von Ronald Funke

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1. Oktober 2013

Zunächst ist da eine Frau, gehetzt und in Verkleidung, die nach dem Mauerfall in die untergehende DDR reist und dort auf den Spuren eines Waisenkindes durch alte Heime und Archive streift. Doch will sie die Geschehnisse der Vergangenheit nicht aufdecken, sie ist dabei sie zu verwischen.

Dann springt der deutsch-norwegische Film „Zwei Leben“ von Georg Maas zu einem zweiten Anfang und auf der Leinwand erscheint ein skandinavisches Idealleben. In einem Holzhaus an der stürmischen See bei Bergen leben der raubeinig-zärtliche Ehemann Bjarte Myrdal (Sven Nordin), die wohlgeratene Tochter Anne (Julia Bache-Wiig), allein erziehend und doch einer juristischen Karriere entgegenstrebend, sowie die eng in die Familie eingebundene Großmutter Åse Evensen, gespielt von der noch immer beeindruckend charismatischen Ingmar-Bergmann-Ikone Liv Ullmann. Und im Zentrum der Familie steht als Ehefrau, Mutter und Tochter Katrine Evensen Myrdal (Juliane Köhler), jene Frau vom Beginn des Films. Nichts scheint ihr zu fehlen und doch beginnt ihr das bisherige Leben zu zerrinnen, als 1989 im fernen Deutschland überraschend die Mauer fällt. Wäre es nicht zu abgegriffen, könnte man von den Schatten der Vergangenheit sprechen, die plötzlich alles zu verdunkeln scheinen, und doch zeigt „Zwei Leben“ eindrücklich, dass sich die Folgen der Geschichte weit über die Dauer vergangener historischer Ereignisse und über politische Systemwechsel hinweg auswirken können.

Opfer des Rassenwahns

So offenbart der unerwartete Besuch eines Anwalts (Ken Duken) das dramatische Schicksal der norwegischen Familie. Nach einem Verhältnis mit einem deutschen Soldaten während des zweiten Weltkriegs hatte Åse ihre Tochter Katrine in einem der acht in Norwegen von der SS betriebenen sogenannten Lebensborn-Heime zur Welt gebracht und unter Druck zur Adoption frei gegeben. Aus den in zahlreichen europäischen Ländern eingerichteten Heimen planten die Nazis jene Kinder, die dem rassischen Wahn des arischen Ideals entsprachen, ins „Reich“ zu schaffen und von Angehörigen der SS aufziehen zu lassen. Die deutsche Niederlage verhinderte die Vollendung dieses Planes. Doch mehrere hundert von den bis zu 12.000 Kindern deutscher Soldaten in Norwegen waren bis Kriegsende nach Deutschland gebracht worden. Einige schickte man in ein Lebensborn-Heim nach Sachsen, so dass sie nach Kriegsende und deutscher Teilung in Waisenhäusern der DDR und ostdeutschen Adoptivfamilien aufwuchsen. Genau so, berichtet Katrine, erging es auch ihr, bevor sie es geschafft habe, über die Ostsee zu fliehen und nach dem Wiedertreffen mit der Mutter in Norwegen ein neues Leben zu beginnen.

Nun sollen sie und ihre Mutter als Zeuginnen aussagen, da der Anwalt nach dem Mauerfall an einer Entschädigungsklage gegen Deutschland vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg arbeitet. In der Realität wurde die Verschleppung der Kinder nicht in vergleichbarer Weise juristisch aufgearbeitet. Es gab jedoch Prozesse gegen den norwegischen Staat, die von Vertretern der in Norwegen verbliebenen Tyskerbarna („Deutschenkinder“) angestrengt wurden. Im Film bleibt deren Schicksal mit den Worten, sie hätten in Norwegen als „Kinder der Schande“ gegolten, nur vage angedeutet. So wurden sie vielfach von den Müttern getrennt, in Spezialschulen und psychiatrische Heime eingewiesen und dort Misshandlungen und teilweise medizinischen Experimenten ausgesetzt. Wenngleich die Klagen 2001 in Norwegen und 2007 in Straßburg jeweils wegen Verjährung abgewiesen wurden, hat sich die norwegische Regierung dieser Vergangenheit gestellt und der Zahlung von Entschädigungen zugestimmt.

Gestohlene Identitäten

Doch obwohl die im Film angestrengte Klage Gerechtigkeit für die betroffenen Familien bringen soll, will Katrine nur ungern über ihre Vergangenheit sprechen und verwickelt sich bei der Befragung in seltsame Widersprüche. Neben der Tat der Nazis, die Kinder aus Norwegen nach Deutschland zu verschleppen, beginnt sich langsam ein weiteres staatlich organisiertes Verbrechen zu offenbaren: die perfide Ausnutzung der norwegischen Kinder für die Interessen der DDR. In der historischen Realität war es so gewesen, dass einige nach dem Heranwachsen in Ostdeutschland von ihrer Herkunft erfahren und in Norwegen Pässe für die legale Ausreise aus der DDR beantragt hatten. Der Versuch unter ihnen Freiwillige für den Einsatz der Stasi im Westen anzuwerben, hatte nicht den erhofften Erfolg gehabt. Daher ging man dazu über, den Betroffenen ihre Identitäten zu stehlen. So wurde alles getan, um sie am Auslandskontakt und der Zusammenführung mit den norwegischen Familien zu hindern. Gleichzeitig stattete man zuverlässige Agenten mit ihren Namen und Lebensgeschichten aus, damit sie nach der Ausreise unter falscher Identität im Westen für die DDR spionieren konnten.

Aus dieser wahren Geschichte greift sich der Film den Aspekt der gestohlenen Identitäten heraus. Denn auch die vermeintlich seit Jahrzehnten mit ihrer norwegischen Mutter wiedervereinte Katrine, ist eine dieser Agentinnen. Tatsächlich heißt sie Vera, war nach dem Tod ihrer Eltern im Bombenkrieg in einem ostdeutschen Waisenhaus aufgewachsen und hatte sich in den 60er Jahren als sogenannte „Kundschafterin des Friedens“ für den Auslandseinsatz der Stasi anwerben lassen. Bei der Darstellung ihres Motivs bleibt der Film bedauerlicherweise allzu mutlos. Einsamkeit, Sehnsucht nach einer echten Familie und der, wie sie sagt, im rechten Augenblick im Waisenhaus auftauchende „nette Onkel“ von der Stasi konterkarieren das bis dahin erfreulich selbstbewusste Bild der weiblichen Hauptfigur. Statt diese als emotional Abhängige und scheinbar nicht an politischen Vorgängen interessierte Mitläuferin zu zeigen, wäre es glaubhafter gewesen, sich hier stärker mit Verführung und Verblendung auseinanderzusetzen und damit, dass Menschen das Falsche tun und dabei der festen Überzeugung sein können, genau richtig zu handeln. Wenn der Film Katrine/Vera vor allem als emotionale, von Sehnsüchten und Ängsten geleitete Frau zeigt, den Führungsoffizier von der Stasi und einen ebenfalls in ein falsches Leben nach Norwegen eingeschleusten Mitagenten dagegen durchgehend berechnend, kalt und brutal agieren lässt, dient dies nicht der Aufklärung über die Denkweise und Motive von Tätern, sondern eher der Verbreitung überkommener Geschlechterklischees.

Doppelleben in Norwegen

In Norwegen angekommen hatte die junge Agentin die Nähe ihrer vermeintlichen Mutter Åse Evensen gesucht und als ihre Tochter Katrine ein zweites Leben angefangen. Von der Stasi als Mitarbeiterin in die norwegische Marine eingeschleust, spionierte sie nicht nur Militärgeheimnisse aus, sondern lernte auch ihren künftigen Ehemann kennen, den Kommandanten eines U-Bootes. Damit beginnt ein jahrzehntelanges Doppelleben inmitten einer nichts ahnenden Familie. Die unter der Identität einer anderen Frau gelebte Existenz wird mit den Jahren zu ihrem eigentlichen Leben, bis mit dem Mauerfall die plötzliche Aufdeckung droht. Daher nimmt Katrine/Vera erneut Kontakt zu ihrem Führungsoffizier auf. Eine überstürzte Reise in die DDR soll der Vertuschung möglicher Spuren dienen und führt zurück zu den allerersten Szenen des Films. Der radikale Umbruch, der sich gerade in der untergehenden DDR vollzieht, und das plötzliche Eindringen westlicher Waren werden dezent angedeutet. Mit einem handgeschriebenen Schild weist etwa ein Laden darauf hin, nun könne man auch hier ein Fotokopiergerät nutzen und der örtliche Kontaktmann der Stasi kann auf die Forderung nach einem sofortigen Telefonanschluss nur resigniert konstatieren, das werde schwierig, denn einen solchen wollten jetzt ja plötzlich alle. Nach ihrer Rückkehr nach Norwegen scheint die Gefahr der Enttarnung nur kurzzeitig gebannt. Denn der Anwalt hat inzwischen weiter an dem Fall gearbeitet und ist auf Filmaufnahmen aus den 60er Jahren gestoßen. Sie zeigen die ihrer Mutter geraubte wahre Katrine (Vicky Krieps) kurz nach ihrer erfolgreichen Flucht über die Ostsee. Nachdem die Familie gemeinsam den Film gesehen hat, bricht das Doppelleben von Katrine/Vera endgültig zusammen.

Neben den plötzlich hervorbrechenden Zweifeln der Familie an jener Person, die sie bislang als Tochter, Ehefrau und Mutter zu kennen glaubten, stellt sich nun auch die Frage, was aus der echten Katrine geworden ist. Katrine/Vera muss bekennen, dass die wahre Tochter von Åse Evensen auf der Suche nach ihrer Familie ebenfalls in den 60er Jahren vor dem Haus der Mutter in Norwegen auftauchte. Vorgewarnt von der Stasi, war es der jungen Agentin jedoch gelungen, der Konkurrentin eine Falle zu stellen, die deren gewaltsame Rückführung in die DDR durch den Führungsoffizier und einen Mitagenten zum Ziel hatte. Ähnliche Entführungen durch die Stasi hat es tatsächlich gegeben. Etwa einhundert Menschen waren in den 50er und 60er Jahren gewaltsam aus der Bundesrepublik und West-Berlin in die DDR verschleppt worden. Im Film scheitert der Plan zunächst. Nach der direkten Begegnung fühlt sich Kathrine/Vera der echten Trägerin ihres Namens so sehr verbunden, dass sie ihr zu entkommen hilft. Doch sie kann nicht verhindern, dass die Stasiagenten die junge Frau auf der Flucht im Wald erschießen. Nach diesem Geständnis muss die Mutter Åse erkennen, dass ihr die Tochter zweimal geraubt wurde und dass die Frau, die sie seit Jahrzehnten für ihre Tochter hielt, indirekt an deren gewaltsamen Tod beteiligt war.

Der lange Arm der Stasi

Von den echten Agenten, die einst mit falscher Identität in den Westen geschickt worden waren, hatten manche ihren norwegischen Pass nur genutzt, um möglichst schnell in der Bundesrepublik aktiv werden zu können. Ähnlich wie Katrine/Vera im Film, gaben sich aber auch tatsächlich einige bei nichtsahnenden norwegischen Familien als deren Verwandte aus. Denn ein enges Verhältnis erhöhte die Glaubwürdigkeit der Tarnung und schützte davor, unter Spionageverdacht zu geraten. So gab es auch in der Realität norwegische Familien, die erst nach dem Mauerfall durch den Besuch echter erwachsener Lebensborn-Kinder erkannten, dass sie jahrzehntelang Betrüger für ihre Verwandten gehalten hatten. Sobald die Tarnung der wahren Agenten zu platzen drohte, erhielten diese die Weisung, rasch an einen sicheren Ort auszureisen.

Auch im Film bekommt Katrine/Vera schließlich diesen Befehl. Obwohl ihr der Führungsoffizier offen mit gewaltsamen Konsequenzen für den Fall der Weigerung droht, entscheidet sie sich gegen die befohlene Ausreise. Sie kehrt zu ihrer Familie zurück und auch zu jener Frau, die sie nach dem jahrzehntelangen Doppelleben vollkommen als ihre eigene Mutter empfindet. Hier bekennt Katrine/Vera offen ihre Taten und kündigt an, sich der Polizei zu stellen. Der Bruch mit der Stasi hat jedoch tödliche Konsequenzen. Denn ihre bisherigen Komplizen sind ihr gefolgt und als Katrine/Vera mit dem Auto aufbricht, versagen auf der kurvigen Straße die Bremsen. Der Film endet mit dem Bild des am Straßenrand ausbrennenden Wagens. Was hier als gezielter Mord darstellt wird, erinnert unwillkürlich an den nicht restlos aufgeklärten Unfalltod des Fußballprofis Lutz Eigendorff. Als prominentes Beispiel einer erfolgreichen Flucht aus der DDR und einer im Westen fortgesetzten Karriere stand er bis zuletzt im Visier der Stasi. Daher kamen nach seinem Tod 1983 rasch Gerüchte über eine mögliche Einflussnahme ostdeutscher Agenten auf, über die bis in die Gegenwart gestritten wird. Dass die Tötung von Personen im Westen durch die Stasi beileibe keine reine Spekulation ist, zeigen Fälle wie der Mord an dem Dissidenten Bernd Moldenhauer 1980 und der Giftanschlag auf den Fluchthelfer Wolfgang Welsch und seine Familie 1981 durch DDR-Agenten.

Es lässt sich festhalten, dass der Film „Zwei Leben“ zwar nicht auf einem einzelnen konkreten Fall beruht, aber selbst unwahrscheinlich erscheinende Motive der überraschend wechselhaften Handlung auf wahren Begebenheiten basieren und historische Bezüge aufweisen. Die auf mehreren Zeitebenen spielende Filmgeschichte um Nazis, Stasiagenten und gestohlene Identitäten mag manche Zuschauer zunächst verwirren. Zugleich ist es jedoch besonders positiv hervorzuheben, dass der Film aus dem Korsett geschichtlicher Zäsuren ausbricht, in das historische Erzählungen allzu oft eingebunden sind. Denn in der Vergangenheit gab es bereits zahlreiche, durchaus gelungene Filme, die sich entweder mit dem Dritten Reich oder der DDR auseinandersetzten. Regisseur Georg Maas zeigt darüber hinaus, das Leben und Schicksal der Menschen die historischen Grenzen überspannen.

Am Beispiel der sehr überzeugend in ihrer Wechselhaftigkeit zwischen Opfer und Täterin gespielten Hauptfigur wird zudem sehr anschaulich erzählt, wie weit die Identifikation mit einer jahrzehntelang gelebten falschen Identität reichen kann. In der unbedingt zu empfehlenden Originalversion mit Untertiteln spricht Katrine/Vera mit ihrer Familie norwegisch, während sie mit den Kontaktleuten von der Stasi und bei der Reise in die DDR ihre deutsche Muttersprache verwendet. Vor allem der plötzliche Wechsel zwischen den Sprachen betont dabei immer wieder die verschiedenen Rollen ihres Doppellebens und deren gleichzeitige Verbundenheit. Dieser Eindruck geht durch die bedauerlicherweise noch immer weit verbreitete Praxis, auch in mehreren Sprachen gedrehte Filme später mit einer einheitlichen deutschen Synchronisierung zu unterlegen, leider verloren.

 

„Zwei Leben“ (Deutschland/Norwegen 2012)

Regie: Georg Maas

Drehbuch: Georg Maas, Christioph Tölle, Ståle Stein Berg und Judith Kaufmann, basierend auf dem bislang unveröffentlichten Roman „Eiszeiten“ von Hannelore Hippe

Kinostart: 19.09.2013