von Clara M. Frysztacka

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23. März 2022

Nach zwei Jahren Debatten über den Beginn einer „Ära der Pandemien“ überbieten sich seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine die Prognosen über den Anbruch einer neuen (oder alten?) Zeit der Geopolitik. Auf einmal prägen nicht mehr die Sorgen um die Übertragung von immer tödlicheren Viren aus der Tierwelt auf die Menschheit unseren Erwartungshorizont, sondern jene des „Krieges in Europa“ beziehungsweise eines „Dritten Weltkrieges“, in dem sich die Kategorien des Westens und Ostens, der Demokratie und Diktatur (wieder) feindselig gegenüberstehen.

Die Bedrohungskulisse der pandemischen Ära ließe sich aufgrund ihrer Verbindung mit der Ausbeutung der Natur durch den Menschen vollkommen in das neue Zeitbewusstsein des Anthropozäns einordnen. Dieses Zeitbewusstsein ist im 21. Jahrhundert aus dem gemeinsamen Nachdenken von Natur- und Humanwissenschaftler*innen über den Klimawandel entstanden. Darin wird die moderne Trennung der historischen Zeit der Menschen von der geologischen Zeit der Erde radikal hinterfragt, zugunsten eines hybriden Zeitverständnisses, wonach die Menschheit zum Akteur der Geschichte unseres Planeten und die Umwelt zum Akteur der menschlichen Geschichte werden.[1]

Die Bedrohungskulisse des Krieges suggeriert hingegen die Reaktivierung einer Zukunftsperspektive, die sich als genuin modern bezeichnen lässt: erstens und ganz banal, weil sich darin die moderne Geschichte des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts zu wiederholen scheint; zweitens aufgrund der wiedergewonnenen Bedeutung des historischen Ost-West-Konfliktes, die die bereits länger diskreditierte These eines postmodernen Endes der Geschichte nach 1989 endgültig archiviert; und schließlich, weil der Krieg einen Erwartungshorizont eröffnet, dessen Gestaltung allein in den Händen der Menschen – nicht Gottes, der Viren oder des Klimas – liegt und somit eine völlig menschliche „Machbarkeit“ der eigenen Geschichte voraussetzt.[2]

Erleben wir aber wirklich eine Rückkehr der Moderne oder wie können wir die Zeiterfahrung sonst begreifen, die durch den Diskurs über den Krieg gerade ausgelöst wird? Ich möchte hier einige Überlegungen über diese Fragen zusammentragen, die mich in den letzten Tagen und Wochen begleitet haben. Sie sind als Beitrag gedacht, um die Fülle der historischen Deutungsangebote für den gegenwärtigen Krieg auf der Metaebene der postmodernen Zeitwahrnehmung einordnen zu können und somit die Gräuel dieses Krieges für die ukrainische Bevölkerung nicht einfach durch die Furcht vor der Auferstehung einer dystopischen Moderne zu ersetzen.

 

Die Allgegenwart der Vergangenheit

Das Gefühl der Wiederkehr der Moderne lässt sich auf eine unglaubliche Renaissance der Geschichte zurückführen, die für die geübten Augen der Historiker*innen nicht unbeachtet bleiben kann. Am deutlichsten fällt eine derartige Renaissance selbstverständlich angesichts Putins Besessenheit von Geschichte auf – sowohl in seiner „Geschichtsunterrichtstunde“ zur Begründung des russischen Angriffs als auch beispielsweise in der Wahl des Begriffs „Entnazifizierung“ zur Definition seiner Kriegsziele. Wie verzerrt das Geschichtsverständnis des Kremls ist, haben viele Expert*innen der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine in den letzten Tagen unterstrichen. Jedoch zirkulieren Geschichtsbilder und historische Referenzen auch massenhaft in den ‚westlichen‘ Öffentlichkeiten jenseits der konkreten Auseinandersetzungen mit den Reden von Putin und zeigen somit die Allgegenwart der Vergangenheit in unserer Wahrnehmung des aktuellen Krieges.

Mit der Diagnose einer Allgegenwart der Vergangenheit möchte ich auf den Wildwuchs von historischen Narrativen über das 19. und 20. Jahrhundert hinweisen, die sich uns gerade als Deutungsfolien oder besser als Blaupausen des aktuellen Kriegsgeschehens aufdrängen und auf die der ‚westliche‘ und konkreter der deutsche mediale, politische und wissenschaftliche Diskurs über den Krieg immer wieder Bezug nimmt. Der Begriff „Narrativ“ soll hier nicht missverstanden werden: Darin schwingt kein Vorwurf mit, derartige Geschichtsdeutungen seien fiktiv oder propagandistisch manipuliert. Vielmehr bringt er die grundlegende Funktion der modernen Geschichtswissenschaft zum Ausdruck, (kausalen) Sinn aus bestimmten Verkettungen von Ereignissen oder Phänomenen und somit eine (lineare) Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu produzieren.

Dieser Aspekt ist für meine Argumentation wichtig: Gerade sind Geschichtsnarrative nicht nur in der Dimension des kriegsgeprägten Heute allgegenwärtig. Sie knüpfen das Heute an einen bestimmten Erwartungshorizont für das Morgen, das auf einmal von einer Reihe von „vergangenen Zukünften“[3] des 20. Jahrhunderts besetzt ist.

 

Die vergangenen Zukünfte unserer Gegenwart

Eine erste vergangene Zukunft entsteht aus der Einordnung von Putins Angriff in eine Geschichte des russischen imperialen Expansionismus: dieser sei seit dem 16. Jahrhundert von der Idee der Wiedervereinigung der historischen Territorien der Rus getrieben, um ab dem 18./19. Jahrhundert dann auch kolonialen Ambitionen in Asien sowie des Status einer europäischen Großmacht zu pflegen. Im 20. Jahrhundert können zu diesem Expansionismus die Pläne – mit dem Hitler-Stalin Pakt 1939 und später mit der Konferenz von Jalta im Februar 1945 – zur Aufteilung Europas gerechnet werden. Ein Narrativ der Geschichte Russlands von der Frühmoderne bis in die der Sowjetunion entlang ihrer imperialen Visionen wurde im Rahmen der vergleichenden Imperienforschung in den letzten Jahren reichlich erörtert und kritisch reflektiert.[4]

Jetzt instrumentalisiert Putin diese Geschichte im Sinne des „imperialen Phantomschmerz(es) der politischen Elite Russlands“[5], der die Ukraine als historischen Bestandteil des russischen Imperiums beansprucht, um die Invasion zu legitimieren. Ob nun in der Rhetorik Putins oder der Reaktion darauf von westlicher Seite - der Krieg erscheint somit als etwas, das auf eine genuin russische, jahrhundertelange Entwicklungsdynamik zurückzuführen sei. Solche Rückgriffe auf historisierende Narrative implizieren, dass der Krieg gegen die Ukraine über heutige geopolitische Erwägungen und Interessen hinausgeht. So eine historische Perspektive zeichnet auch auf dem Horizont Osteuropas einen ewigen Konflikt, der nur durch eine Einhegung des russischen imperialen Drangs (wie im Kalten Krieg) auf Kosten bestimmter mittel-ost-europäischer Territorien oder eben mit einer radikalen Schwächung oder Veränderung Russlands überwunden werden kann.

Mögliche Varianten dieser Zukunft lassen sich in den Vergleichen des aktuellen russischen Angriffs auf die Ukraine mit dem Krimkrieg sowie mit dem russisch-japanischen Krieg 1904/05 finden. Beide Narrative, das erste sogar vom britischen Verteidigungsminister evoziert, , wirken den Schrecken des ewigen Konfliktpotentials in Osteuropa oder eines europäischen Krieges entgegen, indem sie einen Erwartungshorizont des Scheiterns der gegenwärtigen russischen Angriffspolitik aufgrund einer grundlegenden (technologischen) Überlegenheit des Westens beschwören.

Ein weiteres wirkmächtiges historisches Brennglas, das gerade unseren Blick auf den Krieg prägt, verlegt den Fokus von Russland weg auf den Westen beziehungsweise das Westeuropa der Zwischenkriegszeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Es besteht aus Narrativen über die Auflösung der europäischen Landimperien mit dem Ersten Weltkrieg und über die westeuropäischen Reaktionen auf die territorialen Bestrebungen des Dritten Reichs bis zum Zweiten Weltkrieg.

Das erste Narrativ, das in den völkerrechtlichen Debatten über das zentrale Recht des ukrainischen Volkes auf Souveränität und Selbstbestimmung herumgeistert, schafft eine Verbindung zwischen dem aktuellen Krieg und der europäischen Ordnung, entstanden aus dem Ersten Weltkrieg durch das 14 Punkte-Programm des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Darin steckt nicht nur die unwiderrufliche Legitimität des ukrainischen Widerstands gegen den russischen Einmarsch in der Gegenwart. Dieses Narrativ birgt auch die zukünftige Gefahr, dass die (west-)europäischen Akteur*innen das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine nicht verteidigen werden können oder wollen sowie, dass dieses Recht sich erneut in Sprengstoff für den (west-)europäischen Frieden transformiert.

Das zweite Narrativ wird hingegen von Vergleichen des heutigen Russland mit dem nationalsozialistischen Deutschland der 1930er und frühen 1940er Jahre getriggert, das in zahlreichen Presseartikeln und -kommentaren zirkuliert.[6] Existiert schon seit Längerem eine Forschungstradition der gemeinsamen Betrachtung von Nationalsozialismus und Stalinismus aufgrund ihres totalitären Charakters und des Ausmaßes an verübter Gewalt, so stellt die direkte In-Bezug- oder Gleichsetzung von Putin und Hitler ein neues Phänomen in der ‚westlichen‘ Öffentlichkeit dar.

Dazu tragen weniger Betrachtungen des Verhaltens der russischen Armee in der Ukraine aus der Perspektive möglicher Analogien mit den nationalsozialistischen Gräueltaten an der Ostfront bei. Vielmehr werden immer wieder Parallelen gezogen zwischen der west-europäischen Zurückhaltung im Münchener Abkommen 1938, aber auch 1939 gegenüber einem Krieg gegen Hitler und dem Zögern der EU- und NATO-Staaten vor einer direkten Involvierung auf der Seite der Ukraine in den letzten zwei Wochen. Auch in diesem Fall dominiert ein Kriegsszenario die Zukunft: Das Szenario eines Krieges, der den gesamten europäischen Kontinent – wenn nicht die gesamte Welt – umfasst und total ist. Nicht vordergründig wegen der atomaren Gefahr, sondern wegen dem Mangel an Maß und Ratio der Macht, die zu bekämpfen ist (interessante Anknüpfungspunkte ergeben sich hier mit der Debatte über die psychische Gesundheit Putins). Zugleich eröffnet sich der Erwartungshorizont eines Sieges der (europäisch-westlichen) demokratischen Welt, allerdings mit sehr – und vielleicht zu – hohen Kosten.

Definitiv hoffnungslos aber ruhmreich ist der Zukunftshorizont des Narrativs über den spanischen Bürgerkrieg, der sich durch Selenskyjs Aufruf an internationale Freiwillige profiliert hat. Dieses Narrativ, dass die Handlungskraft der Ukraine in den Vordergrund rückt, spielt bisher sicherlich eine weniger prominente Rolle in der historischen Sicht auf den aktuellen Krieg. Dennoch hat, infolge des Aufrufs Selenskyjs, die Presse ausdrücklich Analogien mit den Internationalen Brigaden gezogen.[7] Derartige Analogien beinhalten nicht nur einen moralischen Imperativ zur Mobilisierung gegen Russland, sondern auch die Aussicht eines so tragischen wie ungerechten Schicksals für den ukrainischen Widerstand.

Etwas bessere Perspektiven für den ukrainischen Geschichtsakteur zeichnen sich schließlich in den vielen Bezügen ab, die in den letzten Wochen auf die dekolonialen-neoimperialistischen Kriege der Zeit nach 1945 zu lesen sind. In diesem Kontext häufen sich die Vergleiche und gehen vom französischen Krieg in Algerien über den amerikanischen Konflikt in Vietnam bis zum Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Sie prophezeien viel Leid für die ukrainische Bevölkerung sowie die Verarmung und Destabilisierung einer ganzen Weltregion. Sie versprechen aber zugleich die Unregierbarkeit von Gebieten, die nicht von fremden Mächten beherrscht werden wollen, und somit langfristig den Misserfolg jeglicher Imperialismen.

 

Die Ubiquität der Zeit, aber welcher Zeit?

Habe ich bisher meinen Fokus auf die Allgegenwart von Geschichtsnarrativen gelegt, so ist die Ubiquität der Kategorie „Zeit“ ebenso frappierend. Jenseits – und häufig losgelöst von – der Anlehnung an konkrete historische Deutungen werden wir in diesen Tagen immer wieder mit Feststellungen konfrontiert, dass der aktuelle Krieg Europa (und die Welt) in der Zeit zurückwirft, als wenn die Zeiger der Geschichtsuhr sich auf einmal in die Vergangenheit zurückdrehen könnten. Die Kategorie Zeit ist aber genauso in der plakativen Behauptung zu finden, dass dieser Krieg eine „Zeitenwende“ markiere. Claudia Weber und Florian Peters haben aus jeweils verschiedener Perspektive bereits darauf hingewiesen, wie problematisch die These von der „Zeitenwende“ ist. Was jedoch ebenso irritiert, ist die scheinbare Unvereinbarkeit dieser These mit der Idee eines Rückzugs in der Zeit: Soll die „Zeitenwende“ der Aufbruch hin zu einer neuen oder einer alten Zeit sein?

Die Wirkmacht der Geschichtsnarrative, die ich oben zusammengetragen habe, legt Letzteres nahe: dass das Neue – nach Jahrzehnten von Debatten über die erst postmoderne (post-1898) und dann anthropozänische Geschichtserschöpfung – eben in der Wiederbelebung der modernen Zeiterfahrung besteht, mit ihrer genuin historischen Entwicklungsdynamik und ihres vollkommen auf den Menschen fokussierten Erwartungshorizonts hinsichtlich des Krieges. Darauf deutet zum Beispiel Olaf Scholz Formulierung vor dem Bundestag hin, „auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen“.[8] Die Betrachtung der Geschichte als einheitliche Fortschrittskraft, in deren Namen die menschlichen Akteure (in diesem Fall die bundesdeutsche Regierung) zu handeln denken und der die moralische Urteilsmacht über das Handeln dieser Akteure zugeschrieben wird, ist ein Indikator des gleichen modernen Zeitverständnisses.[9]

Allerdings mahnt gerade die Vorstellung, dass die Zeit, die jetzt beginnen soll, sich als Reenactment des 20. Jahrhunderts in einem düsteren Licht präsentiert, zur Vorsicht. Denn moderne Zeit wird im Grunde als die Verheißung einer Zukunft definiert, die qualitativ neu und besser als die Vergangenheit ist. Konkurrierende Narrative über die Vergangenheit, die dunkle Schatten auf unsere Zukunft werfen, in unserer Gegenwart zu beschwören, passt daher nicht wirklich zum Grundverständnis von Moderne.

Vorstellungen von einer Vergangenheit, die die Gegenwart überschwemmt, durchdringen hingegen eher die Theorien über die postmoderne Zeit. So haben Autor*innen wie Hans-Ulrich Gumbrecht und François Hartog bereits vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und dabei die Zukunft zu öffnen, in der Postmoderne verloren ging.[10] Ohne diese Fähigkeit, die für die moderne Zeitwahrnehmung kennzeichnend war, die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwindet. Dadurch erscheint die Gegenwart als eine ausgedehnte Zeitdimension, in der mehrere vergangene Zeiten gleichzeitig bestehen, während die Zukunft sich als Möglichkeitsraum des Neuen verschließt. Dass in diesem Kontext das lineare Zeitgefühl der Moderne ebenso verloren geht, haben u.a. die Thesen über die Beschleunigung von Hartmut Rosa gezeigt: Laut Rosa erfahren wir die Zeit in der Postmoderne als das ungeordnete Wiederkehren von Krisen und Konfliktkonstellationen der Moderne, deren Reihenfolge wir keinen kausalen Sinn mehr verleihen können und die sich uns daher als völlig kontingent präsentieren.[11]

Die postmodernen Zeitdiagnosen der "breiten Gegenwart" (Gumbrecht) oder des "rasenden Stillstands" (Rosa) bieten somit interessante Denkanstöße gegen das Gefühl einer Rückkehr der Moderne. Denn sie machen auf das postmoderne Zeitempfinden als einen Mechanismus aufmerksam, durch den die Gegenwart dieses Krieges von einem kakophonischen Gedränge von Gespenstern aus der Vergangenheit des 20. Jahrhunderts gestürmt wird. Auch im plötzlichen Umkippen unseres Erwartungshorizonts von der pandemischen Krise in eine Reihe potentiell siegreicher oder vernichtender geopolitischer Konflikte, ohne dass eine scheinbare Kontinuität zwischen den beiden besteht, ist die Wirkungsmacht des gleichen postmodernen Zeitmechanismus zu erkennen. Gerade die fehlende Kontinuität dieser Erwartungshorizonte, ihre Konkurrenz miteinander sowie ihr erschreckender Charakter machen die Zukunft zu einer temporalen Dimension der Wiederholung und Wiederkehr, die beängstigend, verwirrend und nicht zuletzt beliebig wirkt. So eine Wahrnehmung der Zukunft kann sicherlich nicht der Moderne zugerechnet werden. Aber sie lässt sich als Indiz dafür auffassen, dass das Anthropozän mit seiner Öffnung zum radikal neuen Erwartungshorizont des Klimawandels sich noch nicht in unserem Zeitbewusstsein vollkommen verankert und die Postmoderne ersetzt hat.   

Mit einer Zuordnung dieser Zeiterfahrung zur Postmoderne möchte ich weder die Gültigkeit dieser Erwartungshorizonte noch die Triftigkeit der einzelnen Geschichtsnarrative für die Orientierung in der Gegenwart bestreiten. Vielmehr, und in einer ähnlichen Richtung wie der Beitrag von Martina Winkler in diesem Dossier, geht es mir hier eher darum, vor einem Übermaß des „Historischen“ als Perspektive zu warnen, dass die Brille, durch die wir auf das heutige Kriegsgeschehen schauen, trübt. In diesem Übermaß der Geschichte verbirgt sich die Gefahr, dass unser ‚westlicher‘ Blick vom Kriegsgeschehen selbst – mit seinen sowohl historisch gewachsenen als auch kontingenten und neuen Dynamiken – auf unseren postmodernen überforderten Umgang mit den modernen Zeiträumen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlagert wird.

Inspiriert vom lesenswerten Plädoyer des ukrainischen Anthropologen Volodymyr Artiukh an die antiamerikanische Tradition der westlichen Linken, plädiere ich auch dafür, sich ein Stück weit von den Geistern der modernen europäischen Geschichte kritisch zu distanzieren, sie in den richtigen Grenzen zu halten, sie zu „provinzialisieren“, um aus dem „Nebel“ dieses Krieges neue Handlungsräume und Erkenntnisfähigkeiten über die komplexe, multipolare Welt des Heute sowie neue Erwartungen für das Morgen zu gewinnen.

 

[1] Vgl. bspw. Bruno Latour, „Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime“, Berlin 2017; Dipesh Chakrabarty, Anthropocene time, in: History and theory 57/1 (2018), S. 5–32.
[2] Reinhardt Koselleck, „Vergangene Zukunft“, Frankfurt am Main 2015 (9. Auflage, Originalausgabe: 1979), S. 60–61 und S. 76–86.
[3] Mit dieser Begriffswahl erlaube ich mir eine assoziative und freie Verwendung des Titels einer der Hauptwerke von Reinhardt Koselleck, „Vergangene Zukunft“, ohne damit das identische Phänomen, das Koselleck beschreibt, zu meinen.   
[4] Vgl. bspw.  Dominic Lieven, „Empire. The Russian Empire and its rivals“, New Haven, Conn. 2001; Khalid, Adeeb, „The Soviet Union as an imperial formation“, in: „Imperial formations“, hg. v. Ann Laura Stoler/ Carole McGranahan, Santa Fe, NM 2007, S. 113–140. Valerie Kivelson, Ronald Suny, „Russia's empires“, New York 2017.
[5] Herfried Münkler, „Wenn Putins Plan scheitert, wird er einen schrecklichen Zerstörungskrieg führen“, Interview, Welt am Sonntag, 05.03.2022.
[6] Diese Debatte hat bereits in den Tagen vor dem Krieg begonnen. Vgl. Patrick Bahners, „1938 und 2022 zusammenzählen“, FAZ 22.02.2022 ().
[7] Vgl. bspw. Joachim Käppner, „Nicht feige, sondern vernünftig“, Süddeutsche, 07.03.2022: "‘Eine ganze Stadt war ein Schlachtfeld und wartete im Dunkeln. Angst lag sicherlich in diesem Gefühl und auch Mut.‘ Dies notierte die junge US-Journalistin Martha Gellhorn 1936 aus dem von faschistischen Putschtruppen belagerten Madrid. Sie wurde zu einer wortgewaltigen Parteigängerin der spanischen Republik und klagte die westliche Welt an, einfach wegzusehen. Die Spanier, schrieb sie, "verdienten unseren Dank und unsere Achtung und bekamen weder das eine noch das andere". Die Ukrainer, nun Opfer eines mörderischen Angriffskrieges, rufen ähnlich wie damals die spanischen Republikaner nach militärischem Eingreifen und somit einer Hilfe, die sie nicht bekommen werden."
[8] Siehe Regierungserklärung zum Ukraine-Krieg vom 27.02.2022.
[9] Vgl. Koselleck, „Vergangene Zukunft“, S. 54–60.
[10] Hans Ulrich Gumbrecht, „Unsere breite Gegenwart“, Berlin 2010; François Hartog, „Regimes of Historicity. Presentism and experiences of time“, New York 2015.
[11] Harmut Rosa, „Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“, Bonn 2013.