Am 20. Februar 2015 hatte der letzte Teil der Trilogie "Die Erfindung und Vernichtung des Untermenschen" mit dem Stück "Zur Endlösung der Zigeunerfrage. Ein fiktives Symposium, Berlin 16. Dezember 1942" seine Premiere. Nach der "Wannseekonferenz" und dem "Hungerplan" gelingt dem Berliner Historikerlabor im Zusammenspiel mit Berliner Schülerinnen und Schülern eine eindrucksvolle Inszenierung von bedrückender Aktualität. Sie widmet sich der oft vergessenen Opfergruppe, der von den Nazis als Zigeuner bezeichneten Minderheiten, und wird am geeigneten Ort gezeigt: dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin-Dahlem.
Im Juli vergangenen Jahres stießen Bauarbeiter an der Freien Universität Berlin im Erdreich auf sieben Säcke mit menschlichen Knochen. Der Fundort befand sich in der Nähe des ehemaligen „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ in der Ihnestraße 22, einem Gebäude, das heute vom Otto-Suhr-Institut genutzt wird. Der Historiker Götz Aly vermutet, dass es sich bei dem Fund um die Überreste von Sinti und Roma aus dem Vernichtungslager Auschwitz handelte, die zu „Forschungszwecken“ von Josef Mengele nach Berlin-Dahlem geschickt worden waren.[1]
Der Direktor und ein Abteilungsleiter eben jenes „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ gehören zu den Figuren des neuen Dokumentartheaterstücks des Berliner Historikerlabors, das nicht weit entfernt vom ehemaligen Institutsstandort am letzten Freitag seine Premiere feierte.[2] Fünf Historikerinnen und fünf Historiker stellten dort ein Symposium von Wissenschaftler_innen und NS-Tätern dar, das sich am 16. Dezember 1942 mit der „Endlösung der Zigeunerfrage“ beschäftigte - einem Genozid, der trotz eines beeindruckenden Denkmals im Berliner Tiergarten kaum in der bundesdeutschen Erinnerungskultur präsent ist.[3] Wenngleich das inszenierte Zusammentreffen lediglich fiktiven Charakter hat, verbindet sich mit dem gewählten Datum gleichwohl ein konkretes Ereignis: der Befehl Himmlers zur Deportation der meisten der Angehörigen der als „Zigeuner“ verfolgten Minderheit in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im sogenannten 'Auschwitz-Erlass'.[4]
Ebenso authentisch wie dieses Datum sind auch die Auszüge aus Dokumenten, die während der Aufführung vorgetragen werden. Die Zusammenstellung dieser Dokumente stellt schon allein eine beeindruckende Rechercheleistung dar, die das informative Programmheft dokumentiert, das so selbst zu einem Stück Forschungsliteratur avanciert. In dichter Beschreibung verfolgt der Abend, wie eine vermeintliche Wissenschaft dem Völkermord den Weg ebnete und wie eng „Euthanasie“, Shoah und Porajmos (das Verschlingen, wie die Roma die NS-Verfolgung in ihrer eigenen Sprache bezeichnen) zusammenhingen.[5] Erschrecken durchfährt den Zuschauer, wenn er die Fülle der akademischen Titel der damaligen „Zigeunerforscher“ hört, mit den kruden Details ihrer „rassekundlichen“ Dissertationen konfrontiert wird und von deren Finanzierung durch die damalige Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) erfährt.
Der Wortlaut der zeitgenössischen Dokumente kommt auch deshalb so gut zur Geltung, weil Regisseur Christian Tietz auf Bühnenbild und Ausstattung fast vollständig verzichtet: Wenn der Zuschauer den Raum betritt, sieht er auf einer leicht erhöhten Bühne lediglich zehn nebeneinander platzierte Stühle. Bei dieser kargen Ausstattung bleibt es - ein bewährtes Stilmittel des Dokumentartheaters, auf das schon Romuald Karmakars „Himmler-Projekt“ (D 2000)[6] und die Burgtheaterproduktion „Die letzten Zeugen“ (2013) setzten.[7] Das Wiener und Berliner Projekt verbindet zudem, dass in beiden Stücken aus den Lebenserinnerungen der Lovara-Roma Ceija Stoika (1933-2013) zitiert wird.
Ist es am Anfang noch etwas unruhig in dem holzgetäfelten Saal, so stellt sich im Verlauf der gut 100 minütigen Aufführung Stille ein. Geschuldet ist dies einer Dramaturgie, die in der zweiten Hälfte des Stücks den Aussagen der Überlebenden immer mehr Raum lässt. Vorgetragen werden diese von Schülerinnen und Schülern verschiedener Berliner Schulen, die an Zwangssterilisationen erinnern, die an Tausenden als Zigeuner von den Nationalsozialisten verfolgten Menschen vorgenommen wurden. Sie rufen aber auch den zunächst erfolgreichen Widerstand der Insassen bei der Räumung des „Zigeunerfamilienlagers“ Auschwitz im Mai 1944 ins Gedächtnis. Die schauspielerische Leistung der Schülerinnen und Schüler ist beeindruckend: Gerade weil sie das Unaussprechliche sachlich-nüchtern und ohne aufgesetztes Pathos vortragen, verfehlen sie nicht die Wirkung beim Publikum.
Der dramaturgische Höhepunkt des Stücks folgt gegen Ende: „Wir müssen den Franzosen die Wahrheit sagen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir das Problem mit den Roma-Völkern allein durch Integration lösen können. Ihre Lebensweise unterscheidet sich extrem von der unseren und steht mit ihr in Konflikt. Das müssen wir berücksichtigen. Das bedeutet, dass Roma nach Rumänien und Bulgarien zurückkehren sollen.“[8] Als der Zuschauer sich gerade ob der vermeintlichen Historizität der Aussage beruhigt zurücklehnen möchte, schleudert ihm der Darsteller Julien Drouart mit französischem Einschlag in der deutschen Sprache das Datum ihrer Entstehung und den Urheber entgegen: Sie stammt aus einem Radiointerview des damaligen französischen Innenministers Manuel Valls vom 23. April 2013. Valls ist heute französischer Premierminister.
Geschichte ist immer Gegenwart - und in der Schockstarre des Saals hätte man eine Stecknadel fallen hören können.
Weitere Aufführungen am 27.2./28.2./1.3.2015. Mehr Infos und Kartenreservierungen unter: http://www.historikerlabor.de/aktuelles
[1] Kritischer Kommentar zum Umgang der FU mit dem Knochenfund von Götz Aly vom 9.2.2015 in der Berliner Zeitung [23.2.2015]. Entgegnung eines FU-Vertreters im Tagesspiegel vom 18.2.2015 [23.2.2015]. Replik Alys im Tagesspiegel vom 19.2.2015 [23.2.2015].
[2] http://www.historikerlabor.de/projekte/zur-endl%C3%B6sung-der-zigeunerfrage-ein-fiktives-symposion-berlin-1942 [23.2.2015].
[3] Die Idee zu dem Denkmal entstand Anfang der 1990er Jahre, zur Umsetzung kam es aber erst nach mehr als zwanzig Jahren, im Oktober 2012 [23.2.2015].
[4] Dieter Pohl: Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945, Darmstadt ³2011, S. 111-116, hier S. 115.
[5] Mehrere zehntausend „Zigeuner“ wurden in Auschwitz-Birkenau, Kulmhof und Treblinka vergast. Siehe: Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1990, S. 1069 Anm. 26.
[6] Der Schauspieler Manfred Zapatka verliest darin vor einer Studiokulisse die gut dreistündige Posener Rede Himmlers vom 4. Oktober 1943. Dazu Alexandra Tacke: Schreibtischtäter und Weltkonzernchef. Re/Konkretisierungen der ‚Banalität des Bösen‘ in UN SPÉCIALISTE und DAS HIMMLER-PROJEKT, in: Claudia Bruns/ Asal Dardan/ Anette Dietrich (Hg.): „Welchen der Steine du hebst“. Filmische Erinnerungen an den Holocaust, Berlin 2012, S. 121-133.
[7] Das Theaterprojekt des Wiener Burgtheaters war im Mai 2014 zum Berliner Theatertreffen geladen. Begründung der Jury [23.2.2015].
[8] Zitiert nach dem Programmheft, S. 33. Siehe auch die Spiegel Online Meldung vom 16.10.2013 [23.2.2015].