von Florian Peters

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9. März 2022

Viele wundern sich dieser Tage über den kometenhaften Aufstieg des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu einem globalen Medienstar. Selenskyjs smarte Durchhalteparolen und Videoclips, in denen er sich direkt an seine Mitbürger und an die Weltöffentlichkeit wendet, gehen weltweit viral. Mit seinem zugewandten, unverstellten Auftreten bietet er den Ukrainerinnen und Ukrainern eine Modernität und Selbstvertrauen ausstrahlende Projektionsfläche. Keine Frage: Der einstige TV-Komiker und Schauspieler spielt derzeit die Rolle seines Lebens.

Besonders augenfällig wird dies durch den grellen Kontrast zur medialen Inszenierung seines Widerparts im Kreml. Die surrealen Machtinszenierungen Wladimir Putins werden durch seine bizarre Corona-Phobie auf die Spitze getrieben, die ihn selbst seine treuesten Paladine meterweit auf Abstand halten lässt. Und wenn der Kriegsherr sich dann doch einmal in der Öffentlichkeit zeigt, um sich von ausgesuchten Untertanen deren „spontane“ Unterstützung bekunden zu lassen, sind die entstehenden Bilder an Skurrilität kaum zu überbieten. In einem Kurzvideo von Putins erstem öffentlichen Auftritt seit dem Überfall auf die Ukraine ruft ihm eine weit entfernt postierte Gruppe von Bauarbeitern wie auf Kommando allen Ernstes zu: „Hurra, Hurra, Hurra!“ 

Selenskyj lässt Putin alt aussehen, doch hinter seinem internetaffinen, von Videoclips und Selfie-Ästhetik inspirierten Kommunikationsstil stehen mehr als nur ein paar gute PR-Strategen. Dass der ukrainische Präsident sich der „sozialen Medien“ virtuos zu bedienen weiß, hat er nicht erst seit Kriegsausbruch unter Beweis gestellt. Schon zuvor schrieb sich seine programmatisch ansonsten wenig profilierte Partei „Diener des Volkes“ die unmittelbare Interaktion mit ihrer Wählerschaft via „sozialer Medien“, die Modernisierung der Verwaltung mittels „e-Government“ und die Ausweitung direktdemokratischer Partizipationsverfahren auf die Fahnen. Dass die ukrainische Führung nun auch in ihrer Kriegspropaganda erfolgreich auf Interaktion und Nähe setzt, ist nicht zuletzt ein Gradmesser für den Stand der öffentlichen Kommunikation in der sich demokratisierenden ukrainischen Gesellschaft.

 

„Keiner von uns wurde für den Krieg geboren“

Nirgends lässt sich das greifbarer und suggestiver nachvollziehen als anhand zweier Rekrutierungsvideos des ukrainischen und russischen Militärs, auf die kürzlich der polnische Sozialpsychologe, Journalist und regierungskritische Medienaktivist Piotr Pacewicz aufmerksam gemacht hat. Beide Werbespots stammen nicht aus dem aktuellen Konflikt, sondern sind bereits während des Kriegs im Donbas 2014 entstanden. Gleichwohl kreisen sie weiter im Internet; der russische Clip erreichte 2021 noch einmal zusätzliche Reichweite, nachdem er von dem Propagandakanal RT (Russia Today) promotet wurde. So schwer erträglich es ist, wie diese hochprofessionell produzierten Werbeclips dafür werben, das Leben in einem blutigen Krieg aufs Spiel zu setzen – es lohnt sich, diese anzuschauen. Denn in ihrer krassen Gegensätzlichkeit helfen sie zu verstehen, wie unterschiedlich das Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Krieg gedacht – und eben auch beworben werden kann.

In dem ukrainischen Clip stellen sich Soldaten in ihren gesellschaftlichen Rollen vor – als Vater, Taxifahrer, nerviger Nachbar, Geologiestudentin oder als einziger Sohn. Sie werden als ruhige, selbstbestimmte Individuen in Szene gesetzt, deren zivile Identität auch im Krieg weiter Gültigkeit beansprucht. Sie treten meist nicht als Einzelkämpfer auf, sondern in Interaktion mit anderen Soldaten. Zudem konzentriert sich der Spot nicht auf unmittelbare, gewaltförmige Kampfsituationen, sondern präsentiert ein Panorama des Kriegsalltags, das eine Reihe von Routinetätigkeiten einschließt.

 

 

 

Die Punchline am Ende des einminütigen Spots bringt die Botschaft auf den Punkt: „Keiner von uns wurde für den Krieg geboren / aber jetzt sind wir alle hier, um unsere Freiheit zu verteidigen.“ Der Krieg erscheint als außeralltägliche Herausforderung – nicht aber als überwältigende Gewalterfahrung, die alles verändert, was vorher war. Im Gegenteil, die Soldaten (und eine Soldatin) werden als Individuen präsentiert, deren Stärke gerade darin liegt, sich vom Krieg nicht überwältigen zu lassen. Indem sie ihre je eigene Identität in ein Kollektiv einzubringen verstehen, setzen sie alles daran, die Freiheit und damit die elementare Voraussetzung für die Pluralität dieses Kollektivs zu verteidigen

 

 

„Morgen ist der erste Tag deines neuen Lebens“

Der russische Spot könnte gegensätzlicher nicht sein. Anders als der ukrainische ist er nicht mit englischsprachigen Untertiteln verfügbar. Deshalb zunächst eine Übersetzung des aus dem Off von einem unsichtbar bleibenden Sprecher in zunehmend beschleunigtem Stakkato eingesprochenen Texts, der schon ohne die dazugehörige Bildsprache eine unmissverständliche Botschaft vermittelt:

„Dies ist der erste Tag deines neuen Lebens.

Was gestern war, bedeutet nichts mehr.

Wer du vorher warst, kümmert nun niemanden.

Jetzt ist wichtig, wer du heute sein wirst.

Was weißt du über dich? Wozu bist du fähig?

Die Frage kann unbeantwortet bleiben, aber kannst du später ruhig schlafen?

Dich selbst kennenlernen, die Grenzen deiner Möglichkeiten kennenlernen.

Fort mit Grenzen!

Du bist bereit, Grenzen bis zur letzten Erschöpfung zu überwinden.

Jeden Tag härtet dich hier der Schmerz, Narben sind Alltag.

Du selbst hast entschieden, dir etwas zu beweisen. Der Kommandeur ist nur dafür da, damit du einen Feind in ihm siehst. Denn ohne Feind gibt es keinen Kampf, und ohne Kampf gibt es keinen Sieg.

Aber eigentlich bist du der Hauptfeind. Das Du von gestern.

Deine Aufgabe ist, den Feind aufzuspüren, dich auf ihn zu stürzen, besser als er zu werden und als Sieger zurückzukehren.

Denn morgen ist der erste Tag deines neuen Lebens.“

 

 

 

In diametralem Gegensatz zu dem ukrainischen Clip beschwört der zeitgleich entstandene Werbespot der russischen Armee explizit und ohne Umschweife die Überwindung und Auslöschung der zivilen Identität des Rekruten und stellt diese als Voraussetzung für die Verwandlung des Menschen zum Soldaten dar. Die Brutalität, mit der dies ausgesprochen wird, harmoniert mit der kompromisslosen, auf athletischen Körperkult und technische Perfektion orientierten Bildsprache.

 

Diese Ästhetik mag totalitär erscheinen. Interessanterweise ist es aber der russische Clip, der viel stärker als sein ukrainisches Gegenstück einen einzelnen Protagonisten als Individuum in den Mittelpunkt rückt. Indem der Werbespot die Verwandlung eines Rekruten vom verträumten Zivilisten zur erbarmungslosen Kampfmaschine als Kampf gegen dessen eigene vorherige Identität deutet, abstrahiert er völlig von der sozialen Einbettung des Soldaten und verabsolutiert dessen individuelle Selbstoptimierung. Sogar der Kommandeur wird, zunächst überraschend, als „Feind“ bezeichnet, wie der Clip überhaupt den Kampf gegen innere und äußere Feinde zur Voraussetzung einer gelingenden Selbstwerdung erhebt.

Dieser von allen sozialen Haltelinien befreite Individualismus zeugt von einer durchaus ernstzunehmenden Adaption neoliberaler Konzeptionen des Selbst. Als soldatisches Ideal wird nicht wie in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts das Aufgehen in einem großen Ganzen mittels Unterordnung unter Befehl und Gehorsam beschworen. Der ideale Soldat wird vielmehr als menschgewordener Ego-Shooter imaginiert.

Ins Totalitäre kippt dieser perspektivische Individualismus an dem Punkt, an dem er von jedweder sozialen Weltbeziehung abstrahiert und dem Ideal eines atomisierten Ich huldigt. Dieses Ich soll fähig sein, alle Grenzen zu überwinden – auf keinen Fall soll es aber den Modus des immerwährenden Kampfes in Frage stellen, der hier als einzig mögliche Grundlage soldatischer (und menschlicher?) Existenz gepriesen wird.

 

Verändert der Krieg alles?

Das russische Rekrutierungsvideo bringt in suggestiver Klarheit jene Perspektive auf den Krieg zum Ausdruck, die soldatische Gewalt als das ganz Andere unserer friedlichen Alltagswelt imaginiert. „Der Krieg verändert alles“, schreibt etwa Jörg Baberowski in der FAZ über Putins Überfall auf die Ukraine und bringt damit die durchaus verbreitete Sichtweise auf den Punkt, „der Krieg“ sei in Wirklichkeit eine Art Hobbes’scher Naturzustand, der von entschlossenen „Tatmenschen“ wie Putin nur „entfesselt“ werden musste, um nunmehr über die Ukraine hereinzubrechen. Die schöpferische, „unerhörte“ Dimension des kriegerischen Gewaltraums, in dem „jeder Schuss das Tor zu einer neuen, unbekannten Welt öffnet“, verschwimmt dabei mit der Idee, der Krieg stelle zugleich eine immer schon dagewesene, ursprünglichere Wirklichkeit dar. Auch „dem letzten Realitätsverweigerer“, so Baberowski, müsse angesichts dessen klar werden, „dass die Welt ein ganz anderer Ort ist, als er sich ihn vorgestellt hat“.[1]

Eine vergleichbare Suggestion liegt dem Werbespot der russischen Streitkräfte zugrunde, der ein radikal „neues Leben“ verheißt, dieses aber zugleich dem unhintergehbaren Naturgesetz des unaufhörlichen Kampfes gegen innere und äußere Feinde unterwirft. „Morgen ist der erste Tag deines neuen Lebens“… – Wie viele Tage das in Aussicht gestellte „neue Leben“ dann noch hat, bleibt offen.

Beide Spots demonstrieren eindrucksvoll, wie diametral verschiedene Botschaften der Mobilisierung zum Krieg dienen können. Während der ukrainische Film sich an eine Gesellschaft bewusster und sozial eingebetteter Bürger richtet, zielt der Werbespot der russischen Armee auf atomisierte, apolitische Individuen, deren bisheriges Leben nur insofern in Betracht kommt, als es einen geeigneten Sparring-Partner zu seiner eigenen Überwindung abgibt.

Es soll an dieser Stelle explizit offen bleiben, welches Bild von soldatischer Gewalt und Krieg der Wirklichkeit näher kommt. Zudem wäre es töricht, die Kriegspropaganda dieser Werbevideos mit den tatsächlichen Einstellungen der russischen und der ukrainischen Gesellschaft zu verwechseln. Die Spots zeigen uns im Wesentlichen nur, welche Imaginationen des Krieges die PR-Verantwortlichen in den jeweiligen Armee-Apparaten und die ausführenden Werbeagenturen in den angepeilten Zielgruppen für anschlussfähig halten. Das mag gewisse gesamtgesellschaftliche Stimmungslagen und Trends widerspiegeln; es ist mit diesen jedoch nicht deckungsgleich.

So fehlt es in Russland keineswegs an mutigen, ihres individuellen Selbst bewussten Bürgern, die mit dem hohlen Versprechen eines „neuen Lebens“ als Übermenschen wohl kaum für den Krieg zu gewinnen sind. Die beachtenswerten, brutal niedergeknüppelten Anti-Kriegs-Proteste in russischen Städten und die offenen Protestbriefe russischer Wissenschaftler*innen legen davon beeindruckend Zeugnis ab, auch wenn aus ihnen wohl nicht die Mehrheitsmeinung der Russen spricht.

Ebenso wäre es etwas zu kurz gegriffen, die Ukraine leichter Hand als stabilisierte, vom Geist der Demokratie durchwehte Zivilgesellschaft zu begreifen.
 

Trotz aller ermutigenden Entwicklungen der letzten Jahre war das Land am Vorabend dieses Krieges von einer inklusiven, institutionell verankerten demokratischen Kultur, die allen Bevölkerungsteilen gleichermaßen Partizipation und Teilhabe ermöglicht, noch ein gutes Stück entfernt. Insbesondere die von Oligarchen beherrschten Wirtschaftsstrukturen stehen einer tiefgreifenden Demokratisierung weiterhin entgegen. Der russische Angriffskrieg bringt nun notwendigerweise eine noch stärkere Militarisierung der Gesellschaft mit sich, die viele pluralistische und partizipatorische Errungenschaften in Mitleidenschaft ziehen wird.

Entscheidend ist jedoch, welche Vorstellung die Gesellschaften beider Länder und ihre jeweiligen Eliten von sich selbst haben. Dass Wolodymyr Selenskyj selbst im Krieg noch auf Ansprache auf Augenhöhe, Wertschätzung und Zusammenhalt setzt und damit im In- und Ausland auf überwältigende Resonanz stößt, lässt zumindest hoffen, dass Putins Krieg in der Ukraine dort nicht alles verändern kann. Das zarte Pflänzchen der pluralistischen und demokratischen Ordnung in der Ukraine könnte sich als wehrhafter erweisen, als die dezisionistischen Machtpolitiker im Kreml offenbar angenommen haben.

Wer bereit ist, zur Verteidigung seiner Freiheit die Waffe in die Hand zu nehmen, tut dies gerade nicht, um alles aufzugeben – sondern um möglichst viel von dem zu retten, was das eigene Selbst ausmacht.

 


[1]Alle Zitate aus: Jörg Baberowski: Ein Krieg, erfüllt vom Geist der Rache, In: FAZ vom 1.3.2022.