Hg. von Yves Müller

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16. April 2021

Die Auslagen der Buchhandlungen zeugen davon: es ist Kaiserreich-Jahr. Umstritten war das Erbe der deutschen Monarchie stets – und so scheiden sich auch dieser Tage die Geister. Wieviel Preußen, wieviel Bismarck, wieviel „Sonderweg“ steckte in diesem Deutschland? Aber auch: Wieviel Innovation und transnationaler Austausch, wieviel Teilhabe und Fortschritt? Während Eckart Conze die Schatten des Kaiserreichs beleuchtet und Christoph Jahr betont, Wie Preußen Deutschland erzwang (so der Untertitel seines Buches), fokussiert Jens Jäger Das vernetzte Kaiserreich. Doch standen das Deutsche Reich und seine Gesellschaft nicht auch für einen Aufbruch in die Moderne, wie Hedwig Richter bekundet? Legte Bismarcks ewiger Bund (Oliver F. R. Haardt) nicht auch den Grundstein für unseren Föderalismus mit dem Bundesrat an der Spitze?[1]

Je nachdem ob man nach den geografischen Ausdehnungen und überhaupt dem Zeitraum des Bestehens des Hohenzollernreiches, seiner Staatlichkeit und seinen Idealen, dem Einwanderungsland oder Wissenschaftsstandort Preußen, rechtsstaatlichen Errungenschaften oder aber nach den ständestaatlichen Gesellschaftsstrukturen, dem Militarismus und seiner Rolle im Imperialismus und europäischen Kolonialismus fragt, wird man zu recht, zu widersprüchlichen Urteilen über das Deutsche Kaiserreich und das Königreich Preußen gelangen.

Jubiläen sind immer schon ein dankbarer Gradmesser für den Zustand einer Gesellschaft. Im Angesicht der Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Verbrechen meinte Hans-Joachim Schoeps 1951, Die Ehre Preußens – so der Titel seiner programmatischen Broschüre – retten zu müssen.[2] Im Jahr 1961 löste Fritz Fischer eine Kontroverse aus, als er die deutsche Verantwortung für den Kriegsausbruch 1914 benannte und bekundete, der „Sündenfall“ sei bereits im Jahr 1871 zu suchen, nicht erst 1933.[3] Als 1981 das Preußen-Jahr begangen wurde, fremdelte die bundesrepublikanische Öffentlichkeit noch mit dem „Erbe“ des Hohenzollernstaates. Trotzdem strömten hunderttausende Besucher in die Preußen-Ausstellung im Herzen des geteilten Berlins.[4] Und als 1991 die sterblichen Überreste zweier preußischer Könige nach Schloss Sanssouci umgebettet werden sollten, entwickelte sich dieser Akt kein Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung zur „Heimkehr“. Zehn Jahre später, im Jahr 2001, überwog in der Berliner Republik bereits das positive(re) Bild Preußens. Heute steht Preußen im Jahr der 150sten Wiederkehr der Reichsgründung im Schatten des Kaiserreichs. Doch inmitten der Corona-Krise wurde das wiederauferstandene barocke Schloss in der Bundeshauptstadt eröffnet. Gleichzeitig streitet die Öffentlichkeit über aus den Kolonien geraubte Kunstgegenstände und über Entschädigungszahlungen an die Hohenzollern-Familie.

zeitgeschichte|online nutzt die aktuelle Aufmerksamkeit aus Anlass des 150. Jahrestages der Kaiserreichgründung, um mit einem Dossier zu „Preußen und das Kaiserreich in der Erinnerung“ einen Beitrag zur Historisierung der Rezeption zu leisten und die historischen Orte Preußen/Kaiserreich für die Zeitgeschichtsforschung nutzbar zu machen. Das Dossier wird im Jahresverlauf 2021 sukzessive erweitert. Es vereint die Beiträge von Zeithistoriker*innen, die sich der Erinnerungs- und Rezeptionsgeschichte Preußens und des Kaiserreichs aus ganz verschiedenen Blickwinkeln, in unterschiedlichen Epochen und Ländern gewidmet haben. Die Redaktion von zeitgeschichte|online und der Herausgeber möchten allen Beteiligten für ihr Engagement danken.

Von Seiten der Redaktion wird der Themenschwerpunkt außerdem ergänzt, um ein Interview, dass wir aus Anlass des internationalen Museumstages 2020, mit der Leiterin des LWL-Preußenmuseum, Sylvia Necker geführt haben. Zudem empfehlen wir aus unserem Archiv einen Diskussionsbeitrag des Herausgebers Yves Müller, der die Debatten um den Wiederaufbau des Berliner Schlosses, kritisch betrachtet.

 

[1] Eckart Conze, Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, München 2020; Oliver F. R. Haardt, Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs, Darmstadt 2020; Christoph Jahr, Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang, München 2020; Jens Jäger, Das vernetzte Kaiserreich. Die Anfänge von Modernisierung und Globalisierung in Deutschland, Ditzingen 2020; Hedwig Richter, Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich, Berlin 2021.
[2] Hans-Joachim Schoeps, Die Ehre Preußens, Stuttgart 1951.
[3] Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961.
[4] Gottfried Korff (Hg.), Preußen – Versuch einer Bilanz, 5 Bde., Reinbek bei Hamburg 1981.

Beiträge

Yves Müller

Ein Interview mit dem Historiker Jürgen Kocka über das „weite Feld“ des deutschen Kaiserreichs und Preußens

Lennart Bohnenkamp

Das „Pentagramm in Preußen“ oder: Die Geschichte eines Falschzitats

Vincent Streichhahn, Jana Günther

Ein Plädoyer für die Anerkennung und Erforschung des proletarischen Flügels der Bewegung

Sylvia Necker

Ein Gespräch mit Sylvia Necker, Leiterin des LWL-Preußenmuseums, über ihre ersten Erfahrungen im Amt

Reginald E. Kirey

The Case of Hermann von Wissmann and the Askari Monument

Yves Müller

Die Preußen-Ausstellung von 1981, das nationalsozialistische Erbe und die „Topographie des Terrors“

Daniel Benedikt Stienen

Das frühe Ende Preußens in populären Darstellungen der alten Bundesrepublik

Ulf Morgenstern

Über den Ort der Reichsgründung in der Identitätssuche der DDR*

Franka Maubach

Wie »Preußen« in der Nachkriegszeit wieder populär wurde