Man mag es kaum glauben, aber achtzig Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz erscheinen noch immer Erinnerungen von Überlebenden erstmals in deutscher Sprache. Die Ende November 2024 im S. Fischer Verlag veröffentlichte deutsche Übersetzung des 1950 zuerst auf Ungarisch erschienenen Buches von József Debreczeni (1905-1978), der Auschwitz und andere Lager überlebte, teilt das Schicksal der späten oder verspäteten Übertragung ins Deutsche mit Werken wie „Das KZ-Universum“ von David Rousset, dessen französische Originalausgabe bereits 1946 erschien, aber das erst vor fünf Jahren ins Deutsche übersetzt wurde, oder wie „Die Frauen von Birkenau“ von Seweryna Szmaglewska, 1945 erstmals auf Polnisch erschienen und erst 2020 auf Deutsch herausgegeben. Die Liste ließe sich fortsetzen. Nicht nur Überlebendenberichte, auch wissenschaftliche Werke waren von der gesamtdeutschen Ignoranz und Abwehr in den ersten Nachkriegsjahrzehnten gegenüber den Ereignissen der Shoah betroffen. Raul Hilbergs Standardwerk „The Destruction of the European Jews“ aus dem Jahr 1961 erschien erst mit zwanzigjähriger Verspätung in der Bundesrepublik und wurde in der DDR kaum wahrgenommen. Die noch ältere und weltweit erste Gesamtdarstellung der Vernichtung der europäischen Juden, verfasst von dem französischen Historiker Léon Poliakov, wurde unter dem Titel „Bréviaire de la haine. Le IIIe Reich et le Juifs“, 1951 in Paris herausgegeben und musste noch sehr viel länger auf eine deutsche Veröffentlichung warten: bis ins Jahr 2021. Doch das Desinteresse an den Erzählungen der Überlebenden war kein ausschließlich deutsches Phänomen. Selbst ein Werk, wie Primo Levis „Ist das ein Mensch?“, das heute zur Weltliteratur zählt, erhielt bei seiner italienischen Erstveröffentlichung 1947 keinerlei Aufmerksamkeit. Es waren dann Filme wie die TV-Serie „Holocaust“ Ende der 1970er Jahre, wie Claude Lanzmanns „Shoah“ (1985) und wie Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ (1993), die dafür sorgten, dass der Holocaust ins öffentliche Bewusstsein drang und dass die Beschäftigung mit dem beispiellosen nationalsozialistischen Judenmord sowohl gesellschaftlich als auch wissenschaftlich einen anderen Stellenwert bekam.
Welch erinnerungskultureller Wandel innerhalb der letzten sieben Jahrzehnte zu verzeichnen ist, zeigt die Tatsache, dass ein damals in den USA lebender Bruder von József Debreczeni bereits in den 1950er Jahren erfolglos versuchte, einen amerikanischen Verlag für dessen Erinnerungsbuch zu finden. Er wurde überall abgewiesen. Nun erscheint Debreczenis Buch auf Initiative eines seiner Neffen zeitgleich in 15 Sprachen, darunter in Englisch und Französisch, und wird weltweit als neuer Klassiker der Lagerliteratur gewürdigt – auch wegen seiner verdichteten und eindringlichen Sprache. Der Autor wusste zu schreiben, zu berichten und mit Sprache umzugehen. Denn Debreczeni, 1905 als József Bruner in Budapest geboren, hatte bis zu seiner Inhaftierung 1941 als Zeitungsjournalist und Romanautor gearbeitet.
Überlebendenberichte können – bei aller quellenkritischen Vorsicht, die gegenüber der menschlichen Erinnerung stets geboten ist – noch heute einen Beitrag zum Wissen über den Holocaust leisten. József Debreczenis Bericht etwa erzählt von der hierzulande kaum bekannten Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in der von Ungarn besetzten Vojvodina. 1941 waren ungarische und deutsche Truppen gemeinsam in der zu Serbien gehörenden Region einmarschiert. Kurz darauf wurde das Gebiet mit seiner Hauptstadt Novi Sad und einer großen ungarischen Minderheit, größtenteils dem mit den Nationalsozialisten verbündeten Ungarn zugeschlagen. Die meisten Juden wurden inhaftiert und mussten in Arbeitskommandos Zwangsarbeit leisten, unter ihnen auch Debreczeni, der im Internierungslager Bačka Topola festgehalten wurde. Drei Jahre später wurden die Arbeitskräfte im Reich gebraucht und Debreczeni nach Auschwitz deportiert. Sein Buch beginnt mit Szenen der mehrtägigen Fahrt in Güterwaggons durch das östliche Europa, bei der viele Häftlinge starben.
Von Auschwitz aus wird Debreczeni weiter in verschiedene Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen in Niederschlesien in der Nähe von Breslau deportiert. Weil die Deutschen wegen der vorrückenden Roten Armee immer mehr Lager im Osten räumen müssen, wird aus dem „Provinznest“ Groß-Rosen Anfang 1945 „das zweitgrößte Konzentrationslager“.[1] In einem Außenlager im Eulengebirge muss Debreczeni mit anderen Häftlingen unter schwersten Bedingungen an einem neuen unterirdischen „Führerhauptquartier“ arbeiten: „Es ist eine Körper und Seele vernichtende Arbeit“ (S. 124), schreibt Debreczeni. Von dort aus wird er zunächst in das Außenlager Fürstenstein und Mitte November 1944 schließlich in das Außenlager Dörnhau deportiert („Die vom Wahnsinn gesteuerte Maschinerie ist auf ständige Bewegung eingestellt.“, S. 164), wo er im Mai 1945 seine Befreiung erlebte, nach Monaten der Unterernährung, der Kälte und der Krankheit, der Agonie und des Deliriums, in denen er dem Tod näher als dem Leben war: „Ich bin ein Schatten unter den Schatten.“ (S. 213)
Die SS bezeichnete Dörnhau als ein „Schonungslager“, weil dort die nicht mehr arbeits- und marschfähigen Häftlinge interniert wurden. Die Historikerin Andrea Rudorff aber hat Dörnhau einmal als „Sterbelager“ charakterisiert.[2] Und das ist es auch, was Debreczeni im Hauptteil seiner Erinnerungen beschreibt: „In Dörnhau hat das Ende Hunderte Gesichter.“ (S. 195) Auf seine Erlebnisse während der gut sechs Monate in diesem Lager geht auch der Buchtitel „Kaltes Krematorium“ zurück:
„Ich bin nackt wie die anderen. Mein Kleiderfetzen wurden mir weggenommen. Doktor Haarpuder ist der Ansicht, liegende Kranke bräuchten keine Kleidung, diese sei denen vorbehalten, die aufstehen. Schlotternd krieche ich unter die Decke, die einige Augenblicke zuvor einen unbekannten toten Schicksalsgenossen bedeckt hat. Ich denke an Birkenau, das mir nun also doch nicht vergönnt war. Alles erscheint unwirklich. Es ist nicht einfach, aus dem tranceähnlichen Zustand zu erwachen, sich aus dem lähmenden Schrecken zu erheben, der beim Betreten dieser Räume jeden ergreift. Ich glaube einfach nicht, was ich sehe. Ich beschließe, dass mein aufgewühlter Geist von furchteinflößenden Trugbildern heimgesucht wird. Ich ziehe mir die von Läusen wimmelnde Decke des Toten über den Kopf und so bleibe ich über mehrere Stunden. In der Dunkelheit suche ich nach Licht, baue hinter den geschlossenen Lidern die verlorene Wirklichkeit wieder auf. Ich brenne im kalten Krematorium.“ (S. 163)
Mit besonderer Perfidie hatten die Deutschen eine Hierarchie innerhalb der Häftlinge erdacht und etabliert, die jeden Gedanken von Gemeinschaft und Solidarität zerstören sollte. Debreczeni beschreibt einen von den Deutschen als „Kapo“ eingesetzten Funktionshäftling schonungslos als „von perfiden Instinkten gesteuerte Bestie … von dem teuflisch einfallsreichen System der Nazis herangezüchtet.“ (S. 93) Oft musste er erleben, „dass aus mit Privilegien versehenen Sklaven die besten Schergen“ (S. 94) wurden.
Bewundernswert ist, dass Debreczeni gegenüber den Deutschen nach alldem Erlittenen zur Differenzierung fähig bleibt und schon Ende der 1940er Jahre Erkenntnisse formuliert, für die die Forschung noch Jahrzehnte brauchen sollte: „Man kann wahrscheinlich wirklich nicht von achtzig Millionen Mördern sprechen“, aber „bewusst oder unbewusst fällt hier Millionen die Rolle des Helfershelfers zu (...), die mittelbar oder unmittelbar von der Maschinerie des gewaltigen Verbrechens gegen die Menschheit profitiert.“ (S. 85) Doch sein Urteil ist eindeutig, wenn er die „nahezu komplette Abwesenheit von Zivilcourage“ unter den Deutschen konstatiert: „Es ist ein seltsames Volk. Voll innerer Widersprüche und frappierender Extreme. Ein seltsames Volk, das der Welt nicht nur Robert Koch, sondern auch Ilse Koch geschenkt hat, die Hexe von Buchenwald(...)“. (S. 86)
[1] Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2016, S. 638.
[2] Das KZ-Auschwitz 1942-1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, (= Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Bd. 16), Berlin 2018, S. 79.