Ein Soldat schaut auf den Bildschirm. Er sitzt in einem Raum mit vielen anderen Soldat*innen des Abhördienstes der israelischen Armee. Sie alle haben Kopfhörer auf und konzentrieren sich auf ihre Bildschirme. Das ist das Setting. Viel mehr an Handlung wird es nicht geben. Der Film Listening in/Hama’azin (Omer Sterenberg) dauert elf Minuten und ist einer der faszinierendsten Beiträge der diesjährigen Sektion Berlinale Shorts.
Wir beobachten elf Minuten lang das Gesicht des sehr jungen Soldaten, der ein Gespräch zwischen zwei sich liebenden Palästinensern abhört. Die Sehnsucht der Belauschten, ihr Begehren und die Erinnerungen an die gemeinsamen Nächte materialisieren sich förmlich in den Gesichtszügen des Soldaten. Der Soldat lauscht, das ist seine Aufgabe. Wir hören mit und lesen gleichzeitig in seinem Gesicht die ganze Bandbreite des wachsenden Begehrens, seine Verunsicherung angesichts der eigenen Lust. Wir beobachten den Protagonisten des Films und es entsteht eine nahezu intime Atmosphäre. Eine Atmosphäre, die nicht den Hauch des Voyeurismus besitzt, und dennoch die Sehnsucht eines anderen Menschen fast körperlich spürbar macht. Es ist als betrete man einen Raum, in dem etwas Ungeheuerliches vorgefallen ist, das aber nur noch durch die Spannung, die in diesem Raum herrscht, zu ahnen ist.
Angesichts der Kargheit der „Produktionsmittel“ ist kaum zu fassen, wie groß die Variation der Emotionen ist, die wir auf einem einzigen Gesicht lesen können, wie wenig Omer Sterenberg, der Regisseur dieses Kurzfilms benötigt, um seine Geschichte zu erzählen: Das Gesicht eines jungen Mannes am Bildschirm.
Wozu Kurzfilme?
Insgesamt 24 Filme sind in der Sektion Berlinale Shorts in diesem Jahr zu sehen. Sie sind in Sessions mit jeweils vier bis fünf Filmen eingeteilt, der kürzeste ist sechs Minuten lang, die längsten eine knappe halbe Stunde. Seit dem Jahr 1955 werden auf der Berlinale Preise für Kurzfilme verliehen. Seit 2003 gibt es eine eigene Jury für den Kurzfilm und seit 2006, nunmehr seit vierzehn Jahren, auch eine eigene Sektion Kurzfilm bei den Filmfestspielen. Anna Henckel-Donnersmarck hat die Shorts in diesem Jahr kuratiert. Sie löst damit die langjährige Leiterin Maike Mia Höhne ab, in deren Verantwortung diese Sektion von 2008 bis 2019 stand.
Ich habe dem Kurzfilm bisher kaum Beachtung geschenkt. Filme haben eine Länge von 90’, gerne auch 120’ Minuten, ebenso wie eine Wettkampfbahn für Schwimmer*innen 50 Meter lang ist. Das Kurzbahnschwimmen habe ich nie ernst genommen. Zu studentisch, experimentell, konzeptversessen hatte ich mir Kurzfilme vorgestellt. Eine Geschichte im Kino zu erzählen, braucht schließlich Zeit und Raum, und nicht zuletzt Geld.
Das es sich bei den Shorts um eine häufig unterschätzte Form der Filmkunst handelt, klingt auch im leicht verhaltenen Statement des Berlinale-Chefs an: Der Kurzfilm, so Carlo Chatrian, ist eine andere Art, auf die Realität zu schauen, in dem Sinn, dass der Kurzfilm dich vielleicht verpflichtet schnell zu sein, und das ist etwas, das in meinem Leben anders ist, ich bin nicht immer schnell (...) Kurzfilme geben mir das Gefühl schneller sein zu müssen, was gleichzeitig beängstigend und aufregend ist, so Chatrian in der ARTE-Dokumentation Kurzschluss. Das Kurzfilm Magazin vom 22.2.2020.
Für viele ist der Langfilm der Roman, während der Kurzfilm die Erzählung ist. Für Henckel-Donnersmarck hingegen ist er das Gedicht. Der Vorteil des Kurzfilms, so die Kuratorin, sei ganz grundsätzlich seine Freiheit, bedingt durch die im Vergleich zum Langfilm geringeren Erwartungen, die an diese Kunstform gestellt werden. Die Kuratorin selbst erwartet vom Kurzfilm, dass er sie überrascht und mit Konventionen bricht.
Die Berlinale-Shorts 2020
Und beides gelingt mit der Auswahl der diesjährigen Shorts. Am Ende bleibt womöglich eher die Frage: Wozu brauchen Geschichten eigentlich 90’ Minuten, um erzählt zu werden? Die thematische Klammer, die die diesjährige Auswahl eint, wird wohl je nach Betrachter*in unterschiedlich wahrgenommen. Der kleinste gemeinsame Nenner jedoch aller Beiträge ist die Verhandlung zutiefst humaner, existentieller Fragen. Wobei Antworten grundsätzlich verweigert werden.
Aus Sicht der Zeithistorikerin sind zudem die thematischen Überschneidungen der Shorts mit jenen der gegenwärtigen zeithistorischen Forschungslandschaft spannend. Dazu gehören die Verwerfungen der kapitalistischen Arbeitswelt (Écume/Missing Days), die soziale Frage und der Postkolonialismus (Filipiñana), der Umgang mit Trauer und Tod (T/She who wears the rain), Gewalt und Krieg (Cause of death/How to disappear/So we live), die Infragestellung der Binarität der Geschlechter (Playback), die Klimakatastrophe (Aletsch negative), Flucht und Abschottung (At the Entrance oft the Night), Krankheit und Körperwahrnehmung (Girl and Body, Union County).
Die Intensität der Erzählungen wird in vielen Filmen, ähnlich wie im Eingangs zitierten israelischen Film Listening in (Hama’Azin), durch die jeweils hochkonzentrierte Kameraführung und eine ungeheure Verdichtung des Narrativs erzeugt. Enorme Wirkung hat vor allem der ruhige und oft lang anhaltende Blick auf die Gesichter der Protagonist*innen. Die Kulisse bilden in der Mehrzahl Orte des Alltags: ein Krankenhaus, eine Busstation, ein Waldstück, ein Warteraum.
So beobachten etwa die Regisseure Jamie Meltzer und Chris Fillippone in Huntsville Station den Moment der Entlassung von Häftlingen und deren Weg zur Greyhound-Station. Nur wenige werden von Verwandten oder Freunden abgeholt. Die Mehrzahl bewegt sich mit ihren, in Gemüsesäcken verstauten Habseligkeiten zur Busstation. Dort müssen die Männer teure Bustickets kaufen, um den Ort zu verlassen. Sie können sich gegen Entgeld ein Handy leihen, um ihre Angehörigen zu kontaktieren und schließlich, bevor sie in den Bus steigen, gibt es die Möglichkeit, sich für 50 Cent mit einem Eau de Toilette zu besprühen, was viele nutzen. Neben der detaillierten Studie eines marktwirtschaftlichen Mikrosystems, sehen wir vor allem die Gesichter der Männer und es stellt sich die Frage, nach Sinn und Unsinn dieser Form des Strafens, oder besser Wegsperrens. Viele der Ex-Häftlinge sind alt und krank und nicht wenigen sieht man an, dass sie gar nicht wissen, wohin es jetzt gehen soll. Eine Busstation und die Gesichter der Häftlinge genügen, um ein real existierendes Klassensystem in Frage zu stellen.
Gleiches gilt für Union-County von Adam Meeks: Ein junger Mann im staatlich verordneten Entzugsprogramm wohnt in seinem Auto, etwas anderes kann er sich trotz seiner Arbeit in der Holzfabrik nicht leisten. Die Regeln des Programms sind streng, der Entzug wird überprüft, eine Alternative jedoch nicht wirklich geboten. Wir können eine unterfinanzierte Bürokratie im Reparaturmodus beobachten, der Erfolg scheint zweifelhaft, allein weil Menschen mehr als Reparatur benötigen, sie brauchen Zukunftschancen.
Aus ästhetischer Sicht beeindruckend und ungewöhnlich ist der Film Cause of Death der Regisseurin Jyoti Mistry. Auf der Grundlage von archiviertem Filmmaterial hat Mistry ein filmisches Poem geschaffen, das bildgewaltig über Formen der Gewalt berichtet, der Frauen im Verlauf der Geschichte auf der ganzen Welt ausgeliefert waren und sind.
Zwei, auf jeweils sehr verschiedene Weise, beeindruckende Antikriegsfilme gehören zum diesjährigen Shorts-Programm: So we live der 1995 in Syrien geborenen Regisseurin Rand Abou Fakher und der in Video-Games-Ästhetik produzierte Film des Kollektivs Total Refusel How to disappaer.
Während Rand Abou Fakher uns in einen zunächst gewöhnlich erscheinenden, aufgrund eines Stromausfalls mit Kerzen beleuchteten Raum führt, wird in den folgenden 16’ Minuten immer klarer, dass hier nichts gewöhnlich ist, jedenfalls aus Sicht derer, für die Idlib, Aleppo oder Homs Millionen Kilometer weit entfernt liegen. Vier Menschen befinden sich im Raum: Vater, Mutter und zwei Töchter. Schnell wird die Enge des Raums klaustrophobisch. Der einzige Sohn ist seit drei Jahren vermisst, die Töchter dürfen nur selten raus zum Spielen. Die ganze Familie versucht ihre Traumata in irgendeiner Ecke des Zimmers zu verstecken, Normalität zu wahren. Die Eltern gealtert am Schmerz, die Töchter unruhig, lebendig und eingesperrt. Und irgendwann hören wir die Geräusche des Krieges, den Lärm des Beschusses, die Familie rückt zusammen, in die Mitte des Raumes. Dies geschieht mit einer atemberaubenden Normalität, jeder Streit ist vergessen. Während draußen Bomben fallen, hoffen die vier Menschen in dem winzigen Raum, einfach zu überleben.
Bei den Shorts der Berlinale 2020 handelt es sich um eine kluge, faszinierende und zutiefst berührende Auswahl. Die kurzen Filme leuchten geradezu in einer Welt, die sich momentan dem Narrativ des Niedergangs hingibt. Die Berlinale gehört zu den weltweit insgesamt 14 sogenannten A-Festivals und hatte im Jahr 2019 knapp 500.000 Besucher*innen.
Für Henckel-Donnersmarck trägt das Festival, allein aufgrund dieser „Leuchtturm-Funktion“ eine große Verantwortung. Das Hauptanliegen der Kuratorin war es, mit dieser Auswahl, die Freiheit des Kurzfilms zu nutzen und damit Bedingungen für einen Dialog zu schaffen. Einen Dialog, den unsere Gesellschaft dringend braucht. Die Berlinale Shorts stimmen hoffnungsfroh. Die 24 Kurzfilme sagen Zukunft nicht voraus, bieten jedoch eine unendliche Vielfalt möglicher Anknüpfungspunkte, um darüber zu sprechen, wie die Welt aussehen soll, in der wir leben wollen.