Ernest Sharrock
Es war der gottverlassenste Ort, den ich je gesehen habe! Es war die Hölle auf Erden....
Möchten Sie mir etwas aus Ihrem Leben vor dem Krieg erzählen?
Ich wurde am 28. Januar 1919 in Eccles, Lancashire in Großbritannien geboren. Ich hatte eine Ausbildung zum Maschinenbauer gemacht und fuhr seit 1940 als Schiffsingenieur zur See. Meine Zeit auf See wurde 1941 beendet, als wir von einem deutschen Kriegsschiff versenkt wurden.
Wir wurden an Bord der "Gneisenau" genommen und von dort nach Brest gebracht.
Danach wurden wir nach Sandbostel gebracht, fünf Tage lang, eingepfercht in Viehwaggons, ohne sanitäre Einrichtungen, eskortiert von deutschen Soldaten. Sie gaben uns ein wenig Wasser und kaum Essen. Wir mussten nach Wasser fragen, wenn wir in einen Bahnhof einfuhren. Wir fragten die Leute durch eine kleine Öffnung im Dach. Sie gaben uns etwas Wasser, aber sonst nichts. Sie können sich vorstellen, in welchem Zustand wir uns bei der Ankunft befanden.
Wir kamen in Bremervörde an und liefen zu Fuß von dort nach Sandbostel, im strömenden Regen. Wir waren ausgehungert und erschöpft und durch und durch nass. Wenigstens wusch uns der Regen wieder etwas sauber. Und dann waren wir Gefangene in Sandbostel.
Als wir ankamen, wurden wir in Baracken gebracht. Es war der gottverlassenste Ort, den ich je gesehen habe! Es war die Hölle auf Erden. Sie gaben den Menschen kaum Nahrung und zwangen sie zur Arbeit. Damit nahmen sie bewusst in Kauf, dass viele sterben würden. Alle jungen Männer mussten arbeiten, ich bin auch zur Arbeit gegangen. Ich weiß nicht genau, wo es war, irgendwo bei der Neulandgewinnung. Wir gruben Wurzelwerk aus morastigem Wasser. Es war eine knochenharte Arbeit, besonders, wenn du nicht ausreichend genährt warst. Jeder, der dort arbeitete, fiel in Ohnmacht.
In Stalag X B konnten wir Bahnschienen sehen, die durch die Mitte des Lagers gingen. Kleine, enge Bahnschienen, ungefähr zwei Fuß breit. Während des ganzen Vormittags schoben sie kleine Waggons mit Toten nach draußen zum Massengrab. Ich denke, das lag irgendwo außerhalb. Die meisten der Toten waren Serben, Letten, Russen und Kroaten. Es waren Menschen, die gekämpft hatten und gefangen genommen worden waren.
Sandbostel war fürchterlich. Im Sommer war es heiß, der Wind hat geblasen und den Sand aufgewirbelt, es war ein sehr sandiger Boden. Die Toiletten waren übergelaufen, vollgeregnet. Und diese Fliegen, überall waren Fliegen. Zu unserem Glück bekamen wir Essenspakete. Es hing von den Alliierten ab, ob der Zug von Schweden durchkam. Die Essenspakete sollten eine Woche reichen. Wir warfen trotzdem Essen zu den Russen rüber, die direkt neben uns waren. Die waren wirklich dankbar, das sage ich Ihnen, die hatten dort kaum Nahrungsmittel. Das gefiel den Wachen nicht, aber wir haben sie ignoriert und es weiter rüber geworfen.
Wir hatten eine Schutzmacht. Das war Amerika, weil sie nicht am Krieg beteiligt waren. Das waren Neutrale oder angeblich Neutrale. Sie waren unsere Schutzmacht. Sie haben überwacht, ob wir als Kriegsgefangene korrekt gefangen gehalten wurden, im Einklang mit der Genfer Konvention. Sie kamen zur Besichtigung und sagten direkt zur Lagerleitung: „Schaffen Sie diese Leute hier raus und zwar schnell! Dies entspricht nicht der Genfer Konvention.“ Es gab festgeschriebene Regeln für Kriegsgefangene. Die Deutschen in Sandbostel ignorierten das komplett. Ich war neun Monate in Sandbostel und hatte schon 20 Kilo Gewicht verloren, als sie anfingen, Milag (Militärinterniertenlager) und Marlag (Marineinterniertenlager) Nord zu bauen. Nach neun Monaten wurden wir alle nach Milag und Marlag Nord in Westertimke transportiert, 4.500 Männer, alle kamen von den versenkten Schiffen der englischen Handelsmarine.
Weil wir jetzt in unserem eigenen Lager waren, organisierten wir alles selbst, was es im Lager gab. Wir hatten einen Lagerführer, die Deutschen zu jener Zeit bestanden darauf, dass es einen Oberen, einen Führer gab. Aber unabhängig von ihm, er war nur die Fassade, bildeten wir Komitees aus sechs Leuten, die das Lager am Laufen hielten.
Ich denke, hauptsächlich mussten wir mit der Langeweile fertig werden, weil wir keine Vorstellung hatten, wie lange wir dort bleiben müssten. Wir hatten keine Vorstellung, wer diesen Krieg gewinnen würde und was mit uns passieren würde, wenn wir den Krieg verlören. Wir befanden uns in der Schwebe und wussten nicht, was als Nächstes geschehen würde. Unter diesen Umständen liegen Hoffnung und Verzweiflung sehr nah. Wenn du dich von dieser Verzweiflung einnehmen lässt, hast du Glück, wenn du da wieder raus kommst. Wenn nicht, stirbst du einfach, weil es für dich keinen Grund mehr gibt zu leben.
Es gab fünf junge Ingenieure unter uns. Ich war einer davon. Wir entschieden uns, herumzugehen und alle alten Ingenieure zu fragen, ob sie uns ihr Wissen aus dem Maschinenraum vermitteln würden. Das könnte uns in unserem zukünftigen Leben helfen, wenn wir wieder zur See fahren würden. Wir waren gerade erst 20, ich war 22, und so organisierten wir uns eine Schule. Wir studierten Physik, Chemie und Mathematik, was wir eben für unsere Arbeit in der Zukunft brauchen würden. Die Deutschen waren sehr kooperativ und sehr, sehr hilfsbereit. Sie unterstützten uns mit Bleistiften und Papier. Und alle Bücher, die wir hatten, wurden uns von Eltern oder dem Roten Kreuz aus England geschickt. Die kamen immer an.
Das Einzige, was man an den Deutschen kritisieren kann: Einmal erhielten wir ein Cricketspiel, Cricket-Tore und -schläger. Und ein Deutscher, der für die Zensur verantwortlich war, hat den Schläger untersucht, ob dort etwas drin versteckt war. Und das ganze Cricketspielen war Mist ohne Schläger. Die deutschen Offiziellen waren sonst sehr gut zu uns. Sie waren sehr streng, aber einigermaßen gerecht. Wir mussten nur zum Appell am Morgen und zum Appell am Abend kommen, damit sie sehen konnten, ob alle da waren. Damit waren sie zufriedengestellt.
Erinnern Sie sich an Ihre Nummer?
Ob ich mich an meine Nummer erinnere? 89445, ja! Ich war dort vier Jahre und zwei Monate. Wir hatten dort viele Dinge, die das Leben sehr viel einfacher gemacht haben. Wir hatten ein Theater, machten Aufführungen, es gab Musicals. Es begann alles mit einem Männerchor, bei dem ich auch Mitglied war. Einhundert Männer in einem Männerchor. Es war ein exzellenter Chor. Dann kam da dieses Musical, und natürlich sollte ich die Frau spielen. Niemand wollte sich wie ein Mädchen anziehen, aber sie kamen ausgerechnet zu mir und meinten: „Du würdest ein gutes Mädchen abgeben!“ Wir bekamen viele Kommentare von anderen Typen dafür, deshalb sagten wir: „Oh, wir werden das Musical nicht aufführen. Vergesst es! Ihr könnt euer Musical nicht auf die Bühne bringen!“ Am Abend musste sogar die Lagerleitung einschreiten. Sie sagten: “Wir können es euch nicht gestatten, diese Musicalsache zu verpassen. Das ist etwas, womit ihr euch was verdienen könnt”, und dann begannen wir wieder damit. Es gab keine Kommentare mehr. Machen wir uns nichts vor, es war nur ein Spaß, aber einige von ihnen taten so, als ob... als ob wir Homosexuelle wären. Wir wollten nicht mit so etwas assoziiert werden.
Einige der Auszubildenden von dem Schiff machten wunderschöne Boote. Wir hatten eine Ausstellung oben im Ort. Kunst und Handwerk. Eine Ausstellung, um zu sehen, wer das beste Stück gemacht hatte. Ich hatte eine Zeichnung gemacht, eine Maschinenbauzeichnung, nichts weiter, aber ich gewann immerhin den dritten Preis. Sie war wohl doch ganz gut geworden. Merkwürdig genug, dass ich sie mit nach Hause brachte, später. Es war das Einzige, was ich von dort mit nach Hause brachte. Als ich in den Ruhestand ging, war es in meinem Schreibtisch. Ich habe es einfach genommen und in den Mülleimer geschmissen. Seitdem bereue ich es.
Die Beziehung zwischen Gefangenen und Wachmännern wurde über die Zeit freundlicher. Deshalb haben sie die Wachmänner regelmäßig ausgetauscht. Sie ließen nicht zu, dass Gefangene und Wachmänner Freunde wurden, denn das war es, was geschehen würde. Aber gegen Ende des Krieges hatten sie keine Männer zum Austauschen mehr. Unsere Wachmänner waren über 50. Manchmal benötigten sie etwas Hilfe, wenn sie mit uns rausgingen, und wir gingen öfters raus. Einmal nahm ich das Gewehr und trug es für ihn. (lacht) So war es am Ende - das ganze System änderte sich.
Wurden Sie im Milag befreit?
Ja, von der Air and Bones. Wenn du in einem Lager bist, vergisst du später die schlimmen Sachen. Die Guten, an die erinnerst du dich noch. Ich habe viel über Menschen gelernt, wie sie sich verhalten, wie sie in schlechten Lebensumständen reagieren. Von all dem, was du dort vor dir hast, kannst du Dinge lernen, die du unter anderen Umständen nicht gelernt hättest.
Haben Sie eine Entschädigung für Ihre illegale Haftzeit als Kriegsgefangener bekommen?
Da war mal irgendwas, kurz nach dem Krieg, aber ich erinnere mich nicht mehr so gut daran. Es ging um Reparation, aber wir waren nicht dafür qualifiziert. Nein, ich habe nie etwas bekommen.
Gibt es etwas, was Sie der nächsten Generation sagen möchten, die den Krieg nicht gesehen hat?
Ich weiß nicht was. Ich wünschte, ich wüsste es. Ich denke nicht, dass es irgendwann keine Kriege mehr geben wird. Es gibt etwas in jedem Menschen, eine Seite eines jeden Menschen, die es aufregend findet, jemand anderen zu töten. Man muss nicht so tief sinken. Aber es gibt viele Menschen, die das forcieren, weil es ihrem Vorhaben dient, Nationen gegeneinander aufzuhetzen, indem sie Lügen erzählen. Und dann würden die Menschen anfangen ihre Nachbarn zu hassen, und losziehen, um ein paar davon zu töten. Es ist ein Stück in jedem Menschen davon, aber man muss es unter Kontrolle halten. Es ist ein Stück von uns.
Was in Deutschland passiert ist, kann überall passieren. Es gibt keinen Unterschied zwischen einem Briten oder einem Dänen. In jedem Menschen ist das Verlangen, etwas zu nehmen, was dem Anderen gehört, auch wenn es bedeuten würde, dafür zu töten. Du musst nur die richtigen Knöpfe drücken. Und darin war Hitler gut. Er hatte viele Gründe ärgerlich zu sein. Die Deutschen hatte viele Gründe, ärgerlich zu sein: die Reparationen aus dem Ersten Weltkrieg. Kein Land hätte so leben können. Und dann kommt da so ein Hitler und sagt: „Ich habe die Lösung“. Und sie folgten ihm. Dafür kann man ihnen keinen Vorwurf machen. Sie mussten ihr Brot mit einer Schubkarre voll Geld einkaufen, soweit ich das mitbekommen habe. Das mussten sie irgendwie beenden und da rauskommen. Und dann kam da so ein Hitler vorbei, der sehr charismatisch war. Er war sehr gut darin, Menschen aufzuwiegeln, es fiel ihm sehr leicht. Er gab nie irgendwelche Befehle. Er sagte nur zu einem seiner Handlanger, dass es gut wäre, wenn dieses oder jenes passieren würde. Und sie taten es, um dem Führer zu gefallen.
Ich bin froh, dass du das hier tust. Ich finde, alle jungen Menschen sollten versuchen harmonisch zusammenzuleben, wenn die Politiker sich nicht einmischen würden.
Das Interview mit Ernest Sharrock führte Sarah Mayr am 16. November 2013 in Clitheroe/Lancashire.