von Corinna Kuhr-Korolev

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21. März 2023

Die verwackelte Kameraführung folgt einem kleinen Mädchen, das wie andere Menschen aus einem unter russischem Beschuss liegenden Stadtteil von Kiew im März 2022 evakuiert wird. Der Weg führt auf einem Holzstieg eine zerstörte Böschung hinauf. Das Mädchen hat zum Wärmen ein graues Wolltuch umgebunden, wie es Marktfrauen in der Ukraine und Russland tragen. Auf den Schultern ein rosafarbener Kinderrucksack. Seine flehende Stimme ist zu hören: „Vorsicht, das ist meine Mama!“. Das bezieht sich auf die verletzte Frau, die von Sanitätern der Freiwilligeneinheit „Hospitaliters“ in einer provisorischen Bahre mühsam bergauf getragen und schließlich in einen wartenden Sanitätswagen gelegt wird. Das Mädchen steht allein am Straßenrand und es bleibt unklar, wie sein Schicksal weitergeht.

Die nächste Szene zeigt die „Hospitaliters“ in einer kurzfristig bezogenen Unterkunft, einer luxuriösen Vorortvilla. Der gepflegte Garten mit hohen Hecken und einer Kinderschaukel passt nicht zur Situation. Beschuss setzt ein, die Kellerräume werden in Eile aufgesucht, der Funk abgehört. Der nächste Einsatz folgt. Das Team rast im Rettungswagen durch eine städtische Kriegsszenerie, um einen schwer verwundeten Soldaten aufzunehmen und ins Krankenhaus zu bringen. Auch hier werden die Zuschauer*innen unmittelbar ins Geschehen hineingenommen. Im Slalom geht es um Straßensperrungen, waghalsig über Kreuzungen hinweg, überall liegen Trümmerstücke. Im schlingernden Innenraum versuchen die Helfer*innen verzweifelt, dem Schwerverletzten erste Hilfe zu leisten, ihn bis zum Krankenhaus am Leben zu erhalten. Als sie die Auffahrt endlich erreichen, ist der Zustand so kritisch, dass sie reanimieren müssen. Der Mensch stirbt unter ihren Händen. Im Kino werden wir Zeug*innen dieses Sterbens.

Shidniy front ist kein Actionfilm. Es handelt sich um einen Dokumentarfilm, dessen Aufnahmen seit dem 24. Februar 2022 mit Bodycams, Hand- und Videokameras gemacht wurden. Sie zeigen den Kriegsalltag einer Gruppe von Freunden, die schon seit 2014 nach der russischen Annexion der Krim die ukrainischen Truppen im Donbass als Sanitäter unterstützen. Zu ihnen gehört der Koregisseur des Films, Yevhen Titarenko, der in seinem früheren Leben als Filmproduzent auf der Krim gelebt hat. In Zusammenarbeit mit dem prominenten, russisch-ukrainischen Regisseur Vitaly Mansky entstand dieser Film, der nun auf der Berlinale 2023 Premiere hatte. Das ukrainische Publikum wird eventuell skeptisch auf die Kooperation mit Mansky blicken. Dieser hat sich zwar seit 2014 deutlich gegen die russische Politik in der Ukraine positioniert und ist nach Riga emigriert, wird aber dennoch als ein Vertreter des Moskauer künstlerischen Establishments wahrgenommen.

Während Titarenko einer der Protagonisten des Films ist, bleibt Mansky als Beobachtender und Fragender im Off. Im Interview betont Titarenko, dass es dieses Blicks von außen bedurft habe, um aus dem Material einen stimmigen Film zu machen. Mansky ergänzte die Szenen, die im unmittelbaren Kriegsalltag im Laufe mehrerer Monate entstanden sind, mit von ihm gedrehten Aufnahmen von einem Aufenthalt der Freundesgruppe bei Verwandten auf dem Dorf. In dieser kurzen Auszeit vom Krieg wird ein Zaun repariert, im Fluss gebadet, ein Kind in einer Dorfkirche getauft. Beim Festessen am Tisch in freier Natur entspinnt sich ein Gespräch darüber, wie das Leben sich durch die Kriegssituation verändert hat. Diese Szenen wirken gelegentlich etwas zu idyllisch und inszeniert. Das gilt auch für eine weitere Einstellung, in der die Protagonisten an einer Badestelle am Ufer eines breiten Flusses sitzen und vom Leben in Charkiv erzählen. Dabei geht es um das Verhältnis zwischen ukrainisch- und russischsprachiger Bevölkerung in der Ostukraine und um die Wirkung der russischen Propaganda. Die beiden Regisseure wollen ihrem internationalen Publikum vermitteln, dass die Unterdrückung der russischen Sprache und Menschen in der Ukraine eine Erfindung der russischen Medien ist. Eine weitere Botschaft lautet, dass die gezeigten jungen Männer eigentlich ein normales Leben führen, sich aber nun gezwungenermaßen der Herausforderung stellen, ihr Land zu verteidigen. Vor allem aber geht es darum, die grausame Realität dieses Kriegs darzustellen.

Dafür arbeitet der Film mit vielen schnellen Schnitten und dem ständigen Wechsel von ruhigen Einstellungen und Kriegsszenen. Einsatz folgt auf Einsatz. Mal streifen die „Hospitaliters“ durch verlassene Schützengräben oder fahren durch zerschossene Vororte. Mal explodiert vor ihnen ein Sanitätswagen und sie können nur noch die zerfetzten Körperteile ihrer Kollegen wahrnehmen, um sich dann selbst aus der Schusszone zu bringen. Verletzte Panzerfahrer werden auf offenem Feld und unter Beschuss geborgen. Der Film endet in einer Rettungsaktion in einem Waldstück. Der Boden ist aufgerissen, die Situation ist unübersichtlich, zerstörte Ausrüstung liegt verstreut herum, Verwundete werden hektisch versorgt. Der Film wechselt in schwarz-weiß in eine apokalyptische Szenerie, die an Fotografien von Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs erinnert. Nach und nach verblasst das Bild, zu hören ist nur noch der Atem eines rennenden Menschen, auf der weißen Leinwand erscheint der Satz „In this film was spoken Ukrainian and Russian“.

Dieser Film ist sehenswert, weil er ein fast immersives Erlebnis schafft und den Zuschauer*innen ansatzweise vermittelt, wie sich dieser Krieg vor Ort anfühlt. Zugleich provoziert der Umgang mit dem Thema des ukrainischen und russischen Sprachgebrauchs. Die Situation ist komplizierter als der Film suggeriert. Vielleicht spiegelt das aber auch die Situation der beiden Regisseure wider, die im Film meist Russisch sprechen. An einer Stelle überlegen sie, wie der Film enden könnte und finden keine Antwort. Wie auch. Noch ist völlig unklar, welcher Weg in den Frieden führen könnte und welche langfristigen Konsequenzen dieser Krieg haben wird.

 

Datenblatt des Berlinale-Programms zum Film.