Als vor zwei Jahren russische Bomben auf ukrainische Städte und Dörfer fielen, die ersten Bilder von Geflüchteten, um ihr Leben rennende und getötete Ukrainer*innen die mediale Bilderwelt fluteten, als zerfetztes Kinderspielzeug und Gräber auf Spielplätzen in großer Zahl zu sehen waren. Als Menschen in der Ukraine nur noch in U-Bahnhöfen und Kellern überleben konnten, das Bild eines Vaters, der die Hand seines getöteten 12jährigen Sohnes nicht mehr los lassen wollte…als all diese Bilder in der Welt waren, konnte man beobachten, dass in der Generation der Kriegskinder, also jener Menschen, die in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre geboren wurden, eine besondere Form des Entsetzens herrschte. Das Entsetzen der mittlerweile über Achtzigjährigen unterschied sich vom eher ungläubigen Staunen der Jüngeren. Manche dieser Kriegskinder hörten auf zu sprechen, andere wurden in den Nächten von Bildern gepeinigt, die sie längst vergessen glaubten. Meine damals 85jährige Mutter erklärte, dass all die Kraft und Energie, die sie aufgebracht hatte, um die Erlebnisse des Kriegsendes 1945 zu vergessen, über Nacht aufgebraucht war.
Der Krieg war wieder präsent in den Körpern vieler alter Menschen. Völlig unerwartet, knapp achtzig Jahre nach Kriegsende, wurden sie von den Phantomschmerzen des Krieges gepeinigt.
Ein anderer Krieg…
Der Film "Afterwar" der dänischen Regisseurin Brigitte Stærmose zeigt die Folgen eines anderen Krieges, zeigt andere Kriegskinder. Es geht es um den Kosovokrieg, der nicht selten euphemistisch „Konflikt“ genannt wird. Der Krieg dauerte vom Februar 1998 bis zum Juni 1999 und war in Ursprung, Verlauf und letztlich seinen Folgen Teil der Jugoslawienkriege, die im Frühsommer des Jahres 1991 begonnen hatten.
Im Jahr 1999 waren Hunderttausende Einwohner*innen des Kosovo auf der Flucht. Stærmose zeigt ganz am Anfang des Films und stark verpixelt, die längst von anderen Kriegsbildern überlagerten Aufnahmen dieser Fluchtbewegung. Es wurden über 650 Ortschaften ganz oder teilweise zerstört, 10.000 Kosovar*innen kamen ums Leben.
Bis heute gilt der Einsatz der NATO-Streitkräfte von März bis Juni 1999 und die Bombardierungen serbischer Ziele, als hoch umstritten, ist er für die einen Kriegsverbrechen, für die anderen Befreiung und der Anfang vom Ende des Krieges.
In Stærmoses Film geht es jedoch nicht um den Kriegsverlauf, nicht um Schuld, schon gar nicht um Moral, nicht um die Motive des Krieges. Es geht nicht einmal um genau diesen Krieg, es könnte jeder andere sein.
Die Regisseurin will vielmehr mit einem weit verbreiteten Irrglauben brechen: der Idee, dass Kriege beendet sind, wenn nicht mehr gemordet, geschossen oder bombardiert wird.
…und andere Kinder
Die Protagonist*innen des Films sind Kinder, zunächst. In den fünfzehn Jahren, die die Arbeiten am Film andauern, werden sie zu Erwachsenen.
Es sind fünf Kinder (Gezim Kelmendi, Xhevahire Abdullahu, Shpresim Azemi, Besnik Hyseni, Luan Jaha), die ihre Geschichte und die ihrer Eltern und Geschwister erzählen. Sie tun dies flüsternd mit direktem Blick in die Kamera, oft an den zerstörten Unorten des Krieges: In Tunneln, an Straßenrändern und Ruinen, in schäbigen Hotels. Wir sehen in die Augen dieser Kinder, erkennen eine unendliche Erschöpfung darin. Sie berichten vom Hunger und von der Scham ihrer Eltern, die für das Überleben der Familie nicht mehr sorgen können. Wir erfahren, wie sie die Bombardierung ihres Heimatortes überlebt haben und dass die Angst sie noch immer zerfrisst, täglich. Die Angst ist immer da, auch jetzt, obwohl der Krieg "beendet" ist.
Die Kamera fokussiert auf die Gesichter, die Augen: alte, fast erloschene Augen in Kindergesichtern, kein Lächeln, nirgendwo.
Während der Dreharbeiten zu einem (Kurz-)Film im Jahr 2009 hatte Stærmose die Kinder in Pristina kennengelernt, damals verkauften sie Zigaretten und Erdnüsse auf der Straße. Diese Szenen finden sich nun in „Afterwar“ wieder. Die Bilder in denen die Kinder, übermüdet und hungrig im winterlichen Pristina umherlaufen schmerzen körperlich. Stærmose erlaubt uns in keiner der 85 Minuten, die der Film dauert einen einfachen Weg heraus aus der Betrachtung des Leids und es gelingt. Im Kinosaal wird nunmehr flach geatmet.
Gegenwart
Fünfzehn Jahre nach Beginn der Dreharbeiten nimmt Stærmose den Faden wieder auf, sie hat ihn nie abreißen lassen und den Kontakt zu den Kindern über die Jahre aufrechterhalten. Nun sind es keine Kinder mehr, sondern junge Erwachsene. Der Kosovokrieg gilt seit über zwanzig Jahren als beendet und ist dennoch in jeder Szene spürbar.
Knapp zwei Millionen Menschen leben im Kosovo, in einer, der Begriff ist dehnbar, parlamentarischen Demokratie. Der völkerrechtliche Status des Landes ist umstritten. Die Jugendarbeitslosigkeit des Landes liegt bei 70%. Das heißt, die nunmehr jungen Erwachsenen kämpfen sich weiter durch, in einem Land ohne soziale Sicherheiten, letztlich ohne Zukunftschance. Sie sprechen wieder in die Kamera und formulieren ihre Wünsche. Sie wünschen nicht viel, vom Westen Europas aus gesehen sind es Selbstverständlichkeiten: Es ist vor allem Frieden und die Möglichkeit sich ernähren zu können, schließlich in einer richtigen Wohnung zu wohnen. Sie arbeiten mittlerweile auf dem Bau, gehen putzen oder sehen keine andere Möglichkeit, als ihren Körper zu verkaufen. Die Szenen in denen, zuerst noch das Kind, dann eine junge Frau davon berichtet, was sie fühlt, wenn sie sich mit Sexarbeit über Wasser hält, gehören zu den erschütterndsten des Films. Selbst mit dem Wissen um die Inszenierung wird klar, wie real, die dahinterstehenden Realität ist und wie Dissoziation die einzige Möglichkeit bleiben muss, um dem zu entgehen.
In der Gegenwart der jungen Erwachsenen fallen keine Bomben, der Hunger scheint gedämpft und doch ist es nicht viel, was sie erwartet. Einige von Ihnen fliehen entlang der gefährlichen Balkanroute, andere werden tiefgläubig, der erste wurde bereits aus Deutschland wieder abgeschoben.
"Afterwar" ist, folgt man der Pressemappe zum Film, weder eine Dokumentation, noch ist es gänzlich Fiktion. Stærmose ist Spielfilmregisseurin und arbeitet in "Afterwar" mit den klassischen Mitteln des Spielfilms. Allein um die Protagonist*innen zu schützen hat die Regisseurin die Geschichten der Kinder fiktionalisiert. Sie liefern mit ihren in die Kamera gesprochenen Texten jeweils sehr intime, emotionale Szenen. Aber es sind nicht ihre eigenen Geschichten. Grundlage für das Drehbuch und die gesprochenen Texte waren zahlreiche transkribierte Interviews, die die Regisseurin im Kosovo seit 2009 geführt hat.
Im Interview erklärt sie, dass die Begegnung mit den Kindern sie zutiefst verändert hat. Ihr Wunsch sei es, dass es auch den Zuschauer*innen so gehen möge. Vielleicht gelingt es.
Wer in die Zukunft schauen will, schaue in diese Gesichter. Es ist egal, wo sich der Krieg gerade befindet, er wird noch lange nicht beendet sein. Die Texte der Kinder werden überall sehr ähnlich klingen.
Afterwar. Buch und Regie Brigitte Stærmose (mit Gëzim Kelmendi, Xhevahire Abdullahu, Shpresim Azemi, Besnik Hyseni, Luan Jaha)
Dänemark/Kosovo/Schweden/Finnland 2024
Weltpremiere auf der 74. Berlinale im Februar 2024