von Maike Lehmann

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21. März 2022

Szenen aus einem Werbeclip  sind mit der russischen Invasion Realität geworden: Taxifahrer und Geologiestudent*in, Väter und Söhne, Programmierer und Vorarbeiter, Fußballfans und Nachbarn verteidigen mit Waffen ihre Heimat, wo russische Bomben Wohngebiete, Krankenhäuser, Kirchen und Museen treffen. Dieser Tage berichtet der Guardian, wie in Kiew Geschichtslehrer hastig verteilte Maschinengewehre zum ersten Mal in der Hand halten, um die Zufahrtstraßen ihrer Heimatstadt zu sichern. In Lwiw bezeichnet ein Geschichtsstudent das Herstellen von Molotov-Cocktails im Kreise von Mitstudierenden als ‚praktische Geschichte‘. Und in der Realität sind es nicht allein Männer, wie im Rekrutierungsvideo der ukrainischen Armee: Journalistinnen berichten aus den Kellern und den Straßen ukrainischer Städte, während Großmütter Brot backen und Molotov-Cocktails präparieren. Mütter bringen ihre Kinder an die Westgrenze und kehren an die Front zurück. Und Ukrainer*innen in besetzten Orten lassen die russische Nationalgarde und Soldaten wissen, was sie von ihnen halten.

Für Gesellschaften jenseits der Ostgrenze der EU ist es atemberaubend solche Taten anzusehen. Zugleich bemühen sich hier viele, Hilfe zu leisten durch Geld- und Sachspenden, Hilfsdienste an Bahnhöfen und Angebote für die Aufnahme des größten Flüchtlingsstroms, den Europa seit 1945 gesehen hat.
Es sind allen voran Menschen in Polen, Slowakei, Rumänien, Moldau und Ungarn, die Menschen in Empfang nehmen, die unter Bomben und Granatbeschuss ihre Heimat, ihre Eltern und ihre Kinder verlassen mussten. Es bleibt die Hoffnung, dass diese Unterstützung nicht abreißt, wenn sich die Sanktionen gegen Russland auch in der EU an den Tankstellen, in den Supermärkten und auf den Heizungsrechnungen längerfristig niederschlagen.

Auch die Wissenschaft ist nicht untätig geblieben. Osteuropaexpert*innen bemühen sich in Tageszeitungen, im Fernsehen und im Netz um Kontextualisierung, Aufklärung und Differenzierungen. Viele europäische Universitäten und Stiftungen bieten Auffangstipendien für geflüchtete Wissenschaftler*innen an. Es gibt bereits eine Petitionfür eine Unterstützung von Forscher*innen, die die Ukraine nicht verlassen können oder wollen. All dies ist im Hier und Jetzt und in seiner Reaktion auf das Leid von Menschen in und aus der Ukraine elementar.

Zugleich hat dies alles historische Dimensionen. Dementsprechend haben Historiker*innen in der Ukraine gleich in den ersten Tagen ein Soundarchiv gegründet, um die Auswirkungen des Krieges in Podcasts zu dokumentieren. Hier spielt das renommierte Center for Urban History in Lwiw eine zentrale Rolle; es sammelt zugleich private Aufnahmen vom Kriegsalltag für sein Urban Media Archive. Und es hat ein Oral History Projekt gestartet, bei dem das Center mit Kolleg*innen aus Polen, Schottland, der Schweiz und Luxemburg zusammenarbeitet, um die Erfahrungen der ersten Kriegstage weiter zu dokumentieren.[1] Dieses Projekt ist umso beeindruckender, wenn man die Umstände bedenkt: in Lwiw, als Hauptanlaufpunkt für Binnenflüchtlinge und zentraler Transferstation vor dem Übertritt der Grenze nach Polen, das zudem unter Luftangriffen steht. Und in Polen, wo innerhalb weniger Tage mehr als eine Millionen Menschen aufgenommen wurden. Aber auch in Kiew und anderen Städten scannen Archivar*innen fieberhaft die Bestände – Bomben- und Granatangriffen zum Trotz.

Dabei ist nicht zu vergessen, dass all diese Menschen nicht nur Kämpfer*innen und Geflüchtete sind. In ihren Heimatstädten stehen Lebensräume, Erinnerungsorte und Gedächtnisspeicher unter Beschuss, die ihr Leben als Taxifahrer*innen und Geologiestudent*innen, Eltern, Kinder, Großeltern, Programmierer*innen und Vorarbeiter*innen, Fußballfans und Nachbar*innen geprägt haben. Sie bei der Bewahrung und dem (Wieder-)Aufbau dieser Speicher zu unterstützen, ist die Kernaufgabe einer europäischen Geschichtswissenschaft.

 

Archive & Macht

Archive sind die klassischen Speicher, die das meist staatlich geordnete, aber gesellschaftlich nicht weniger relevante Wissen einer Gemeinschaft oft über Jahrhunderte bewahrt. Entsprechend reagierten polnische Historiker*innen sofort mit einer Spendenaktion, um das Historische Archiv Lwiw bei seinen Bombenschutzmaßnahmen zu unterstützen. Doch an Orten wie Mariupol und Charkiw ist kaum noch zu hoffen, dass die Archive genauso viel beziehungsweise mehr Glück haben werden als die in Sarajevo oder in Köln. Ein Gebäude in Tschernihiw, in dem KGB-Akten archiviert sind, hat bereits kein Dach mehr.

Aber mit mehreren Millionen Geflüchteten in und jenseits der Ukraine sind auch andere Gedächtnisspeicher in Gefahr: Der Familienverbund, dessen Geschichten und Erinnerungen mit Trennung und Tod aufsplittern und ohne alte Fotos und Tagebücher, die zurückgelassen oder schon zerstört wurden, werden auskommen müssen. Die Nachbarschaftsbeziehungen zwischen verschiedenen Gruppen in den meist mehrsprachigen Städten und Orten mit ihren ukrainischen, russischen, belarussischen, jüdischen, griechischen, armenischen, tatarischen und, nicht zuletzt, ‚ethnisch gemischten‘ Bewohner*innen gehen mit der Flucht ebenso verloren. Das hat bereits das Aussterben ganzer Landstriche in der Ostukraine infolge des nach 2014 lediglich eingefrorenen Krieges gezeigt. Flucht und Front bergen ihre eigenen Erfahrungen, die das ‚Davor‘ weiter entrücken und gleichzeitig umso bedeutsamer machen.

Nicht umsonst wird im Krieg gern das ‚Davor‘ bedient. Denn es hat Macht. Es verbindet, es trennt - je nachdem, wer es ordnet, wer es interpretiert, wer sich wie daran erinnert. Archive sind oft das Produkt wie ein Mittel eben solcher Machtverhältnisse. Das schlägt sich auch in den Recherchepraktiken von uns Historiker*innen nieder. Wir folgen oft den staatlichen Aufschreibsystemen, im Falle der Geschichtsschreibung zur Sowjetunion heißt das: wir fahren beziehungsweise fuhren nach Moskau.
Aber es geht auch anders. Tanja Penter und Bert Hoppe  haben bereits über die ukrainischen Archive als bedeutende Alternative berichtet. Ähnliches gilt für Georgien, das ebenfalls seit einigen Jahren umfassenden Zugang zu seinen Archiven gewährt. Auch andernorts, in Almaty und Jerewan, kann man Aufschlussreiches jenseits von Moskau entdecken. Moskau und die Gebiete der heutigen Russländischen Föderation sind zentral für die sowjetische Geschichte. Aber auch die Ukraine, Armenien und Kasachstan waren sowjetisch, in jeder Hinsicht.

Jenseits der staatlichen Archive an der ehemaligen sowjetischen ‚Peripherie‘ gibt es aber weitere wichtige Quellen. Im Zeitalter der sozialen Medien hat nicht nur Florian Peters die Sammlung von posts und Videos aus den ersten Kriegstagen gefordert. Das hört sich leichter an, als es ist. Denn hier bedarf es nachhaltiger technischer Infrastrukturen, um die schnelle Rede von den Chancen des digitalen Zeitalters in eine auf Dauer abgestellte historische Archivierung zu überführen. Dasselbe gilt für die hastig gescannten Dokumente aus den ukrainischen Archiven. In beiden Fällen gilt es, die durch ad hoc Engagement zusammengetragenen elektronischen Spuren zu bündeln und zu sichern.

Doch wir müssen weiter gehen. Neben dem Schutz der bestehenden Archive in der Ukraine müssen wir einen weiteren Speicher bauen helfen. Die meisten der Geflüchteten werden selbst bei einem zeitigen Ende der Kampfhandlungen nicht so bald in ihre Heimat zurückkehren können. Je länger keine stabile Lösung für die Ukraine gefunden ist, desto länger werden wir nicht nur neue Nachbar*innen aus der Ukraine um uns haben. Desto länger bleiben auch ihre Familien getrennt, desto mehr Verluste werden sie zu betrauern haben und damit einen Teil ihrer Geschichte(n) verlieren. Darunter gibt es auch viele Ältere. Für viele von ihnen ist es nicht der erste Krieg, den sie erleben. Aber auch für Jüngere, die im seit 2014 umkämpften Gebieten im Osten des Landes und auf der Krim aufgewachsen sind, ist es bereits die zweite Flucht. Auch der Verlust von Familie erfolgt nicht nur durch den Tod von Verwandten, wenn diese der offiziellen russischen Propaganda mehr Vertrauen schenken als etwa ihren Kindern und Enkelkindern unter Beschuss.

Dass all diese Geschichten Wert und Wirkungsmacht haben, sollten wir nicht nur als Nachbar*innen verstehen und danach (nach und nach) fragen. Gerade die Älteren haben zudem meist keine speicherbare social media-Präsenz, die ihrer Bedeutung für Familienerinnerungen sowie das Gedächtnis einer europäischen wie (post)sowjetischen Geschichte auch nur nahekäme. All jenen die Ihnen zustehende Macht über ihre eigenen Geschichten zu erhalten, dafür haben wir mit der Oral History genügend Instrumente zur Verfügung. Wir müssen sie nur – zusammen mit unseren Kolleg*innen aus der Ukraine und anderen post-sozialistischen Staaten – anwenden.

 

Was tun?

Natürlich kann nicht alles ad hoc erfolgen jenseits der bereits anlaufenden Anstrengungen, die bestehenden Archive zu schützen und unmittelbare Kriegserfahrungen zu sammeln. Als in der neuen Welt des Drittmittelimperativs zugerichtete Wissenschaftler*innen wissen wir, dass solche Projekte Vorlauf und Planung brauchen. Und, idealerweise, Koordinierung.

Welche Szenarien gäbe es also für die Schaffung, die Sicherung und die Transferoptionen eines alternativen Speichergedächtnisses? Dabei geht es nicht um die Entwicklung eines monolithischen Großprojektes, sondern um Vernetzung, Koordination und Kooperation hinsichtlich der Zugänge, Fokusse und der Finanzierungsstrategien verschiedener Projekte in Europa. Zunächst müssen wir die Pionierprojekte in Lwiw und Polen unterstützen und dies möglichst auf andere Archive in der Ukraine ausweiten.

Dann: Was können wir von Großprojekten wie der Shoah Foundation oder jüngeren Unternehmungen zur Oral History im ehemaligen Jugoslawien oder dem Syria Oral History Project lernen? Wie können wir auf den Erfahrungen mit dem im Schatten des frühen Kalten Krieges durchgeführten sogenanntem Harvard Project, dessen bias in seinen Interviews mit sowjetischen Displaced Persons (DPs) viel diskutiert wurde, und den Projekten mit ehemaligen Zwangsarbeiter*innen des Zweiten Weltkrieges aufbauen? Gerade über letzteres ließen sich wichtige Netzwerke für ein Oral History Archiv der Ukraine angehen und erweitern. Wie lässt sich zugleich die Erfahrung von kleinen grass root-Initiativen aufgreifen, von denen aus der Ostukraine bis zu der ehemaliger Bewohner*innen des vollkommen zerstörten, vormals multiethnischen Grozny ?

Was lässt sich im Kleinen auf regionaler Ebene angehen und wie kann hier eine Vernetzung aussehen, ob nun hin zu ukrainischen und polnischen, moldauischen und rumänischen und dann französischen und italienischen Partnerinstitutionen? Wie lassen sich Oral History-Projekte in Deutschland auf- und ausbauen, ohne dass Kapazitäten einfach nur aufgerieben werden, etwa wenn aufwendig erstellte Projektanträge dann die Verwaltungskanäle und Mittel derselben Stiftungen überstrapazieren? Dies sind Elemente, in denen wir als Wissenschaflter*innen unsere einschlägigen bis leidigen Erfahrungen mit der deutschen und europäischen Drittmittelmaschinerie einbringen, koordinieren und kalibrieren sollten. Allein eine gemeinsame Datenbank zu schaffen, in denen lokale und transnationale Projekte mit abgebildet sind, wäre eine Mammutaufgabe, die es trotzdem zu stemmen gilt.

Vor allem aber gilt es, die Programmier*innen, Geschichtslehrer*innen und Wissenschaftler*innen aus der Ukraine nicht zu vergessen, sondern als Expert*innen .[2] Nicht nur, um ihnen auch im ungewollten Exil die Durchführung einer (hoffentlich) sinnstiftenden und ihrer Expertise gemäßen Aufgabe zu ermöglichen, auch jenseits der bis zu 12-monatigen Auffangstipendien. Sie sind auch zentrale Ansprechpartner*innen, wenn es um die Verbindungen zu Institutionen in der Ukraine geht, an die ein solches Oral History-Archiv zurückzubinden und letztlich zu übergeben ist. Wie organisiert man Daten, die es digital wie analog zu sichern gilt,[3] für einen Transfer? Die Duplikation von Interviews, die im Rahmen verschiedener Projekte in anderen europäischen Ländern wie Deutschland entstehen, für Archive in zerstörten Städten wäre hier nur ein Punkt, der von Anfang an mitgedacht werden sollte.

Das andere wäre die Vermittlung in den übrigen europäischen Raum hinein. Denn Fotos und Interviews sind nicht nur zentral für den Erhalt und Wiederaufbau einer durch den Krieg massiv unter Druck geratenen multiethnischen und mehrsprachigen ukrainischen Gesellschaft. Sondern auch für uns als ihre Nachbar*innen. Das wäre eine ‚praktische Geschichte‘, die in eine andere Richtung wiese als die Herstellung von Molotov-Cocktails und zugleich einen ähnlichen Impetus hat: die Macht, das Wissen und das Gedächtnis einer multiethnischen, bislang (und hoffentlich bald wieder) mehrsprachigen Gesellschaft zu bewahren, weder auf-, noch abzugeben.

 


 

[1] Die Aufnahmen sollen im Archiv in Lwiw sowie an der Polnischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt werden. Wer sich an der Aufnahme und Transkription dieser auf Ukrainisch geführten Interviews beteiligen will, kann sich hier melden: swiadectwa.wojny@gmail.com. Für Neulinge in der Oral History gibt es Einführungen.
[2] Hierbei sollte auch ein Engagement von Kolleg*innen nicht von Vornherein zurückgewiesen werden, die wegen des Krieges und ihrer Haltung dazu Russland verlassen mussten. Tausende haben den Krieg in der Ukraine verurteilt und sehen sich nun mit strafrechtlichen Konsequenzen konfrontiert. Sie in eine Pauschalisolation zu zwingen wie es so manche Wissenschaftsinstitutionen in Europa nun praktizieren, kann keine Lösung sein, wenn der ukrainische Präsident selbst russischen Soldaten, die die Waffen niederlegen, eine würdige Behandlung verspricht. Bei einem solchen Projekt eine ethnische Totalukrainisierung vorzunehmen, würde den Behauptungen Putins nur nachträglich Legitimation verleihen.
[3] Die Frage einer mehrfachen Sicherung stellt sich nicht zuletzt auch angesichts der Unklarheit, was mit den in Russland vor allem von grass roots Initiativen und engagierten Historiker*innen aufgebauten Ressourcen zur Oral History bzw. Geschichte ‚von unten‘ der multiethnischen Sowjetunion (z.B. das digitale Tagebucharchiv prozhito) passieren wird. Ihre Finanzierung löst sich im Nichts auf und es ist zu befürchten, dass sie mit einer zu erwartenden Umstellung auf ein abgeschottetes ru.net letztlich von der Bildfläche verschwinden werden. Immerhin bleiben auch bei einer Sicherung ‚hier‘ digitale Daten angreifbar.