto. Unser Geld wurde uns abgenommen, alles. Wir hatten nichts mehr, nur unsere Kleidung.

Als wir dort ankamen, waren unsere Leute in zwei oder drei Baracken. Es gab noch nicht so viele Baracken wie später. Zu Beginn waren es noch Zelte, da waren Franzosen drin.
In Sandbostel war das so: Die Leute, sagen wir 800 Mann, kamen rein, wurden registriert, kamen in eine Entlausungsanstalt, d.h. unter die Dusche. Ein Arzt oder Pfleger guckte sie an. Dann wurden sie in Arbeitskommandos eingeteilt.

 

Roger Cottyns Gefangenenmarke. Foto: Sarah Mayr. All rights reserved.

 

Wo war Ihr erstes Arbeitskommando?

Meine erste Arbeitsstelle war in Hassöl beim Bürgermeister. Dort war es nicht schön. Er hat mich nach zweieinhalb Tagen rausgeworfen und wollte mich ins Straflager bringen, aber der Wachmann nahm mich mit, nach Worth bei Hastedt. Dort war ich elf Tage lang, bei Bauer Schumacher, es war sehr gut dort. Ich meine, der Mann redete mit uns.
Danach war ich bei einem anderen Bauern und dann kam ich schon zu meinem viertem Bauern, Bauer Rasch in Hemsbünde. Wir haben da ganz normal gearbeitet, und ich habe viel gelernt. Das Essen war sehr gut, und die Leute waren freundlich zu uns. Da war nichts mit „Gefangener hier“ oder „Gefangener da“. Die waren wirklich sehr menschlich. Ich kam dort am 24. Dezember 1940 an und arbeitete mit Serben. Eines Tages kam der Wachmann rein und sagte: „Die Serben können nach Hause schreiben, aber es muss auf Deutsch sein und in lateinischer Schrift!“ Dann sagte ich zum Wachmann: „Aber die Serben, die können kein Deutsch. Die können höchstens Brot, Hunger und Arbeit sagen.“ Und er sagte: „Du bist der Dolmetscher, du musst das machen“ - weil ich schon Dolmetscher für die Franzosen und die Belgier war. Ich hab so eine Karte genommen und zu einem Serben, der mit mir zusammen arbeitete, gesagt: „Frau?“ und den Ringfinger gezeigt. Und der hat gesagt „Da da!“ Es hieß Ja. Und dann habe ich geschrieben: „Liebe Frau.“ Kurze Sätze wie: „Es geht mir gut. Wir haben gut zu essen. Ich arbeite beim Bauern.“ Und damit war die Karte voll.
Das habe ich, ich weiß nicht mehr, wie viele Male, für alle Serben, die da waren, gemacht. Ungefähr einen Monat später kamen die Doppelseiten von den Karten. Die eine Hälfte durften wir schreiben, die andere Hälfte war für die Verwandten. Da mussten wir unsere Adresse drauf setzen, und die waren auch auf Deutsch geschrieben. Man wunderte sich, wer das gemacht hatte. Das zu übersetzen war noch viel schwieriger. Die Serben waren wirklich froh darüber, dass jemand für sie übersetzte. Das waren für mich die schönsten Augenblicke meiner ganzen Kriegsgefangenschaft - zu sehen, wie die Menschen sich gefreut haben, dass sie etwas von zu Hause empfangen hatten. Das war wirklich etwas! So etwas kannte ich nicht.

 

Als Arbeitskommando hatten Sie ein Haus, in dem sie alle geschlafen haben, aber sind dann zum Arbeiten auf verschiedene Höfe gegangen?

Ja, wir schliefen in Hastedt. Da war auch das Büro von den Wachleuten, und jeden Morgen gingen wir von Hastedt nach Hemsbünde und abends wieder zurück. Wir hatten unser Kommando, da schliefen wir. Außer Sonntagnachmittags waren wir jeden Tag bei den Bauern. In Hastedt, da waren immer Wachleute. Bei den Bauern nicht. Die Bauern waren dafür verantwortlich, dass wir nicht wegliefen. Aber wo sollten wir hin? Wir wussten doch nicht mal, wo wir waren. Normalerweise hätte uns immer jemand im Auge behalten müssen, aber wegen unserer Militärmützen und Uniformen wussten sowieso alle, dass wir Kriegsgefangene waren.

 

Arbeitskommando Hastedt, Roger Cottyn erster, untere Reihe rechts. Foto: privat. All rights reserved.

 

Bekamen Sie das gleiche Essen wie die Bauernfamilie?

Ja, das habe ich überall bekommen. Nur nicht bei dem Bürgermeister. Da nicht, da aßen wir in einer Waschküche. Bei den anderen Bauern saßen wir mit in der Küche, aber nicht am selben Tisch. Das durften wir nicht. Wir, fünf Belgier aus Hemsbünde, kamen am 19. Juni 1942 nach Nartum. Der Bauer, zu dem ich kam, hatte einen schönen und großen Hof. Dann kam der erste russische Kriegsgefangene zu uns. Die Russen wohnten nicht mit uns zusammen in unserem Kommando. Die hatten eine Unterkunft irgendwo anders auf einem anderen Hof, und das waren frühere Schweineställe, die nicht mehr gut genug für die Schweine gewesen waren. Aber für die Russen waren sie noch gut genug, um da zu schlafen.
In diesem Dorf, Nartum, war ein Beobachtungsposten, man nannte ihn den Bunker. Das war auch wirklich ein Bunker in der Erde und daraus wurden die Flugzeuge beobachtet, die da vorbeiflogen. Dieses Dorf liegt nicht weit von der Autobahn Hamburg-Bremen. Ich habe direkt auf den Feldern an der Autobahn gearbeitet.

In Nartum ging es uns gut. Unsere Wachleute sah man nur abends und morgens. Und am 20. Februar 1943 kam ich nach Sandbostel, weil ich, wie der Arzt in Zeven sagte, „einen Nabelbruch“ hatte. Das ist beim Kartoffelnabladen vom Bauernwagen in einen Eisenbahnwagen passiert. Man musste das immer so weit wie möglich schmeißen. Ja, ich habe da wirklich Schmerzen gehabt. Ich habe weiter abgeladen, bis die zwei Wagen leer waren, und bin nach Hause gekommen und habe zum Wachmann gesagt: „Ich habe hier Schmerzen.“ „Morgen zum Arzt!“ Dann sind wir nach Zeven zum Arzt gefahren, und der hat gesagt: „Zum Krankenrevier nach Sandbostel.“ Das war kein Krankenhaus, aber ein Krankenrevier, so nannte man das. Dann brachten sie mich ins Stalag X B in Sandbostel.

 

Wie oft durften Sie nach Hause schreiben?

Da gab es auch wieder einen Unterschied. Im Rang von Soldat und Gefreiter durften sie, glaube ich, einen Brief pro Monat und zwei Karten nach Hause schreiben. Die im Unteroffiziersrang durften zwei Briefe schreiben und zwei Karten. Diese Briefe haben wir immer regelmäßig geschrieben, und es ist auch regelmäßig Antwort gekommen. Ich habe mich gewundert, dass immer meine Mutter geschrieben hat. Und dann ist es heraus gekommen: Auch mein Vater war in Kriegsgefangenschaft. Natürlich wurden die Briefe zensiert.

 

Wie war das mit der Zensur der Briefe?

Mittags haben sie uns gesagt, wir müssten unsere Sachen alle in eine Decke nehmen und nach draußen bringen. Es kam ein deutscher Soldat, und wir mussten alles vorzeigen. Ich hatte irgendwo den Namen Cottyn stehen, und er sagte er zu mir: „Ich kenne Sie!“ Und ich sagte zu ihm: „Ich kenne Sie nicht. Woher kennen Sie mich?“ und dann sagte er: „Ich lese all Ihre Briefe.“ Ich sagte: „Na ja, ist das schlimm?“ Woraufhin er sagte: „Nee, Sie sind sehr vorsichtig.“ Damit hatte ich den Mann gesehen, der jahrelang meine Briefe gelesen hat.

 

Wussten Sie, dass die Briefe gelesen wurden und haben Sie deshalb vorsichtig formuliert?

Ich habe nie etwas über Politik geschrieben oder über die Bombardierung von Hamburg oder Bremen oder Rotenburg. Ich habe auch nie geschrieben, dass es in Nartum einen Bunker gab. Ich habe über meine Gesundheit und ein bisschen über die Arbeit geschrieben. Aber es gab Leute, die dumme Sachen geschrieben haben und dafür ins Kittchen gekommen sind.
Bei dieser Durchsuchung fragte ich den deutschen Soldaten: „Was wird hier eigentlich gesucht?“ Er antwortete: „Nicht weitersagen, aber jemand muss hier ein Radio haben, weil da Dinge im Lager erzählt werden, die ihr eigentlich nicht wissen dürftet.“ Natürlich haben sie kein Radio bei uns gefunden. Im Lager wusste man vieles, da wurde viel erzählt. Auf allen Dienststellen waren auch Gefangene - die konnten nicht alleine mit Deutschen arbeiten - und Dolmetscher und ich weiß nicht was alles. Da gab es wirklich einen Mann, einen Franzosen, der die Zimmer der deutschen Soldaten gereinigt hat. Da stand ein Radio, und der hat daran gedreht, bis er Luxemburg, das heißt BBC, bekam und hat gehört, dass die Amerikaner in Sizilien gelandet waren. Das wusste er schon, aber die Deutschen wussten das noch nicht. Aber blöderweise muss er das einem anderen erzählt haben, der das dann weitererzählt hat. Und das ging dann zu einem Wachmann. Da waren immer welche, die mit den Wachleuten quatschten. Immer! Nachher kam raus, dass es ein Radio war, das in einem deutschen Zimmer bei deutschen Soldaten stand.

Ich bin dann zu dem deutschen Chef gegangen, und der hat gesagt: „Ja, was haben Sie früher schon gemacht? Möchten Sie hier bei uns arbeiten? Das ist nicht schlimm hier bei uns.“ Der war so wie ein Vater, so ungefähr, eine Vaterfigur. Der hat mich gleich angenommen und gesagt: „Morgen können Sie anfangen.“ Ich hatte Glück und bekam Arbeit in den Lagerwerkstätten.

 

Roger Cottyn vor derLagerwerkstatt Stalag X B 1943. Foto: privat. All rights reserved.

 

Was wurde in diesen Werkstätten hergestellt?

In diesen Werkstätten gab es Schneider, Schuster und Trenner, die die Lumpen, die reinkamen, auftrennten. Daraus wurden neue Hosen für den ganzen Wehrkreis 10 gemacht und repariert. Jeden Morgen kam ein Kommando Russen, zehn Mann, immer dieselben, mit einem Wachmann. Dann waren noch zwei Serben da, die alleine gearbeitet haben. Ich hatte die Aufsicht und musste nicht mit den Händen arbeiten. Ich konnte mich ein bisschen mit den Serben unterhalten und mit den Russen ging das auch schon. Das waren meistens starke junge Leute, die Russen, die waren auch sauber angezogen und hatten das Glück, gesund zu sein. Bei den Russen waren auch zwei Ältere dabei, sie waren älter als ich. Einmal, als wir so alleine waren, sagte der eine: „Ja“, das heißt: „ich“, er sagte: „Ja, Pope“.
Dann machte er sein Hemd auf, er trug ein großes Kreuz. Wie er das reingeschmuggelt hatte, weiß ich nicht. Da sah ich, dass es in Russland auch Religion gab. Was hatten wir für eine Vorstellung von Russland? Das waren Kommunisten, und nicht die besten Freunde meiner Lehrer damals. Im Sommer war es schön, wir saßen draußen. Wir waren in einem Areal mit extra Stacheldraht. Da konnte kein anderer rein, dort war es ganz ruhig. Da war nur eine Wache, ein deutscher Soldat. Ich spielte auch Musik im Lager, weil ich eine Geige hatte. Die Geige hatte ich schon in Hemsbünde gekauft. Der Schwager des Bauern hatte sie mir aus Bremen besorgt. Natürlich nicht umsonst.

 

Spielen Sie heute noch Geige?

Nein. Eine Enkelin von mir gibt Musikunterricht mit dieser Geige aus Deutschland.

 

Wie konnten Sie diese Geige bezahlen, Sie bekamen doch kein Geld?

Wir bekamen Pakete von zu Hause. Nicht viel, aber ich glaube alle zwei oder drei Monate ein Paket. Außerdem bekamen wir vom Internationalen Roten Kreuz Pakete aus Amerika. Jeden Monat einige Päckchen Zigaretten. Ich rauchte sehr wenig und hatte immer Zigaretten in Reserve. Wir bekamen auch einen Sold. Das hieß 80 Pfennig pro Tag im Sommer und 60 Pfennig pro Tag im Winter. Das konnte man sparen, weil man nichts kaufen konnte. Dadurch hatte ich in Hemsbünde schon einige Mark zusammen. Das waren „Lagermark“, so hieß das, das war extra Geld. Dieser Schwager von meinem Bauern, der bekam einen Teil Zigaretten und einen Teil „Lagermark“ für die Geige. Er war Händler in Bremen.

 

Wer hat den Sold für Sie bezahlt?

Die Bauern mussten eine feste Summe für uns an das Büro von diesem Leutnant bezahlen, an das Büro von der deutschen Wehrmacht, in Rotenburg. Da wurde das Geld dann umgetauscht, weil die Bauern natürlich keine „Lagermark“ hatten. Die hatten richtige Rentenmark. Die Bauern bezahlten für uns jeden Monat eine Summe. Aber das war mehr als das, was wir bekamen. Da blieb ein Teil bei der Wehrmacht hängen. Der Sonntag wurde nicht bezahlt.

 

Mit diesem Lagergeld konnten Sie nur im Lager etwas kaufen?

Mit diesem Lagergeld konnten wir in Rotenburg in einem Geschäft Rasierseife, Zahnpasta, Rasierklingen und solche Sachen kaufen. Oder eine Mundharmonika. Natürlich keine Lebensmittel, aber die brauchten wir bei den Bauern nicht. Ich habe es nicht gebraucht. Als ich in den Werkstätten arbeitete, konnte ich auch in einem Orchester mitspielen. Ich hatte jede Woche mittwochnachmittags frei und konnte mit anderen Gefangenen, Franzosen, Serben und Belgiern, zusammen Musik spielen. Wir haben auch Konzerte gegeben.
Was aber sehr schlimm war im Lager, war das Ungeziefer. Um zehn Uhr ging das Licht aus, und wir konnten es nicht wieder anmachen. Dann fielen die Wanzen auf einen. Aber massenweise. Man fühlte das, mit der Decke über den Kopf gezogen, so dass man sie nicht ins Gesicht bekam. Dann haben sie mal die Baracken desinfiziert. Mit Gas. Da mussten wir in eine andere Baracke und nochmals zur Entlausung. Dann konnten wir später wieder in unsere eigene Baracke zurück. Ein paar Tage später waren zwar keine Wanzen mehr da, aber Flöhe.

 

Wie viele Menschen waren in so einer Baracke?

Wie viele? Das kann ich wirklich nicht sagen. Aber es war eine Masse. Die Baracke war groß und in drei Teile geteilt. Dann kam in der Mitte das Waschabteil. Das waren so runde Becken mit vielen Kränchen, wo sehr sparsam Wasser raus kam. Wenn man Seife hatte, konnte man sich auch einseifen. Und das war es. Dann kam wieder so ein Abteil. Und jede Barackenhälfte wurde noch in Abteile und einen Mittelgang geteilt. Und da war dann das Abteil mit den Pritschen, man konnte mit Dreien übereinander liegen. Da war nichts dazwischen, das waren nur Bretter. Anderes hatten wir nicht, kein Stroh. Nur Holz, da lagen wir drauf, und man hatte eine dünne Decke und unseren Mantel zum Zudecken, oder den rollten wir zusammen, um ihn unter den Kopf zu legen. Und wir lagen zu fünft nebeneinander. Das waren dreißig in einem Kompartiment. Dann kam die Abteilung, wo die Tische standen - zwei Tische und ein paar Bänke, auf denen man sitzen konnte. Da waren, glaube ich, fünf oder sechs solcher Kompartimente in einer Hälfte von so einer Baracke. Die Baracke, in der wir wohnten, war ganz hinten. Sie war ziemlich groß, ungefähr 300 Menschen waren da drin. Was jetzt noch vom Lager da ist, das ist nur noch der vordere Teil.

Einmal gab es eine Typhusepidemie in Sandbostel, und es starben sehr viele Russen. Die Toten wurden jeden Tag mit einem Karren durch das Lager gefahren. Sie lagen nackt auf diesem Wagen, quer durcheinander. Der Wagen wurde von russischen Soldaten gezogen. Am Anfang war ein deutscher Soldat als Begleiter dabei. Nach einer kurzen Zeit waren es ukrainische Gefangene, die zu der Lagerpolizei gehörten. Die waren wirklich noch schlimmer als die deutschen Soldaten. Die haben die armen Russen, die diese Wagen ziehen mussten, geschlagen und malträtiert. Die Wagen sind weitergefahren bis zum Friedhof und dort wurden die Toten dann in Massengräbern beerdigt. Wegen dieser traurigen Sache, die ich tagein tagaus gesehen habe, habe ich daran gedacht, aus Stalag X B wegzukommen. Das war natürlich nicht so einfach. Ich konnte natürlich nicht da zum Kommandanten gehen und sagen: „Ich will wieder nach Nartum!“ Ich habe mit meinem Chef gesprochen, und der sagte: „Ich werde sehen, was ich machen kann.“ Und der Lagermeister ist zum Arzt gegangen und hat es wahrscheinlich dem Arzt erklärt. Von dem bekam er ein Attest, dass ich magenkrank sei. So kam ich im Februar `44 wieder nach Nartum.                                            

Roger Cottyn Arbeitskommando Nartum Weihnachten 1944. Foto: privat. All rights reserved.

 

Was empfinden Sie heute, wenn Sie über Ihre Zeit als Kriegsgefangener nachdenken?

Darauf kann ich nur eine Antwort geben. Die beste Therapie, um die gespeicherten Erlebnisse zu verarbeiten, ist, diese aufzuschreiben. Was haben die verlorenen Jahre mir genommen oder gebracht? Die Periode hat mir ohne Zweifel meine Jugend genommen, ganz brutal und ohne Übergang. Von zwanzig bis fünfundzwanzig. Ich war gerade zwanzig geworden, als ich in Gefangenschaft kam, und ich war gerade fünfundzwanzig geworden, als ich befreit wurde, wie man so schön sagt. Auf der anderen Seite habe ich in dieser Zeit auch viel gelernt. Durch das Zusammenleben mit Menschen aus fremden Ländern, mit anderen Sprachen, anderen Religionen und anderen Gebräuchen habe ich über das Fremde eine ganz neue Sichtweise erhalten. Dabei bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass für die anderen auch ich ein Fremder war. Die physischen Schmerzen waren oft sehr quälend. Aber der psychische Druck der Unfreiheit war meistens noch schwerer zu ertragen.

Vergessen kann man das alles nicht. Aber nach so langer Zeit ist vieles verblasst. Und das ist auch gut so. Mit Respekt denke ich an die Menschen zurück, die sich unter schwierigen Umständen für die Gefangenen einsetzten. Die Menschlichkeit bewiesen und die sich nicht durch Parolen wie: „Schluss mit der Humanitätsduselei“ oder „Feind bleibt Feind“ beeinflussen ließen.

 

Bekamen Sie jemals von den beteiligten Bauern oder vom deutschen Staat eine finanzielle Entschädigung, eine Rentenanrechnung oder irgendetwas Vergleichbares?

Ja, ich bekomme jetzt noch eine Kriegsgefangenenrente. Das war am Anfang eine Menge Geld, aber jetzt nicht mehr. Für sechzig Monate, das ist doch eine lange Zeit.

 

Finden Sie diese Rente, diese Entschädigung angemessen?

Das ist zumindest etwas. Es ist gut, wenn man alle drei Monate etwas bekommt. Damit kann ich etwas außer der Reihe kaufen, vielleicht einen neuen Rasierapparat oder so etwas. Aber es ist nicht viel. Nein.

 

Sind Sie irgendwann wieder nach Deutschland zurückgekommen?

Mein früheres Regiment wurde 1945 wieder zusammengestellt, und ich meldete mich freiwillig. 1946 sind wir mit dem Regiment von Lüttich nach Arnsberg in Westfalen gekommen, dann war ich Besatzungssoldat. In der Kriegsgefangenschaft durfte ich keinen Kontakt zu deutschen Frauen haben, und als Soldat durfte ich schon wieder keinen Kontakt zu deutschen Frauen haben. Ich hatte dann doch Kontakt... und meine Frau kennengelernt.

 

Sie sprechen als Zeitzeuge vor Schulklassen, in Sandbostel bei der Gedenkfeier. Wie lange machen Sie das schon? Warum liegt Ihnen das so sehr am Herzen?

Ich mache das, damit junge Menschen - vielen Alten geht das nicht in den Kopf rein - nicht nur immer in einem Käfig sitzen und nur von einer Seite etwas hören. Damit sie auch mal etwas von der anderen Seite hören. Was ich dann erzähle, ist nicht immer schön. Ich bin noch sehr vorsichtig, was ich sage. Ich tue es, damit junge Menschen einen Begriff davon bekommen, was Kriegsgefangenschaft ist, was Kriegsgefangene mitmachen müssen und dass sie das in ihrem Land mitgemacht haben. Ich geh gerne in die Schulen, weil da die Kinder noch aufpassen und nicht so schnell vergessen.
Warum redet man immer von früher. Warum reden wir Alten hier immer von früher, das ist schon lange vorbei. Gestern ist schon vorbei. Heute Abend ist der Tag schon vorbei. Man kann nicht zurück. Man soll sich an die Sachen erinnern, damit sie nicht wieder passieren. Als die Tschechoslowakei annektiert wurde, hat niemand etwas gemacht. Die Engländer haben gesagt: „Nein, nein, wir wollen keinen Krieg.“ Chamberlain. Aber in Deutschland war dann jemand an eine Macht gekommen, die es noch nie gegeben hatte. Der kriegte alles in den Schoß geworfen. Und alle Länder, die drumherum waren, haben gesagt: „Ruhe, Ruhe, Ruhe. Der wird eines Tages auch sterben. Lass man.“ Aber "lass mal" war nicht so schön. Der Mann wollte immer mehr haben und er hatte fixe Ideen, die nicht sehr menschlich waren. Und so ist dann Polen überfallen worden. Und das Schönste war an dieser ganzen Geschichte, dass dann Russland, der Untermensch, Bundesgenosse von Deutschland wurde. Und die haben dann den Kuchen, Polen, durch zwei geteilt. Und der Russe Stalin, der hat wirklich geglaubt: „Ja, jetzt sind wir gerettet. Wir haben ein Stück von Polen, und die Deutschen lassen uns in Ruhe.“
Ich hatte eine Uniform an. Mein Beruf war Soldat. Aber wenn ich Unterricht gegeben habe, oder wenn es darauf ankam, bin ich immer davon ausgegangen, dass wir uns verteidigen. Verteidigen, das müssen wir, man kann sich nicht versklaven lassen. Aber andere angreifen, egal für was? Natürlich hat Hitler die Arbeitslosen von der Straße geholt, aber man darf nicht vergessen, wo sie hingekommen sind. In die Kriegsindustrie, die Seemacht wurde aufgestellt, da war auf einmal Arbeit. Die SA, die kriegten Uniformen, Essen und Trinken vor allem. Arbeitsdienst, das waren zwei Jahrgänge von jungen Männern, die wurden in Uniformen gesteckt, kriegten eine Schaufel auf die Schulter und hatten ein Dach über dem Kopf und Essen. Die Arbeitslosen waren auf einmal weg. Verstehen Sie? Da waren in Deutschland nur Uniformen. Das ist einfach. Und die Leute waren zufrieden, dass sie zu Essen hatten. Arbeit hatten einige. Das war es, was eigentlich die ganze Chose in Gang gebracht hat. Er konnte nicht mehr aufhören, dann wären sie wieder arbeitslos geworden, es musste weitergehen. Diese ganze Kriegsmaschinerie musste weiterlaufen.

 

Das Interview mit Roger Cottyn führte Sarah Mayr am 2. November 2013 in Rickling.

 

(Roger Cottyn hat ein Buch geschrieben: „Sechzig Monate in deutscher Kriegsgefangenschaft“. Es ist in der Gedenkstätte „Sandbostel“ in deutscher und niederländischer Sprache erhältlich.)