von Autor*innenkollektiv der Redaktion

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27. Januar 2023

Bei dem Projekt „Lernen mit digitalen Zeugnissen“, kurz „Lediz“, werden anhand stereoskopischer Filmaufnahmen und in Verbindung mit einer Spracherkennungssoftware interaktive 3D-Zeugnisse erstellt. Dabei untersucht ein interdisziplinäres Team das Potenzial digitaler Zugänge zu Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden für die Vermittlungs- und Bildungsarbeit. Für das „LediZ“-Projekt wurden bereits Gespräche mit Eva Umlauf (geb. 1942 in Nováky, Tschechoslowakei) und Abba Naor (geb. 1928 in Kaunas, Litauen) aufgenommen. Im Interview mit unserer Redaktion spricht Prof. Anja Ballis, Koordinatorin des Projekts, über das Vorhaben sowie über die Chancen und Herausforderungen virtueller Zeugnisse.

Anja Ballis ist Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der LMU München.  

 

z|o: Wie hat sich die Zusammenarbeit mit den Techniker:innen im Rahmen des LediZ-Projektes gestaltet. Waren sie von Anfang an in die Projektgestaltung eingebunden. Sind die Techniker:innen „Hologram-Spezialist:innen“?
 

Ballis: Im LediZ-Projekt gab es von Anfang an eine Kooperation mit der Britischen Forever Holdings, die solche Medienformate mit dem National Holocaust Centre and Museum in Laxton entwickelt hat. Flankierend dazu arbeiten wir von Beginn an mit dem Leibniz-Rechenzentrum in Garching zusammen, um die stereoskopische Aufarbeitung der Zeugnisse und Archivierung der Daten sicherzustellen.  

 

z|o: Gab es eine Diskussion über ethische Fragen hinsichtlich der Darstellung bald nicht mehr lebenden Zeitzeuginnen?
 

Ballis: In jeder Projektphase beschäftigen wir uns mit ethischen Fragen, die sich uns sowohl bedingt durch Projektfortgang als auch durch neue technische Möglichkeiten stellen. Ursprünglich waren die Zeugnisse so konzipiert, dass die Zeug:innen in ca. 45 Minuten ihre Lebensgeschiche erzählen. Daran schließt sich der interaktive Teil an, in dem die Nutzer:innen ihre Fragen stellen, angereichert durch den gehörten Kontext. Alles, was im ersten Teil erzählt wurde, haben wir die Zeug:innen im Studio nicht gefragt.

Unser Projekt war stark von der Corona-Pandemie betroffen; wir konnten ab März 2020 nicht mehr mit Schüler:innen und Studierenden die Zeugnisse erproben. Daher haben wir eine Online-Variante entwickelt, die Zugriff individuell für Nutzer:innen ermöglicht. Zwei wichtige Fragen sind dabei aufgetaucht: Für eine Online-Fassung mussten wir die Erzählung der Zeug:innen kürzen, da die Nutzer:innen bereits in der Vergangenheit Probleme damit hatten, der Erzählung länger als 15 Minuten aufmerksam zuzuhören. Sie wollten gleich ihre Fragen an das interaktive digitale Zeugnis loswerden. Mit der Verkürzung verringert sich der biographische Hintergrund und es wurden Fragen zu Lebensstationen gestellt, die in der Erzählung enthalten waren. Damit verbunden war eine zweite Herausforderung: Was passiert, wenn Schüler:innen und Jugendliche, aber auch erwachsene Nutzer:innen, ihre Fragen individuell stellen? Wird das Zeugnis „unsachgemäß“ befragt oder gar beleidigt? Wie können wir darauf reagieren? Inzwischen folgen wir konsequent der Auffassung, dass das Zeugnis ein Medium ist und fordern zu Ernsthaftigkeit in der Befragung auf. Alle wichtigen Veränderungen, die wir im Projekt vornehmen, besprechen wir – soweit und solange es möglich ist – mit den Überlebenden. Und: das ist mir wichtig zu betonen: Da wir alle eingehenden Fragen noch im System kontrollieren – eine Mitarbeiter:in überprüft die Zuordnungen der Antworten zu den Fragen der Nutzer:innen –, stellen wir fest, dass Beleidigungen und Beschimpfungen bislang nur vereinzelt zu verzeichnen sind. Wir haben hierbei den Eindruck, dass es eher um ein Austesten der Systeme geht. Allerdings ist der Zugang zu den Zeugnissen nicht frei, sondern Nutzer:innen und Interessierte müssen sich niedrigschwellig registrieren.

 

z|o: Frau Umlauf und Herr Naor haben sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht und man kann von dieser Vielfalt in einem solchen Projekt profitieren. Nur noch sehr wenige Überlebende werden jedoch ihre Erinnerungen in dieser umfassenden und systematisierten Form aufzeichnen können. Besteht die Gefahr, dass dadurch andere, in traditionelleren Formen erfasste Erinnerungen überblendet werden? Wie kann die Vielfalt der Stimmen und Perspektiven erhalten werden?

 

Ballis: Das ist eine wichtige Frage. Wir selbst haben ja vertieft mit zwei Zeitzeug:innen gearbeitet, die über viele Jahre Erfahrungen mit ihrem Publikum sammeln konnten. Frau Umlauf und Herr Naor erzählen ihre Geschichte vor Schulklassen, beide habe ihre Erinnerungen in einem Buch publiziert und ihre Geschichte in wichtigen Oral History Archiven niedergelegt. Wir gehen im Projekt von einem Medienverbund aus, dem wir ein weiteres Format hinzufügen. Selbstverständlich integrieren wir in unsere Arbeit auch die anderen überlieferten Formen der Zeug:innenschaft und machen uns für eine intermediale Lektüre stark. Die Besonderheiten der jeweiligen Medienformate erschließen sich im Vergleich. Insbesondere die Bücher spielen eine wichtige Rolle, die zum Teil eine Remediation erfahren und die Kohärenz der Geschichte sichern. Gerade entwickeln wir für das Zeugnis von Frau Umlauf, gemeinsam mit dem Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut, eine VR Experience, die ihre Erzählung noch einmal in einer anderen, stark am Räumlichen orientierten Weise präsentiert. Diese Auseinandersetzung mit Raum und Erzählung hat uns dann wieder zu der Frage geführt, ob wir nicht das populär werdende Genre Graphic Novel heranziehen könnten, um ihre Zeug:innenschaft erinnerlich zu halten – v.a. im Gespräch mit ihr und in der Darstellung verschiedener Etappen ihrer Zeug:innenschaft. Was allerdings wichtig und richtig ist: auch weniger bekannte Zeug:innen und ihre Zeugnisse sollten in diese Überlegungen einbezogen werden. Für das Projektteam LediZ kann ich sagen, dass über die Jahre eine enge Beziehung zu den beiden Zeitzeug:innen gewachsen ist. Wir haben viel erlebt und arbeiten vertrauensvoll zusammen. Das bringt dann wiederum neue Ideen hervor, die wir entwickeln, erforschen und in die Vermittlungsarbeit integrieren. Uns mit weiteren Zeug:innen zu beschäftigen, wäre eine wichtige Aufgabe, für die uns in München aber – das muss ich ehrlicherweise sagen – die personellen und ökonomischen Ressourcen fehlen.    

 

z|o: Berichte von Zeitzeug:innen basieren auf Erinnerungen. Wir wissen aus der Forschung, dass Erinnerungen nicht statisch sind und auf der individuellen Wahrnehmung einer Person beruhen. Sollten die Nutzer*innen der Hologramme Ihrer Meinung nach auf diesen Umstand vorbereitet werden? (Wenn ja, wie?) Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für den Umgang mit den Hologrammen? 

 

Ballis: Da wir Herrn Naor seit 2013 an Schulen begleiten, haben wir etliche Veränderungen seiner Erzählungen miterlebt. Lange Jahre, wie auch bei der Verfilmung des interaktiven digitalen Zeugnisses, hat er seine Erzählung mit dem Leben in Litauen vor dem Holocaust begonnen. Ihm war hier wichtig, dass er ein – wie er anführt – ein „ganz normales Leben“ mit seiner Familie vor der Verfolgung geführt hat. Wenn er heute vor Schulklassen spricht, dann ist er sich seiner Verantwortung als einer der wenigen noch aktiv wirkenden Zeitzeug:innen bewusst und beginnt damit seine Erzählung. Er verbindet die Erinnerungen mit für ihn wichtige Personen, die er in seiner Erzählung stärker hervorheben möchte.

Wenn wir das interaktive digitale Zeugnis von Abba Naor, aber auch von Frau Umlauf, in der Bildungsarbeit einsetzen, dann beginnen wir mit einer Frage: „Wie geht es Ihnen?“ Darauf wird die Antwort abgespielt: „Ich bin in einem Studio 2018, aber heute geht es mir gut.“ Diese Antwort ist wichtig und wird von uns kommentiert: Es ist Abba Naors Position des Jahres 2018, die wir konserviert haben – und er ist nicht „in echt“ vor Ort, sondern befand sich in einem Filmstudio und seine Antworten sind aufgezeichnet worden. Darauf weisen wir die Nutzer:innen zu Beginn hin. Das Zeugnis erfährt eine zeitliche und räumliche Situierung; auf Fragen, die die Zeit nach 2018 berühren, können Nutzer:innen keine Antworten erhalten. Was sie aber, nebenbei bemerkt, nicht abhält, auch solche Fragen zu stellen.

Was uns auch wichtig ist: Wir erläutern das Setting: Den Sessel, den schwarzen Hintergrund, die Zweigliedrigkeit des Zeugnisses. Es wirkt so, als wären die Zeitzeug:innen alleine. Hier führen wir den Begriff der „multiplen Autor:innenschaft“ ein: ein großes Team, in der Anwendung nicht sichtbar, hat sich in diese Darstellung der Zeug:innenschaft eingeschrieben. Das kommunizieren wir offen und selbstkritisch.

 

Präsentation des Zeugnisses von Abba Naor am LRZ, Oktober 2019, © Alessandro Polo

 

z|o: Auf welche Weise können sich solche Hologramme von Zeitzeug*innen auf das historische Denken auswirken? 

 

Ballis: Die Erinnerung an Holocaust und NS-Verbrechen spielt eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis der Bundesrepublik und spiegelt sich – auch im Bildungskontext – in vielfältigen Vorgaben wider, etwa in „Erinnern für die Zukunft“ der Kultusministeriellen Konferenz. In weiten Teilen hat man sich der Vergangenheitsaufarbeitung gestellt; wiederholt wurde darauf verwiesen, dass wir nun den Wandel vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis vollziehen. Das ist zweifellos richtig, das Ende der Zeitzeug:innenschaft steht unmittelbar bevor. Bei unseren Aktivitäten um die Erprobung und Evaluierung der interaktiven digitalen Zeugnisse wurde des Öfteren erwähnt, dass die Nutzer:innen die Zeugnisse – im Nachgang – mit Freund:innen und Familienangehörigen online erkundeten, miteinander ins Gespräch gekommen sind, auch über die Rolle der eigenen Familie und Täter:innenschaft während der NS-Zeit. Von Interesse sind außerdem der Verlust des Zuhauses und die Mehrsprachigkeit der Zeug:innen, was für eine Migrationsgesellschaft hochrelevant ist. Das sind für uns wichtige und nicht von Anfang an beabsichtigten Effekte: Die Zeugnisse prägt eine interaktive Komponente, die auch den Austausch über historische Ereignisse und ihre langanhaltenden Wirkungen zu befördern scheint. Inwiefern sich dieser Effekt langfristig auf Prozesse historischen Denkens auswirken wird, stellt eine lohnende Forschungsfrage dar. 

 

z|o: Im 3sat-Beitrag erklären Sie, es gehe im Projekt darum, „dass durch die technische Darstellung eine Distanz entsteht, damit Jugendliche sich trauen, Fragen zu stellen, die ihnen unter den Nägeln brennen.“ Wäre diese Distanz nicht durch eine technisch einfachere Lösung zu gewährleisten?

 

Ballis: Wenn ich an eine technisch einfachere Lösung denken sollte, fällt mir ein Chatbot ein, der Text ausspielt. Es wäre in der Tat möglich, das Zeugnis als Chat-Kommunikation mit Fragen und Antworten aufzubereiten.

Worauf ich im 3sat-Beitrag abheben wollte, waren die Erfahrungen, die wir im Vergleich der „realen“ Begegnungen mit den Zeitzeug:innen und mit der Präsentation interaktiver digitaler Zeugnisse gesammelt haben. Allein an meinen Wendungen hören Sie, dass ich einmal von Begegnung „in echt“ und von einer Präsentation der digitalen Zeugnisse spreche; die Aura der Zeitzeug:innen wirkt bis heute auf die Jugendlichen, die Abba Naor begegnet sind. Die Begegnung ist durch seine starke Präsenz geprägt, die er räumlich und kommunikativ immer wieder zum Publikum sucht und herstellt. Zudem kommentiert er die Fragen, die aus dem Publikum gestellt werden. Das kann einschüchternd wirken. Wir haben die Jugendlichen nach ihrer Begegnung mit den Zeug:innen befragt; es taucht immer wieder die Befürchtung auf, die Zeug:innen durch ungeschickt formulierte und unpassende Fragen zu verärgern oder in ihnen unangenehme Erinnerungen auszulösen.

Wenn das interaktive Zeugnis befragt wird, können solche Bedenken verringert werden. Wir machen deutlich, dass es ein Medium ist, das es zu befragen lohnt, entlang der Interessen und des Vorwissens der Nutzer:innen. Und – es können Fragen des Öfteren gestellt werden; Wiederholungen helfen, Gegenstände und Sachverhalte zu verstehen und zu durchdringen.

 

z|o: Wie vereinbaren die Projektverantwortlichen das Ziel, Distanz zu schaffen, und das Ziel, eine möglichst realistische Darstellung der Zeitzeug:innen zu erstellen?

 

Ballis: Das Ziel, Distanz durch die Präsentation zu schaffen, bezieht sich ja v.a. auf den Frage- und Antwortteil. Hier stellt sich, wenn Sie einer solchen Vorführung folgen, fast automatisch Distanz ein: Das Fragen reihum, die Reformulierung von Fragen und nicht zuletzt Fehleranfälligkeit der Technologie, lassen das Gefühl der Immersion schwinden.

Im Projekt erforschen wir auch, an welchen Stellen, Nähe – wir sprechen von „besonderen Momenten“ und „Staunen“ – entsteht. Hier haben wir interessante Befunde vorzuweisen: Nähe entsteht durch die Erzählung der Zeitzeug:innen, die auf die Nutzer:innen – in 3D – stark immersiv wirkt. Das Publikum nimmt die Erzählung im filmischen Rezeptionsmodus wahr. Auch im Frage- und Antwortteil registrieren die Nutzer:innen Nähe, wenn es um Antworten zum Themenfeld Familie geht: Verlust der Eltern und der Geschwister, Verlust der Heimat; Antworten, die inhaltlich und emotional unerwartet sind, lösen bei den Nutzer:innen Staunen aus; wir verstehen darunter die Abkehr bzw. Erweiterung alltäglicher Erfahrungen. Im Interview erklärt uns eine Schüler:in, dass sie die Antwort auf die Frage – „Was ist ihr Lieblingsessen?“ – berührt hat. Abba Naor verknüpft nämlich das Lieblingsessen mit den Speisen seiner Mutter, die bis heute in der Familie gekocht werden, früher von seiner Frau, heute von seiner Tochter. Damit hat die Schüler:in nicht gerechnet.

 

z|o: Wie manipulierbar ist diese (neue) digitale Technik? Wie steht es um die Datensicherheit?

 

Ballis: Während der Dreharbeiten haben wir Fragen und Antworten protokolliert, um die Zuordnungen sicherzustellen. Alle Daten sind in der Originalfassung im Leibniz-Rechenzentrum in Garching archiviert und können dort auch eingesehen werden – auch für weitere Forschungen.

Die größte Herausforderung stellt für uns aktuell dar, sicherzustellen, dass die Antworten, die auf die Fragen der Nutzer:innen ausgespielt werden, auch dem semantischen Gehalt der ursprünglich gestellten Fragen entsprechen. Das heißt wir arbeiten an den Zuordnungen der Fragen bis heute, da Nutzer:innen variantenreich Fragen stellen und diese mit dem bestehenden Datensatz an Antworten abgeglichen und zu verknüpfen sind. Hier ist eine Mitarbeiter:in im Backend seit 2018 tätig und überprüft manuell die von der KI vorgenommenen Zuordnungen.

Wenn wir vor Ort, an Schulen, Gedenkstätten oder Museen, die Zeugnisse präsentieren, kann das Projektteam auf fehlerhafte Zuordnungen hinweisen, das den Datensatz an Antworten kennt.

In der Online-Fassung stellt es eine Herausforderung dar. Aktuell bauen wir eine neue Website, damit Nutzer:innen uns bei Problemen kontaktieren können. Außerdem stellen wir Beispielfragen zur Verfügung und vielfältige Materialien für den schulischen und außerschulischen Einsatz.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auf die Entstehung der digitalen Zeugnisse zu verweisen, v.a. in den USA: Diese sind dort seit 2011 entwickelt worden, um digitalen Manipulationen – „deep fake“ – entgegenzuwirken. Das heißt aus dem digital verfügbaren und online abrufbarem Material  – nicht nur – von Überlebendenden des Holocaust, können Antworten und Aussagen neu generiert und mit dem digitalen Konterfei der jeweiligen Person verknüpft werden. In Zeiten von Digitalität ist und bleibt das eine Herausforderung für uns alle: Glaubwürdigkeit von Aussagen und Souveränität im Umgang mit Medien. Betonen möchte ich, dass wir im Projekt LediZ keine neuen Antworten aufnehmen oder generieren.

 

z|o: Welchen Eindruck hinterlassen solche Hologramme bereits bei „Nutzer:innen“? Gibt es schon erste Ergebnisse der Rezeptionsforschung?

 

Ballis: Die Rezeptionsforschung ist eine wichtige Säule im Projekt LediZ. Bislang können wir zu erwachsenen Besucher:innen, die das Zeugnis in einer Gedenkstätte erkunden konnten, differenzierte Aussagen machen. Insbesondere die Generation Ü30 reagiert aufgeschlossen auf die neue Technologie und ihre Möglichkeiten. In Interviews, die wir mit den Nutzer:innen führten, macht sich ein „Kipp-Phänomen“ bemerkbar: Einerseits nehmen die Nutzer:innen das interaktive Zeugnis als Mensch wahr und sind von den Aussagen beeindruckt; andererseits kippt ihre Wahrnehmung immer wieder und sie erfassen eher die maschinelle und technische Seite der Anwendung, sodass sie eher von einem Medium sprechen.

Wir konnten auch Schulklassen befragen, v.a. Schüler:innen ab der 10. Jahrgangsstufe. In unserer Fragebogenerhebung wurde deutlich, dass den Schüler:innen sehr wohl bewusst ist, dass es sich um ein Medium handelt und dass sie nicht mit einem Menschen interagieren – eine weitverbreitete Furcht von Kritiker:innen der Zeugnisse. Zudem ist ihnen klar, dass nicht jede Frage gestellt werden konnte und nicht jede Antwort des interaktiven Zeugnisses zu ihren Fragen passte. Unentschlossen zeigen sie sich in ihrer Einschätzung, ob es sich bei dieser Form der Interaktion um eine Gespräch handelt. Besonders wirksam erachten Schüler:innen das Zeugnis, wenn es um die Sensibilisierung für die Bedeutung von Menschenrechten geht. Diese Befunde sind für uns relevant und wir entwickeln darauf aufbauend weitere quellenkritische Überlegungen und didaktische Materialien.

 

z|o: Sie werden sicher auch andere Überlebende/Zeitzeug*innen, um ein Interview gebeten haben. Wie waren die Reaktionen? Frau Umlauf war zunächst nicht begeistert…

 

Ballis: Für Herrn Naor war das gar kein Problem, er hat uns mit einem Vertrauensvorschuss bedacht. Frau Umlauf war skeptisch und hat sich mit ihrer Familie beraten – die ihr zugeraten hat. Ein Höhepunkt für unsere Projektgruppe war die Begegnung von Frau Umlauf mit ihrem interaktiven Zeugnis im Sommer 2020. Sie hat sich Fragen gestellt, ihre Antworten kommentiert – hinsichtlich des Inhalts, ihrer Zufriedenheit mit den Antworten und ihrer „Performance“. Das war für uns sehr aufschlussreich, weil wir ihre Maßstäbe der Beurteilung kennenlernten. Sie ist eine begeisterte Kinobesucherin und konnte diesbezüglich hilfreiche Kommentare abgeben. 

Aktuell entwickelt mein Kollege Markus Gloe Zeugnisse im Umkreis der Sinti und Roma. So unterstützte er das Interview mit Zilli Schmidt, eine Sintezza. Zudem hat er zehn Nachfahren der zweiten Generation von Sinti und Roma-Opfern befragt.

Die Zeitzeug:innen des Holocaust eint ihre lange Erfahrung im Erzählen ihrer Geschichte. Daher kamen sie gut mit den Aufnahmen zurecht und konnten zu den 1.000 Fragen zu ihrem Leben vor, während und nach dem Holocaust beredet Auskunft geben.

Weitere Personen haben wir nicht angefragt. Das Verfahren ist sehr aufwändig und kostenintensiv – und v.a. abhängig vom gegenseitigen Vertrauen, das zwischen Zeitzeug:in und Team aufzubauen ist. Das LediZ-Team ist noch immer mit der Verbesserung, Evaluierung und Implementierung der Zeugnisse beschäftigt – längst außerhalb von Projektlaufzeiten und auf der Basis von Eigenmitteln.

 

z|o: Wie steht es um die Nachhaltigkeit des Projektes: Sind Software und die Daten/Hologramme in getrennten Formaten vorhanden? Oder ist beides an einander gekoppelt? Meine Frage zielt auf den Aspekt der Nachhaltigkeit des Projektes.

 

Ballis: Wie schon erwähnt, sind alle Rohdaten im Leibniz-Rechenzentrum gespeichert, die im Winter 2018/19 aufgenommen wurden.

Die Anwendung besteht aus zwei Teilen: Zum einen haben wir die Erzählung der Holocaust-Überlebenden stereoskopisch aufgenommen, d.h. zur Wiedergabe in 3D, aber durchaus auch in 2D. Zum zweiten kommen die 1.000 Antworten auf die Fragen, die als Text in einem Spracherkennungssystem aufbereitet sind, zum Tragen. Spricht der/die Nutzer:in eine Frage ein, so wird die Frage in Text umgewandelt, mittels automatisierter Sprachverarbeitung mit dem vorhandenen Datensatz abgeglichen und als Videodatei ausgespielt. Beide Bereiche sind getrennt voneinander.

Was aus diesen Daten noch entstehen kann, ist eine aktuelle und in die Zukunft gerichtete Frage, die immer auch mit ethischen Implikationen verbunden ist.

Daher haben wir in einer Anschluss-Studie Holocaust-Überlebende weltweit befragt, deren Geschichte als interaktive digitale Zeugnisse aufgenommen worden sind. Wo und wie wollen sie Ihr Zeugnis installiert und verwendet wissen? Wann sollte es abgestellt werden? Trotz vielfältiger Unterschiede im Verständnis der technischen Abläufe eint die Befragten der Wunsch, dass ihre Geschichten weitererzählt werden – in und mit verschiedenen Medien, an verschiedenen Orten. Diesem Wunsch fühlen wir uns auch in München verpflichtet – und an diesem Wunsch der Überlebenden müssen wir uns messen lassen.

 

Das Gespräch mit Anja Ballis wurde schriftlich geführt.

 

LediZ ist eine Zusammenarbeit zwischen der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Leibniz-Rechenzentrum (LRZ) der Bayerischen Akademie der Wissenschaft.

 

Weiterführende Infos zum LediZ-Projekt gibt es hier