von Martina Winkler

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1. Dezember 2014

Die Geschichte der Sängerin Marta Kubišová enthält alles, was ein Filmemacher sich nur wünschen kann: eine schöne Frau mit einer Ausnahmestimme und schweren Schicksalsschlägen, ein politisches Drama inklusive Unterdrückung und Freiheitskampf sowie ein Aufsehen erregendes Comeback. Ein Spielfilm mit einem solchen Stoff liefe sicherlich Gefahr, als „konstruiert“ und „kitschig“ disqualifiziert zu werden.
Die tschechische Filmemacherin Olga Sommerová aber hat einen interessanten und differenzierenden, dabei durchaus auch berührenden und unterhaltsamen Dokumentarfilm mit dem Titel „Magický hlas rebelky“ („Die magische Stimme der Rebellin“) gedreht. Während Marta Kubišová in Deutschland – wenn überhaupt – nur einem kleinen Publikum vertraut ist, sind sie, ihre Stimme und ihre Lebensgeschichte in der Tschechischen Republik weithin bekannt. Sommerovás Film enthüllt also keine Geheimnisse, er erzählt keine unbekannte Geschichte, er bringt nicht einmal bemerkenswerte neue Informationen im Detail. Dass er dennoch gedreht wurde, – und auf welche Weise – weist somit auf interessante Aspekte der Gegenwarts- und Vergangenheitsbilder in Tschechien hin.

Kubišová war in den 1960er Jahren ein Schlager- und Chanson Star, die vor allem mit Cover-Versionen englischer, französischer und nordamerikanischer Titel, mit Schmollmund, schwarzgeschminkten Augen und Minirock, aber auch mit einer tiefen, etwas heiseren und seltsam gebrochenen Altstimme das Publikum in den Bann zog. Sie trat alleine oder auch gemeinsam mit Helena Vondráčková und Václav Neckář auf – in Filmen, auf der Konzertbühne sowie als legendäres Pop Trio „Golden Kids“. Unter anderem spielte und sang Kubišová in der Unterhaltungsserie „Píseň pro Rudolfa III.“, einer unter dem Etikett „Musikál“ entwickelten Fernsehproduktion Jaroslav Dietls. Beliebte Schauspieler und Schlagersänger – unter ihnen auch Udo Jürgens als Gast aus Deutschland – zelebrierten in trivialen Szenen die neue Freiheit zum Feiern und Träumen. Die siebte und vorletzte Episode wurde im Sommer 1968 vorbereitet – es ging dabei um eine sehr freie Adaption des „Grafen von Monte Christo“. Marta Kubišová nahm dafür ein Lied mit dem Titel „Modlitba“ („Gebet“) auf. Der Text zitierte aus einer Schrift Jan Amos Komenskýs: „Möge Frieden in diesem Land herrschen, mögen Angst, Hass und Zwist vergehen – nun, da Deine verlorene Herrschaft wieder zu Dir, mein Volk, zurückkehrt“,[1] und nahm damit Bezug auf die frühneuzeitliche Geschichte Böhmens und zugleich auf die aktuelle Situation des „Prager Frühlings“.[2]  Die Tonaufnahme und erste Verbreitung fanden jedoch statt, als die Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei bereits begonnen hatte, und das Lied wurde somit zu einer Art inoffizieller Hymne der Widerstandsbewegung 1968.

Kubišová feierte zwar auch nach dem August 1968 noch einige Erfolge und gewann den in der Tschechoslowakei alljährlich mit großem Presseecho vergebenen nationalen Schlagerpreis „Goldene Nachtigall“. Doch die beginnende „Normalisierung“ in Politik und Kultur sollte sich bald dramatisch auf ihre Karriere und ihr Leben auswirken: Die Sängerin verweigerte eine Distanzierung von der Reformbewegung des „Prager Frühlings“. In der Folge erhielt sie 1970 ein Auftritts- und Berufsverbot, wurde – unter anderem durch fingierte pornografische Fotografien – öffentlich diffamiert und stand unter ständiger Beobachtung. Hinzu kam ein persönlicher Schicksalsschlag: Nach sieben Schwangerschaftsmonaten verlor sie durch eine dramatische Frühgeburt ihr erstes Kind und überlebte selbst nur knapp.

All diese Ereignisse schildert die Regisseurin Olga Sommerová mithilfe von originalen Bild- und Tonaufnahmen und in Gesprächen Kubišovás mit Freunden, Kollegen und ihrer Tochter Kateřina. Bemerkenswert und diskussionswürdig ist jedoch vor allem die Darstellung des weiteren Geschehens, der Zeit zwischen 1970 und 1989. Kubišová lehnte die Möglichkeit zur Emigration ebenso ab wie die wiederholten Angebote des Regimes, sich loyal zu erklären und wieder singen zu dürfen. 1977 unterschrieb sie die Charta 77, kurze Zeit darauf übernahm sie die Funktion der Charta-Sprecherin. Dieser Weg in den Dissens erscheint bei Sommerová ausgesprochen unspektakulär: Ebenso wie das Lied „Modlitba“ zwar nicht unpolitisch war, aber ohne die Invasion vermutlich niemals seine Bedeutung erlangt hätte, wäre Kubišová ohne die vielen Zufälle nicht zu einer politischen Ikone geworden. Bei ihrem für das Fernsehen festgehaltenen Treffen mit Alexander Dubček Ende August 1968 erscheint sie auch eher wie ein schwärmerischer Teenager, der Dubček Blumen überreicht, als wie eine politisch engagierte Frau. Die mit dem Sieg der tschechoslowakischen Eishockey-Mannschaft über die sowjetische bei der Weltmeisterschaft im März 1969 verbundenen Unruhen gehen an ihr vorbei, „denn ich hatte schon mein Haarteil abgenommen und war abgeschminkt und wollte nicht mehr rausgehen“.

Wenn sich Václav Havel in einem Filmausschnitt  aus dem Jahr 1989 rückblickend mit großer Begeisterung über Kubišová äußert, von ihrer moralischen Entschiedenheit und menschlichen Größe bei der Unterstützung „einer kleinen Gruppe, welche das Licht der Freiheit weitertrug“, spricht, so bildet er mit solchem Pathos in Sommerovás Narrativ eine Ausnahme. Der Grundtenor ist ein anderer: Für sich selbst zieht Kubišová in diesem Film das Fazit, ihr Leben sei keineswegs heldenhaft gewesen, es sei ihr nur um die Erhaltung einer eigenen, persönlichen Freiheit gegangen. Die Charta 77 unterschrieb Kubišová „sofort, weil ich mit den Gedanken vollkommen einverstanden war“ – und vergaß die Aktion zunächst erst einmal wieder. Nach dem Tod des Charta-Initiators Jan Patočka infolge schwerer Haftbedingungen sang Kubišová allerdings das Lied „Tvé jméno Jan“ („Dein Name Jan“) und wurde mehr und mehr zu einem Teil der oppositionellen Bewegung. Sie übernahm die Sprecherfunktion für die Bewegung in einer Zeit, in der sie – kinderlos und ohne erfüllende Berufstätigkeit – „nichts zu verlieren hatte“. Als sie erneut schwanger wurde, gab sie das Amt denn auch sofort wieder auf.

Das hier gezeichnete Bild entspricht dem, was die Soziologin und Oppositionelle Jiřina Šiklová bereits 1989 in ihrer Beschreibung der Dissidentenbewegung analysiert hat: Die Entscheidung, ob jemand zum Dissidenten, zum Regimeanhänger oder zum Teil der großen „grauen Zone“ wurde, hing nicht nur von politischen und moralischen Fragen ab, sondern mindestens ebenso häufig auch von Gesundheitsproblemen, dem Familienstand, dem Bekanntenkreis, ökonomischen Notwendigkeiten und Rücksichtnahmen.[3]  Und es ist wohl kein Zufall, dass die Analysen und Erinnerungen einer Soziologin und Genderforscherin, einer Sängerin und einer weiblichen Filmemacherin so gut zusammenpassen: Die tschechische Dissidentenbewegung war keineswegs geschlechtsneutral, und Frauen neigten eher zu pragmatischen, auch durch die Interessen ihrer Kinder und Familien  bestimmten Entscheidungen und Aktionen.[4] Eine weitere – ebenfalls weibliche – Stimme unterstützt diese Darstellungsform ebenfalls: Die Schriftstellerin und Dissidentin Eva Kantůrková schilderte 1980 eine Episode von den Dreharbeiten zur Fernsehsendung „Jsme s vámi, buďte s námi“ (Wir stehen zu Euch, steht Ihr auch zu uns!), mit der Prominente im September 1968 die tschechoslowakische politische Elite zum Handeln gegen die Besatzung auffordern wollten. Um der Aufnahme mehr Dramatik zu geben, bestieg Marta Kubišová ein hohes Baugerüst. Auf die Frage, ob sie keine Angst verspürt habe, antwortete Kubišová mit einem Verweis auf ihre starke Kurzsichtigkeit: Sie habe schlichtweg nicht in die Tiefe sehen können. Für Kantůrková  ergab sich daraus die Erkenntnis, „dass außergewöhnliche Taten oft unbewusst entstehen“.[5]

Kubišovás Zeit im Dissens wird im Nachhinein nur andeutungsweise als ein „Leben in der Wahrheit“ geschildert; wichtiger sind das Zusammensein mit Freunden, die intellektuelle und künstlerische Inspiration und die wertvollen Gespräche. „Wenn ich Sängerin im Theater Rokoko oder bei den Golden Kids geblieben wäre, hätte ich sicher nicht so viele wundervolle Menschen getroffen. Für mich war das eigentlich ein Gewinn.“

Sommerová erzählt keine Heldinnengeschichte, und ebenso wenig zeichnet sie negative Personen in ihrem Narrativ. Václav Neckář und Iva Janžurová, beide ehemalige Unterzeichner der Anticharta, mit der die tschechoslowakische Bürgerrechtsbewegung abgelehnt und diffamiert wurde, treten im Film als Gesprächspartner und offensichtlich Freunde Kubišovás auf. Eher nebenbei äußert Janžurová ihre Bewunderung für Kubišovás Entschiedenheit. Sie selbst habe, wie viele andere, eher unentschieden geschwankt und versucht, sich nicht zu kompromittieren. „Ich weiß nicht, ob das zu etwas nütze war.“ Frühere oder aktuelle Konflikte werden nicht thematisiert, niemand wird des Opportunismus bezichtigt oder gar des Verrates. Dies gilt auch für solche prominenten Persönlichkeiten, mit denen es unmittelbare politische oder persönliche Differenzen gab, wie beispielweise Helena Vondráčková[6] oder den politisch ewig lavierenden Karel Gott.

Auch die Entscheidung von Jan Němec, Kubišovás erstem Ehemann, in die Emigration zu gehen und damit die Ehe faktisch zu beenden, wird als persönlicher und beruflich motivierter Schritt geschildert – „Honza musste einfach arbeiten“, und eine Tätigkeit als Regisseur in der normalisierten Tschechoslowakei war für Němec, das „enfant terrible“ des tschechischen neuen Films, nicht denkbar. Umgekehrt erscheint auch Kubišovás Ablehnung einer Ausreise als individuelle, emotional motivierte Entscheidung mit Augenzwinkern: „Ich sagte ihnen, ich werde mir den Berg Klet´ nicht von der anderen Seite anschauen. Und außerdem gibt es nirgends auf der Welt so gute belegte Brötchen wie bei uns. Ich lehne jegliche Emigration ab.“

Herrschaft und Unterdrückung gehen in Sommerovás Narrativ von einer anonymen, namenlosen, aber umso mächtigeren Gruppe aus. „Das Regime“ oder einfach „sie“ (oni) – diese unspezifische Schuldzuweisung ist durchaus bequem und lässt komplexeren Deutungen, wie sie seit einer Weile in der tschechischen Geschichtswissenschaft entwickelt werden, keinen Raum.[7] Die persönliche Haltung der Sängerin – im Film durchaus nicht unsympathisch – korrespondiert so mit einer nicht unproblematischen Geschichtsauffassung. Vorwürfe kommen nur in einem einzigen Fall auf: Angesichts der Tatsache, dass Kubišová von ihrem zweiten Ehemann Jan Moravec im Auftrag der Staatssicherheit emotional erpresst und ausspioniert wurde. Hier kommt mit Petr Koura tatsächlich auch ein Historiker ins Spiel: In einer Schlüsselszene gehen Koura und Kubišová gemeinsam ihre Staatssicherheits-Akte „Chalupnice“ (Deckname für Kubišová) durch; dabei wird die Enttäuschung der Sängerin deutlich, aber auch ihre Zurückhaltung bei der Bewertung solchen Verhaltens.

Wenn 1968 und die Folgen eine Zäsur in Kubišovás Leben und Karriere bildeten, so wurde 1989 zum zweiten radikalen Einschnitt. Im Rahmen der Demokratiebewegung wurde auch Kubišová wieder auf die Bühne geholt – und in die Öffentlichkeit. Am 21. November 1989 sang sie ihr „Gebet“ vom Balkon des Melantrich-Hauses auf dem Prager Wenzelsplatz.[8] Die „Goldene Nachtigall“ von 1969, die sie gewonnen hatte, aber nicht öffentlich entgegennehmen durfte, wurde ihr nun noch einmal überreicht. Der Film endet somit hoffnungsfroh, aber auch melancholisch und von politischer Skepsis bestimmt. Dies entspricht der durchgehenden Ambivalenz der filmischen Erzählung Sommerovás. Einerseits werden Filmausschnitte und Musik als Topoi des kollektiven Gedächtnisses verwendet, die Nostalgie, Augenzwinkern und zuweilen Gänsehaut beim Zuschauer erzeugen. Die identitätsstiftende Ebene des Films ist hier nicht zu übersehen. Andererseits werden gerade diese Topoi infrage gestellt: Kubišová gibt nicht nur zu, dass sie das immer wieder gewünschte „Gebet“ allmählich etwas satt hat („das ist eben mein Satisfaction“), sondern spricht auch Gefühle des Zweifels und der Hoffnungslosigkeit an. Denn das Versprechen, das sie ihrem Publikum „seit 45 Jahren“ gebe, die Herrschaft werde zum Volk zurückkehren erfülle sich noch immer nicht. Die Position „auf der Barrikade“ behagt ihr nicht immer. Doch sie steht dort, hält die Flagge und lächelt. „Was kann man dort sonst schon tun?“

 

Magický hlas rebelky (englischer Titel: The Magic Voice of a Rebel).
Regie: Olga Sommerová. Dokumentarfilm, Tschechische Republik, 90 Minuten. Produktion 2014:
Der Film lief zunächst auf Festivals, ab 17.7. 2014 in tschechischen Kinos. Die DVD (tschechische OV mit englischen Untertiteln) erschien am 19.11. 2014.
Trailer




[1] Bei Komenský heißt es: „vláda věcí tvých k tobě se zase navrátí, ó lide český“.
[2] Ausschnitt aus der Fernsehserie mit Kubišovás Auftritt.
[3] Jiřina Šiklová, „The 'Gray Zone' and the Future of Dissent in Czechoslovakia", in: Social Research 57 (1990), Nr. 2, S. 347-369.
[4] Markéta Spiritová, „Ich habe lieber gedient als zu schreiben." Zur Rolle der Frau in dissidentischen Netzwerken in der Tschechoslowakei nach 1968, in: Klaus Roth (Hg.), Soziale Netzwerke und soziales Vertrauen in den Transformationsländern: ethnologische und soziologische Untersuchungen, Wien: LIT 2007, S. 101-121;  Filip Horáček, "Příběh totality očima žen", in: A 2, 2006, Nr. 7.
[5] Eva Kantůrková, Sešly jsme se v této knize. Olga Havlová, Marie Rút Křížková, Elzbieta Ledererová, Zdena Tominová, Gertruda Sekaninová-Čakrtová, Anna Šabatová, Věra Jirousová, Jiřina Hrábková, Jarmila Běliková, Libuše Šilánova, Dana Němcová, Marie Kubišová, Köln: Index 1980, S. 177.
[6] Dass die juristischen Grabenkämpfe, die Vondráčková in den vergangenen Jahren gegen Kubišová ausgefochten hat, nicht thematisiert werden, mag rechtliche Gründe haben. Erwähnenswert ist dennoch, dass sowohl Neckář als auch Janžurová Kubišová sie in diesem Konflikt unterstützten und sogar eine offene Erklärung gegen Vondráčkovás „Gier“ unterzeichneten. Im Film werden jedoch weder politische noch wirtschaftliche Gründe für Freundschaft oder Gegnerschaften zugelassen.
[7] Zentral: Michal Pullmann, Konec experimentu: přestavba a pád komunismu v Československu, Praha: Scriptorium 2011.
[8] Filmmitschnitt