von Rebecca Wegmann

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15. Februar 2019

Die diesjährige Retrospektive der Berlinale warf einen Blick zurück auf die Arbeiten deutscher Regisseurinnen aus Ost und West in den Jahren 1968 bis 1999. Im Fokus der Auswahlkommission lagen Filme von, für, mit und über Frauen. Vor diesem Hintergrund wählten die Kurator*innen insgesamt 28 Spiel- und Dokumentarfilme aus Bundesrepublik und DDR für das Festivalprogramm der Retrospektive aus, hinzu kamen 20 Kurzfilme. Darunter waren renommierte Filme wie etwa Unter dem Pflaster ist der Strand (1975) von Helma Sanders-Brahms, Die allseitig reduzierte Persönlichkeit (1978) von Helke Sandernd Die bleierne Zeit (1981) von Margarethe von Trotta. Dies sind allesamt Filme, die Lebenswelten und Alltagsroutinen von Frauen erkunden und dabei versuchen, eine eigene filmische Sprache zu finden, um die neue Identität der selbstbewussten Frau in einer männerdominierten Gesellschaft darzustellen und zu etablieren.

Zu den zum Teil experimentellen, selbstreflektierenden Anfängen dieser, in den 1970er Jahren noch recht jungen, weiblichen Produktionen gehören zwei zeitlich dicht beieinander liegende Filme aus West- und Ostdeutschland: Für Frauen. Kapitel 1 (Cristina Perincioli/ 1972) aus der Bundesrepublik und Sie (Gitta Nickel /1970) aus der DDR machen eine vergleichende Betrachtung beider Filme interessant. Diese Filme wurden im Rahmen der diesjährigen 69. Berlinale an zwei Terminen zum Thema Kurzfilme 1: Arbeit und Alltag in einer  Sektions-Zusammenstellung der Retrospektive mit zwei weiteren Kurzfilmen Miss World (Barbara Marheineke/1998) und Heimweh nach Rügen oder Gestern noch war ich Köchin (Róza Berger-Fiedler/ DDR 1977) vorgeführt.

 

Für Frauen. Kapitel 1  - „Frauenfilm“ West

Film still: Ulla Lange, Helga Freyer, Edda Hertel und Janine Rickmann in Für Frauen. 1. Kapitel | For Women – Chapter 1 Land: BRD 1972. Regie: Cristina Perincioli. Sektion: Retrospektive © Deutsche Kinemathek / DFFB

Der erste der vier Kurzfilme, die im Rahmen der Veranstaltung Kurzfilme: Alltag und Arbeit vorgeführt wurden, war Cristina Perinciolis Für Frauen Kapitel 1, eine Dokufiktion aus dem Jahr 1972.[1] Die Regisseurin, eine gebürtige Schweizerin, kam 1968 nach West-Berlin, um hier als eine der ersten Frauen an der 1966 gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie – einer damals sehr politisch engagierten Institution für junge Filmemacher*innen, deren Ruf als politischste Filmschule Deutschlands bis heute anhält – zu studieren.
Der Film Für Frauen Kapitel 1 war Perinciolis Abschlussarbeit an der DFFB und gleichzeitig einer der ersten Filme in Westdeutschland, der von einem reinen Frauenteam realisiert wurde. Bei der kurzen Einführung, die direkt vor der Berlinale-Filmvorführung auf der Bühne des Kinosaals 8 im Cinemaxx stattfand, berichtete die Regisseurin Cristina Perincioli über die Ausgangssituation dieses allerersten „Frauenfilm“ wie sie ihr Werk selbst nennt. Anfang der 70er Jahre gab es beispielsweise noch keine Strukturen innerhalb der autonom organisierten Frauenbewegung, die zweite große Welle der bundesdeutschen Frauenbewegung befand sich noch in den „Kinderschuhen“. Die Regisseurin erzählte von ihren Erfahrungen, die sie mit dem sozialistischen Frauenbund (SFB) machte, in dem Frauen sich mit den Schriften von Marx, Engels und Lenin auseinandersetzten, um auf gleichem Level wie ihre männlichen Kollegen (mit) zu diskutieren. Perincioli sprach auch über die Hintergründe dieser, ihrer ersten Filmproduktion: Einen ganzen Sommer lang hatte das Filmteam, das ausschließlich aus Frauen bestand, seine Sonntage im Märkischen Viertel in Berlin verbracht. An jenen Sonntagen sprachen sie über all die Themen, die sie bewegten. Ziel dieser Gespräche war es, eine Stimme für Frauen zu finden, eine Möglichkeit, Alltagsprobleme und deren Bewältigungsstrategien zu schildern. Es wurde viel improvisiert und experimentiert. Alle beteiligten Frauen, auch die Laiendarstellerinnen – Hausfrauen und Verkäuferinnen –, wurden in die Diskussionen mit einbezogen. Das Ergebnis Für Frauen. Kapitel 1, das auf den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 1971 mit dem Journalistenpreis ausgezeichnet wurde, zeigt schließlich vier Verkäuferinnen, die sich selbst spielen. Im Fokus der Handlung steht der gemeinsame Kampf gegen Lohndiskriminierung.

Die vier Frauen Ulla, Edda, Janine und Helga – unterschiedlichen Alters und privaten Hintergrunds – arbeiten gemeinsam mit Herrn Schipanski  und dem Besitzer des Ladens in einem kleinen Edeka-Laden. Der Film zeigt die vier Frauen während der Arbeit: Beim Aus- und Einpacken der Kisten, beim Räumen der Ware, oder beim Kassieren, Alltagssituationen, in denen die Vier immer wieder sexistische Sprüche wie „Muskeln gibt das, und stramme Titten“von ihrem männlichen Kollegen und dem Ladenbesitzer zu hören bekommen. In den Rauchpausen unterhalten sich die Verkäuferinnen über ihre privaten Probleme: Janines Mann möchte sie in die Rolle der Hausfrau und Mutter zurückdrängen, indem er von ihr verlangt, ihre Arbeit aufzugeben; die alleinerziehende Ulla hat vier Kinder und Helga, ein krankes Kind, zu Hause, beide können es sich nicht leisten, bei der Arbeit zu fehlen. Bald soll eine weitere Filiale eröffnen, woraufhin der Ladenbesitzer Herrn Schipanski, den einzigen männlichen Angestellten, der ohnehin mehr verdient als seine Kolleginnen, darum bittet, in seiner Abwesenheit ein Auge auf die weiblichen Angestellten zu werfen. Der geheime Auftrag an den männlichen Angestellten ist verbunden mit einer dicken Lohnerhöhung. Nachdem der Ladenbesitzer zur zweiten Filiale aufbricht, werden die vier Verkäuferinnen misstrauisch und finden mit einem Blick in die Lohnbücher heraus, dass sie weniger verdienen als ihr männlicher Kollege, obwohl sie die gleiche Arbeit leisten. Gemeinsam stellen die vier ihren Chef bei dessen Rückkehr zu Rede. Über die Auflehnung seiner Mitarbeiterinnen aufgebracht, kündigt Ladenbesitzer Schipanski Wut entbrannt der alleinerziehenden Ulla: Die Lösung, die vier Frauen tun sich im Streik zusammen. Sie verlassen den Laden und laufen selbstbewusst, einander Arm in Arm haltend die Straße entlang. Derweil bricht der Ladenbetrieb, der nur noch durch den einzigen männlichen Mitarbeiter aufrechterhalten werden soll, zusammen. Am Ende entschuldigt sich der Ladenbesitzer bei den vier Frauen, alle vier bekommen nun denselben Lohn wie ihr männlicher Kollege. Das letzte Bild zeigt die vier wieder gemeinsam nebeneinander auf dem Fußgängerweg laufend, dazu ertönt der Sound der deutschen Kultrockband Ton Steine Scherben:  »Alles verändert sich, wenn du es veränderst, doch du kannst nicht gewinnen, solange du alleine bist!«. Die Frauen zeigen sich selbstbewusst, in der Gruppe finden sie die Stärke zu einer Form weiblicher Selbstermächtigung gegen patriarchale Strukturen.

Der achtundzwanzig minütige Kurzfilm, „eine Art Ermutigungs- und Lehrfilm zur Solidarisierung von Frauen am Arbeitsplatz im Kampf um Lohngleichheit“[2] visualisiert eine utopische Lösung, in der das weibliche Bündnis der Verkäuferinnen die patriarchalen Strukturen des Edeka-Ladens in Frage stellt und in einem cineastischen Happy End durchbricht.

 

Sie – „Frauenfilm“ Ost

Film still: Sie/ She. DDR 1970. Regie Gitta Nickel. Quelle: Deutsche Kinemathek, © DEFA-Stiftung / Nico Pawloff

Als dritter Film der Veranstaltung folgte die DDR-Dokumentation der DEFA-Regisseurin Gitta Nickel Sie aus dem Jahr 1970 in schwarz/weiß. Auch dieser Film wurde von einer Regisseurin realisiert und thematisiert weibliche Selbstreflektion und Selbstdarstellung im (Arbeits-) Alltag der DDR, und verhalf damit der damals jungen Regisseurin Gitta Nickel zu größerer Aufmerksamkeit. Nach ihrem Studium der Germanistik und Pädagogik an der Humboldt-Universität, das Nickel 1957 mit dem Staatsexamen abschloss, arbeitete sie als Regieassistentin in den DEFA-Studios für populärwissenschaftliche Filme. In dieser Zeit lernte sie ihr Handwerk bei DEFA-Filmemachern wie Konrad Wolf, Ralf Kirsten und Joachim Kunert. Im Jahr 1963 wechselte Nickel zum DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme. In Eigenregie realisiert Nickel während der darauffolgenden Jahren nun Kurzfilmprojekte wie Wir verstehen uns (1965), Der Augenzeuge (1972) und Hier und dort (1969). Im Jahr 1970 erschien der Kurzfilm Sie, für den die junge Regisseurin auf dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm 1970 mit der silbernen Taube prämiert wurde.
In der dreißig-minütigen Dokumentation porträtiert Nickel Arbeiterinnen des VEB Textilkombinat Treffmodelle in Berlin. Fragmentarisch zeigt die Dokumentation Kurzporträts berufstätiger, moderner Frauen in der DDR-Frauen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Funktion, und aus verschiedensten sozialen Verhältnissen stammend –, die durch Pop-Art-Grafiken in Schwarz-Weiß, fetziger Jazz-Musik und den ermutigenden Slogans des männlichen Kommentators durchbrochen wird. Über die Perspektive der Gynäkologin Gisela Otto, die in der Filmrolle der Befragenden versucht mit Arbeiterinnen ins Gespräch über ihren Arbeits- und Familienalltag zu kommen, visualisiert die DEFA-Dokumentation (eher staatlich gelenkte) Bilder auf die Beteiligung berufstätiger Frauen am Aufbau des Sozialismus. Ergänzend zu den Interview- und Gesprächsszenen werden die Frauen bei der Arbeit an der Nähmaschine oder am Schreibtisch, sowie in privaten Aufnahmen bei der Hausarbeit oder am Esstisch mit Familie dargestellt. Dabei zeigt die Dokumentation Freiräume, aber auch Grenzen der Geschlechtergleichheit im DDR-Staatssozialismus. Im Gespräch mit der Ärztin erzäheln die Arbeiterinnen über ihre Sorgen, Ängste, Nöte und Ziele. Sie setzen sich dabei mit Themen wie Partnerschaft und Familienplanung, Kindererziehung und beruflicher Qualifizierung, Arbeitsorganisation, Frauenrechten und Gleichberechtigung in der sozialistischen (Leistungs-)Gesellschaft auseinander. Die Diskussionen verlaufen emotional aufgeladen und lebhaft. Die Dokumentation ist ein filmisches Porträt berufstätiger Frauen in der DDR, allerdings nicht ohne Verzicht auf eine propagandistische Note. So befragt die Ärztin etwa Arbeiterinnen direkt am Arbeitsplatz über ihre bisherigen beruflichen Laufbahnen und ihre Einschätzung hinsichtlich ihrer Karrierechancen und der eignen beruflichen Qualifikation. Die stellvertretende Leiterin des Kombinates, die eine längere Sequenz des Films für ihr vorbildliches Porträt einer sozialistischen Frau bekommt, träumt etwa davon, eines Tages zur Leiterin befördert zu werden, während ihr Ehemann staubsaugt und bei der Kindererziehung helfend dargestellt wird. Auch die selbstbewusste und couragierte Gynäkologin ist beruflich und privat erfolgreich und hat sich produktiv der „Sache“ verschrieben. Sie wird als Idealbild der sozialistischen Frau charakterisiert. Ihre Figur soll schließlich motivierendes, ermunterndes und vor allem lenkendes Vorbild für andere Frauen sein. Die dargestellte schöpferische Kraft der Frau im Sozialismus verformt sich zur staatskonformen Botschaft Emanzipation und Chancengleichheit in der DDR nicht nur anzustreben, sondern bereits in der Alltags- und Arbeitswelt realisiert zu haben. Kurz nach der Veröffentlichung des Films erklärte Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED, der 15. bis zum 19. Juni 1971 stattfand, die Frauenfrage in der DDR für gelöst:

„Es ist in der Tat eine der größten Errungenschaften des Sozialismus, die Gleichberechtigung der Frau in unserem Staat sowohl gesetzlich als auch im Leben weitgehend verwirklicht zu haben. Kein kapitalistisches Land der Erde kann dies von sich behaupten“.[3]

Sie ist ein ambivalenter Film zwischen Staatskonformität und individuellen weiblichen Bestrebungen der 70er Jahre. Nickels Dokumentation diskutiert Freiräume und Grenzen der Gleichberechtigung der Frau im DDR-Sozialismus, wobei er die Komplexität dieses Entwicklungsprozesses und mögliche Lösungen visualisiert. Hintereinander geschaut, Sie kann deshalb als „Frauenfilm“ Ost gesehen werden, der wie sein westliches Pedant Für Frauen Kapitel 1 teilweise utopische, filmisch-reflektierende Selbstdarstellung von Frauenfiguren Anfang der 70er Jahre im geteilten Deutschland auf die Kinoleindwand brachte.

 

 

Die Probleme von gestern. Die Hürden von heute

Róza Berger-Fiedler, Barbara Marheineke, Cristina Perincioli bei der Vorführung ihrer Filme während der Retrospektive der Berlinale 2019 am 9.2.2019. Die Regisseurin von Heimweh nach Rügen oder Gestern noch war ich Köchin (Róza Berger-Fiedler), die Regisseurin von Miss World (Barbara Marheineke) und die Regisseurin von Für Frauen. 1. Kapitel (Cristina Perincioli). © Berlinale 2019

Die gemeinsame Vorführung der beiden Kurzfilme während der Berlinale zeigt sowohl visuelle als auch narrative Gemeinsamkeiten des Frauenbildes in Ost und West: Probleme des Frauenalltags in den 1970er Jahren.

Über die Situation von Frauen öffentlich zu sprechen war nicht selbstverständlich und ist noch immer nicht. In der filmischen Darstellung werden Frauenleben und deren Bedingungen nicht nur sichtbar, sie werden gleichsam öffentlich und damit in der ost- und westdeutschen Gesellschaft zur Diskussion gestellt. Cristina Perincioli und Gitta Nickel instrumentalisieren Film als Medium nicht nur der Selbstdarstellung von Frauen, sondern auch zum Medium der weiblichen Selbstermächtigung und Positionierung.
Zwei Filme um, über, von und mit Frauen, die uns den Alltag von Frauen in Ost und West zu Beginn der 1970er Jahren näherbringen. Natürlich unterschied sich der Frauenalltag im Staatssozialismus und in der Bundesrepublik in den 70 Jahren zwar in vielerlei Hinsicht, jedoch zeigen West- und Ostfilm gleichermaßen Frauenfiguren vor ähnlichen Problemen des beruflichen und privaten Alltagslebens: die Schwierigkeiten der Vereinbarkeit von Berufsbiographie und Mutterrolle und nicht zuletzt auch der Druck, den gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen.
Selbst, wenn sich vieles verändert hat, ganz unbekannt sind der heutigen Zuschauerin die Probleme der 1970er Jahre nicht.

 

Weitere Vorstellung von „Kurzfilme 1: Alltag und Arbeit.“ am Freitag 15. Februar 17 Uhr Cinemaxx

Im Online Archiv der DFFB gibt es Für Frauen. Kapitel 1 (Cristina Perincioli/ 1972) zum nachschauen.

Publikation zur diesjährigen Retrospektive der Internationalen Filmfestspiele Berlin: „selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen“. Herausgegeben von Karin Herbst-Meßlinger und Rainer Rother. Berlin 2019.

 


[1] Der Film wurde in einer digital restaurierten Farbfassung von 2018 auf 16 mm im Rahmen der Veranstaltung vorgeführt.
[2] Heike Klippel: »... ein in Maßen komischer Beitrag zu der Frage, warum aus Frauen selten ewas wird«. Arbeit in Filmen von 1968-1992. In: „selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen. Hrsg. von Karin Herbst-Meßlinger und Rainer Rother. Berlin 2019. S. 64.
[3] Zitat aus: Forschungsgemeinschaft „Geschichte des Kampfes der deutschen Arbeiterklasse um die Befreiung der Frau" an der Pädagogischen Hochschule „Clara Zetkin“ (Hg.): Dokumente der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung zur Frauenfrage 1848-1974. Leipzig, 1975. Dokument 118, S. 2.