von Christoph Plath

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1. November 2015

Veröffenlicht: November 2015

 

129 Tote und über 350 Verletzte. Dies ist zum jetzigen Zeitpunkt die grauenvolle Bilanz der Anschlagsserie, die Paris am Abend des 13.11.2015 erschütterte. Das Ausmaß des Terrorangriffes, der sich explizit gegen das alltägliche Leben der Pariser Bevölkerung richtete, schockierte und traumatisierte nicht nur Frankreich und Europa, sondern führte zu einer nahezu beispiellosen weltweiten Solidarisierung. Unzählige Staatsoberhäupter und Würdenträger drückten ihre Bestürzung und Anteilnahme aus, Menschen auf der ganzen Welt gingen auf die Straße oder legten Blumen an französischen Konsulaten nieder, unter den Hashtags #JeSuisParis, #NousSommesUnis und #PrayforParis äußerten Twitternutzer ihre Anteilnahme, und Wahrzeichen von Berlin bis Shanghai erstrahlten in den Farben der Tricolore. Die Welt trauerte mit Frankreich.

129 Tote und über 350 Verletzte. Eine kaum vorstellbare Opferzahl. Und dennoch erzählen diese Zahlen lediglich einen Teil der Geschichte. Denn nur einen Abend zuvor rissen zwei parallele Selbstmordanschläge in einer Geschäftsstraße im Beiruter Stadtteil Burdsch al-Baradschne mindestens 43 Menschen in den Tod und verletzten mehr als 200. Obwohl sich der sogenannte Islamische Staat auch zu diesen Anschlägen bekannte, diese also offenkundig mit denen in Paris in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, und obwohl sich wie in der gesamten islamischen Welt auch im Libanon zahlreiche Menschen mit den französischen Opfern solidarisierten,[1] blieb diese Geste von Europa und der Welt unerwidert. Weder gab es öffentliche Beileids- und Solidaritätsbekundungen, noch wurde Beirut – von wenigen Ausnahmen abgesehen - in die mediale Berichterstattung einbezogen. In nur zwei Tagen forderte der Terror des IS in zwei Städten mehr als 170 Opfer,[2] von denen die Welt 43 mehr oder minder vergaß.

Wie der libanesische Blogger Joey Ayoub völlig zutreffend bemerkt,[3] offenbart sich hier eine zweigeteilte Welt: Während es auf der einen Seite Opfer gibt, deren Tod deutlich wahrgenommen wird, existieren auf der anderen Seite diejenigen, deren Schicksal für die Welt bedeutungslos ist. Wie ist es anders zu erklären, dass „Die Toten von Paris“[4] Bilder und Geschichten erhalten, die Toten von Beirut jedoch in der Anonymität auf blanke Zahlen reduziert bleiben? Dass nicht die Anschläge insgesamt zu politischen Konsequenzen führen, sondern diese vornehmlich mit Bezug auf die Terrorakte von Paris diskutiert werden? Dieses Ungleichgewicht verweist unmittelbar auf Machtstrukturen, welche den globalen Süden fortwährend marginalisieren und die nicht zuletzt auch die Wahrnehmung der Welt bestimmen. Eben jene Anteillosen, um ein Bild des französischen Philosophen Jacques Rancière aufzugreifen, denen keine Stimme in den hegemonialen Diskursen der Welt zuteil wird, fallen in ihrer Namenlosigkeit auch im Tode aus der "symbolische[n] Ordnung der Gemeinschaft der sprechenden Wesen."[5] Oder anders ausgedrückt: Wie im Leben bleibt der subalterne Andere auch im Angesicht tödlicher Gewalt ohne wahrnehmbare Repräsentation, ohne Stimme. Die Opfer des Terrors werden hierdurch jedoch, wenn auch unbewusst, hierarchisiert. Wenn aber aus diesem Grunde Menschenleben „weniger wert“[6] erscheinen als andere, dann ist dies ein unerträglicher Zustand.

Ohne jeden Zweifel liegt den meisten von uns Paris näher als Beirut. Die meisten haben die Stadt schon einmal besucht oder kennen diese aus Filmen oder Abbildungen. Aber kann das wirklich ein Grund sein, den Opfern des gleichen Terrors an anderen Orten das Mitgefühl zu verweigern? Auch oder vielmehr gerade hinsichtlich der eigenen Erschütterung und Wut angesichts der schrecklichen Nachrichten aus Paris wäre es möglich und naheliegend gewesen, Beirut in das Gedenken mit einzubeziehen. So hätte die symbolisch wichtige Gedenkminute am Montag nach den Anschlägen Paris und Beirut gelten müssen, wie es selbstverständlich der Fall gewesen wäre, hätten sich die anderen Attentate beispielsweise in Madrid ereignet. Im Übrigen sei an dieser Stelle daran erinnert, dass, auch wenn es mitunter so erscheinen mag, der Nahe Osten im Allgemeinen und Beirut im Besonderen Europa nicht so fern sind. Obwohl die epistemische und ontologische Abgrenzung zu einem radikal anderen „Orient,“ deren Kontinuitäten sich bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, maßgeblich dazu beigetragen hat, „Europa (oder den Westen) als sein Gegenbild, seine Gegenidee, seine Gegenpersönlichkeit und Gegenerfahrung zu definieren“[7] und derart eine gesamteuropäische Identität zu schaffen, waren beide Regionen allein aufgrund der geografischen Lage stets in politischer, kultureller und ökonomischer Hinsicht eng verflochten.[8] Die mit Migrationsbewegungen, ökonomischen Abhängigkeiten und politischen Aushandlungsprozessen einhergehenden wechselseitigen Wissens- und Kulturtransfers zugunsten einer eurozentrischen Selbstversicherung ignorieren zu wollen, ist besonders aus historischer Perspektive unredlich. In kaum einer anderen Metropole zeigt sich diese Verbindung deutlicher als in Beirut. So galt die Stadt nicht ohne Grund bis zu dem verheerenden Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 als das „Paris des Nahen Ostens,“ war für Europäer ein überaus populäres Urlaubsziel und stellte über lange Zeit als bedeutsames Finanz- und Handelszentrum die Drehscheibe zwischen Europa und dem Nahen Osten dar.

Dieses Verbindende gilt es in Zeiten, in denen konfrontative und kulturalistische Rhetorik zunehmend salonfähig wird, zu betonen. Mehr denn je muss die konstruierte Unterscheidung zwischen „uns“ und „denen,“ welche sowohl die mediale als auch die wissenschaftliche Perspektive auf die Welt unvermindert prägt, infrage gestellt werden. Und dies nicht nur, weil eine solche Sichtweise einer zunehmend global integrierten Welt mit mannigfaltigen Verflechtungen nicht einmal annähernd gerecht wird. Nicht nur, weil auf diese Weise adäquate Analysen unmöglich werden, beispielsweise wenn angesichts des islamischen Fundamentalismus im öffentlichen Diskurs der Rückgriff auf die Dichotomie zwischen Zivilisierten und Barbaren diesen als der Moderne äußerliches, anachronistisches Phänomen erscheinen lässt und so aus dem Blick gerät, dass dieser tatsächlich jedoch ein Kind der Moderne selbst ist.[9] Sondern vor allem, weil ansonsten denjenigen Kräften auf beiden Seiten in die Hände gespielt wird, die durch die Herausstellung von Gegensätzen, die Reproduktion stereotypisierender Zuschreibungen und die Heraufbeschwörung von Bedrohungsszenarien nur allzu gerne einen Kampf der Kulturen zwischen der „westlichen“ und der „islamischen“ Welt herbeiführen wollen. Genau diese Gefahr birgt aber auch eine Exklusion der Beiruter Opfer. Eine Einbeziehung aller Anschläge würde noch einmal in aller Deutlichkeit unterstreichen, was zuvor ohnehin offensichtlich gewesen sein sollte: Der Hass des sogenannten Islamischen Staates wie auch des islamistischen Terrors insgesamt richtet sich nicht allein gegen eine wie auch immer geartete „westliche Zivilisation,“ sondern gegen jedes Gemeinwesen, das der Durchsetzung einer fundamentalistischen Ordnung entgegenzustehen scheint. Dies auszublenden würde bedeuten, die globale Strategie des islamistischen Terrors zu verkennen, und nicht zuletzt würde die Unterscheidung zwischen „westlichen“ und „nichtwestlichen,“ zwischen „unseren“ und „ihren“ Opfern dem IS noch im Augenblicke seines Niederganges einen signifikanten Erfolg ermöglichen.

In den vergangenen Tagen ließ sich, ausgehend von der Reaktion in den sozialen Netzwerken, durchaus eine zunehmende Sensibilisierung für diese Problematik feststellen, die sich auch in der stetig zunehmenden Zahl von entsprechenden Medienbeiträgen äußert. Hier liegt die Chance in der Krise, die Möglichkeit dem Grauen des Terrors eine produktive Erkenntnis abzuringen. Wenn die Ereignisse des 12. und 13. November dazu beitragen könnten, dass die Opfer von Gewalt und Krieg gleichermaßen und ohne Hierarchisierung im öffentlichen Diskurs Anerkennung und Solidarisierung erfahren würden, dann wäre dies ein bedeutsamer erster Schritt. Denn die Blindheit gegenüber dem Leid der Anderen ist letztlich das Symptom eines allgemeineren und tiefgreifenderen Problems, begründet sich diese doch mit derselben Selbstbezogenheit, die auch dazu führt, dass die globalen Konsequenzen des eigenen politischen und ökonomischen Handels oftmals vollkommen aus dem Blick geraten. In einer globalisierten Welt, in der es in vielerlei Hinsicht kein Außen mehr gibt, erscheinen jedoch eine kritische Revision der eigenen Grundannahmen und eine Erweiterung der Perspektive auch im eigenen Interesse unumgänglich. Ob nun die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, die desaströsen Effekte sozialer Ungleichheit und ökonomischer Asymmetrien in weltweitem Maßstab oder die ökologischen Folgen des Klimawandels – derartige Herausforderungen kennen keine staatlichen oder regionalen Grenzen und können nur durch die Preisgabe regionaler Egoismen und eine hiermit einhergehende Berücksichtigung der Interessen des globalen Südens bewältigt werden. Dem Anderen Empathie und Solidarität entgegenzubringen, hieße auch, ihn als Sprecher ernstzunehmen, ihn in den universalen Diskurs einzuschließen und für diesen so die Möglichkeitsbedingung der Repräsentation und Teilhabe zu schaffen. Den 200 Opfern von Paris, Beirut und Bagdad gleichermaßen zu gedenken, wäre diesbezüglich in jedem Falle ein guter Anfang.




[1] Böhm, Andrea: Wir sind alle Beirut, in: Zeit Online, [online] 14.11.2015. [zuletzt abgerufen am 18. 11. 2015]
[2] Tatsächlich ist selbst diese Zahl unzutreffend, denn ebenfalls am 13.11. wurden bei Anschlägen auf eine Beerdigung in Bagdad und eine schiitische Einrichtung in Sadr City insgesamt 26 Menschen getötet und Dutzende verletzt. Auch zu diesen Angriffen bekannte sich der IS.
[3] Ayoub, Joey: The Streets of Paris Are as Familiar to Me as the Streets of Beirut, in: GlobalVoices, 14.11.2015. [zuletzt abgerufen am 18. 11. 2015]
[4] Maatz, Björn: Die Toten von Paris , in: Zeit Online, [online] 16.11.2015. [zuletzt abgerufen am 18. 11. 2015]
[5] Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. 2014, S. 36.
[6] Fares, Elie: Sind arabische Leben weniger wert?, in: Süddeutsche Zeitung, [online] 16.11.2015. [zuletzt abgerufen am 18. 11. 2015]
[7] Said, Edward W.: Orientalismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 10.
[8] Dies verdeutlicht unter anderem die Arbeit der Forschungsgruppe Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa.
[9] Vgl. hierzu neben vielen: Prusch, Markus J.: Fundamentalismus. Das „Projekt der Moderne“ und die Politisierung des Religiösen, Wien 2008. Dies verdeutlicht allein eine Analyse der Organisationsformen islamistischer Terrornetzwerke. Wie Jodi Vittori überzeugend ausführt, lassen sich sowohl die dezentrale, flexible und komplexe Struktur als auch das globale ökonomische Engagement von Al Quaida im Wesentlichen mit multinationalen Konzernen vergleichen. Vgl. hierzu: Vittori, Jodi M.: Geschäftszweck: Terror. Al Quaida als multinationales Unternehmen, in: Internationale Politik, Jg. 60, 03/2015, S. 48 – 55.