Am 21. April 1985 kam es im Théâtre de l’Empire in Paris zu einer besonderen Premiere: In zwei Teilen wurde der Film Shoah von Claude Lanzmann uraufgeführt. Im Pariser Lichtspielhaus anwesend waren damals der französische Staatspräsident François Mitterand, die französische Sozialministerin und Überlebende Simone Veil und auch der Pariser Großrabbiner.[1] Mehr als neun Stunden schaute die Prominenz gemeinsam mit anderen Zuschauer*innen einen Film, der die Vernichtung der europäischen Jud*innen durch die Nationalsozialist*innen Jahrzehnte nach den NS-Verbrechen vergegenwärtigt.
Fast 80 Jahre liegen zwischen der NS-Zeit und unserer Gegenwart heute, und genau vierzig Jahre liegen zwischen dem Erscheinungsdatum von Shoah und unserer Gegenwart. Aber warum sollten Historiker*innen den Film gesehen haben?
Im 21. Jahrhundert überschwemmt uns eine Flut an bewegten Bildern, die nationalsozialistische Verbrechen inszenieren. Die Versuche audiovisueller Darstellungen von NS-Verbrechen nehmen die gesamte Palette an Film- und Fernsehformaten von Dokumentationen über Talkshows, Reportagen und Spielfilmdramen bis hin zur Tragikomödien in Anspruch.[2] In der zentralen Frage, wie sich der Holocaust erzählen, beschreiben oder audiovisuell darstellen lässt – eine Frage, die Historiker*innen der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft beschäftigt – gibt Lanzmanns Shoah eine Antwort, die so prägnant ist, dass sie bis heute viele Nachahmer*innen gefunden hat. Vor 1985 waren es Filme wie Alain Resnais Nuit et brouillard (1956), Le chagrin et la pitié (1969) von Marcel Ophüls und Erwin Leisers Den blodiga Tiden (1960) die filmästhetische Maßstäbe dafür setzen, wie NS-Verbrechen erzählt wurden. Bewusst entschied sich Lanzmann gegen die Ästhetik dieser Kompilationsfilme[3], die historische Filmaufnahmen u. a. aus dem Warschauer Ghetto und dem niederländischen Durchgangslager Westerbork neu organisieren.[4] Jene audiovisuellen Quellen, die die Verbrechen vor allem aus der Perspektive der Täter*innen festhalten, waren für Lanzmann nur „images sans imagination. Ce sont juste images, ça n’a pas de force.”[5] Für sein Filmprojekt suchte er neue Wege: „Le Lieu et la Parole“, also Ort und Wort.
„Le Lieu“: Spurensuche in der Vergangenheit
Um die Originalschauplätze der systematischen Ermordung der Jüd*innen Europas filmisch zu dokumentieren, fuhr Lanzmann Ende der 1970er-Jahre nach Polen: Er besuchte die Orte wie Chełmno, Bełżec, Treblinka, Sobibór, Oświęcim (Auschwitz) oder auch das ehemalige Gelände des Warschauer Ghettos in der polnischen Hauptstadt. Dreißig Jahre danach war an den Tatorten des Schreckens für den Franzosen und sein Filmteam nicht mehr viel von den nationalsozialistischen Verbrechen zu sehen. Mit Ausnahme des Lagerkomplexes in Auschwitz-Birkenau wiesen die Tatorte zur Zeit der Dreharbeiten kaum mehr Spuren der an ihnen begangenen Verbrechen auf. Sichtbar waren nur wenige Überreste. Die Täter*innen hatten die Spuren erfolgreich vernichtet. Zudem hatten sich Zeit und die lokale Vegetation[6] über die Orte gelegt: Büsche, Sträucher, Bäume, Wälder und Wiesen. So waren die Verbrechen an den Orten für das Filmteam „clandestine and untraceable”[7]. Lanzmann problematisiert: „J’avais des lieux défigurés, une sorte de non-lieu de la mémoire (les lieux ne ressemblent plus à ce qu’ils étaient).“[8] Die Abwesenheit der Spuren an den Orten der Vernichtung stellte ihn vor die Schwierigkeit der Visualisierung des Unsichtbaren. Dieses Problem zu lösen, wurde für Lanzmann zur Obsession.[9]
„Il faut savoir et voir, et il faut voir et savoir. Indissolublement. Si vous allez sur Auschwitz sans savoir sur Auschwitz et l’histoire de ce camp, vous ne voyez rien, vous ne comprenez rien. De même, si vous savez sans y avoir été, vous ne comprenez pas non plus. Il y a donc une conjonction de deux. C’est pourquoi le problème des lieux est capital. […] C’est un film à ras de terre, un film de topographie, de géographe.“[10]
Die Landschaftsaufnahmen, die die polnischen Tatorte Ende der 1970er-Jahre als Orte zeigen, sind ein Hauptgestaltungselement des Films. Weil sie Orte zeigen, an denen die NS-Verbrechen teilweise in Vergessenheit geraten waren, sind sie allein ein Grund für Historiker*innen, Shoah anzusehen.
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Das Wort: Die Stimmen der Vergangenheit
Eine Lösung für die Visualisierung des Unsichtbaren suchte Lanzmann im gesprochenen Wort der Zeitzeug*innen.[11] Er machte seinen Film zu einem Oral-History-Projekt. Dabei galt sein Interesse „dem Gedächtnis der Überlebenden, ihren Erinnerungen an Verfolgung und Todesnähe.“[12] Er wollte Menschen sprechen lassen, die eine spezifische Erfahrung durchlebt hatten:
„Et je ne voulais pas importe quels témoins. Des déportés, il y en a des tas. « Ça pullule », pour parler comme un antisémite. Mais je voulais de types très précis, qui avaient été aux charnières même de l’extermination, les témoins directs de la mort de leur peuple: des gens de commandos spéciaux. Je me suis mis à les voir.“[13]
Mitte der 70er-Jahre reiste der Franzose um die Welt, um Überlebende ausfindig zu machen und sie davon zu überzeugen, mit ihm vor der Kamera über ihre Erfahrungen zu sprechen. „Il y a trois catégories de personnages dans le film. Les Juifs, les nazis et les témoins (les Polonais).“[14] Der französische Regisseur sprach mit mehr als zwanzig jüdischen Überlebenden, mit sechs Täter*innen und führte dutzende Einzelinterviews und zahlreiche Gruppeninterviews mit der polnischen Bevölkerung, den »bystandern«[15]. Zudem kommen der Historiker Raul Hilberg, Oberstaatsanwalt Alfred Spiess und Hanna Zaidl, Tochter des Wilna-Überlebenden Motke Zaidl, in Shoah zu Wort. Die Varianz der interviewten Personen fächert kompositorisch multiperspektivisch-verästelte Erzählstränge auf. Auf diese Weise entwirft der Film ein fragmentiertes Filmnarrativ. In Shoah erzählt uns Inge Deutschkron von der Bürde des Überlebens, Abraham Bomba berichtet, wie er in Treblinka den Ankommenden unmittelbar vor der Vergasung die Haare geschnitten hat und Filip Müller spricht über den Weg von der Selektion bis in die Gaskammer. Der Film macht so seinen Zuschauer*innen das Unvorstellbare – zumindest teilweise – vorstellbar. Er hält die Erfahrungen der Zeitzeug*innen nicht nur fest, sondern vermittelt sie auch an seine Zuschauer*innen. Die Interviews mit den Zeitzeug*innen sind wohl das schwerwiegendes Argument für Historiker*innen den Film anzuschauen. Das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) erwarb 1996 das Archiv der Outtakes, die aus 185 Stunden Interview-Outtakes und 35 Stunden Dreharbeiten bestehen. Die Sammlung befindet sich im gemeinsamen Besitz des USHMM und Yad Vashem. Das USHMM beschreibt die Aufnahmen als „außergewöhnliche Zeugenaussagen, um die schrittweise Maschinerie zur Vernichtung des europäischen Judentums zu beschreiben“ und bezeichnet Lanzmanns Werk als „Monument gegen das Vergessen“.
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In die Bundesrepublik kam Shoah im Frühjahr 1986. Zunächst wurde der Film im Februar 1986 anlässlich der damaligen 36. Filmfestspiele Berlin als wichtigster und herausragender Film dieses Jahres einem ausgewählten Publikum vorgeführt. Einen Monat später zeigten die Dritten Programme der ARD[16] eine „Fernsehfassung des Films“ mit überarbeiteter und übersetzter „Untertitelung mit einer größeren Schrift“[17] in vier Teilen. Circa eine halbe Millionen westdeutsche Zuschauer*innen sahen die TV-Erstausstrahlung von Shoah. Ende der 1990er-Jahre begann Lanzmann, mit dem hunderte Filmstunden umfassenden noch unveröffentlichten Material weitere Filme zu machen: Un vivant qui passe (1997), Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures (2001), Le Rapport Karski (2010), Le Dernier des injustes (2013) und im Jahr seines Todes Les Quatre Sœurs (2018). Für sein Lebenswerk ehrten die 63. Internationalen Berliner Filmfestspiele Claude Lanzmann 2013 mit dem Goldenen Ehrenbären. Auch in diesem Jahr, anlässlich des 40. Jubiläums des Films, ist er im Berlinale-Programm zu sehen.
Chance für eine Zukunft ohne lebende Zeitzeug*innen
Bis heute zählt der Film laut der deutschen Medienwissenschaftlerin Martina Thiele zu den bedeutsamsten Versuchen, den Holocaust vom kommunikativen ins kollektive Gedächtnis zu führen und dort präsent zu halten.[18] Vierzig Jahre nach seiner Veröffentlichung gilt Lanzmanns Shoah als bewegendes, filmisches Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Shoah ist ein Meilenstein der Filmgeschichte, der bis heute „ästhetisch-intellektuelle Maßstäbe für die Repräsentation des Völkermords“[19] setzt.
Es gibt also viele Gründe, warum Historiker*innen den Film gesehen haben sollten. Aber wer hat heute noch Zeit, sich mehr als neun Stunden hinzusetzen und eine Film zu schauen? Bei seiner Veröffentlichung 1985 war Shoah der drittlängste jemals produzierte Film. 556 Minuten ist der Film lang – das entspricht mehr als einem Arbeitstag. Die Filmlänge „zwingt die Zuschauer dazu, sich seiner Thematik auszuliefern, die nicht mit der Nennung wesentlicher Fakten und erschütternder Bilder erfasst werden kann, sondern langwierige Auseinandersetzung erfordert, wenn sie in ihrer menschheitsgeschichtlichen Bedeutung begriffen werden soll.“[20]
Wer sich darauf einlässt, muss sich bewusst machen, den Film Shoah anzuschauen, ist Arbeit. Doch wer keine Zeit findet oder keine Lust hat, sich so lange mit dem Thema zu beschäftigen oder wer einmal eine Pause braucht, kann auch nur einzelne Sequenzen des Films ansehen und nimmt trotzdem einiges mit. Lanzmann erzählt in Shoah nicht chronologisch, sondern fragmentiert und zirkulär, sodass auch einzelne Ausschnitte verständlich sind, ohne den ganzen Film gesehen zu haben. Shoah ist ein Film, also eine audiovisuelle Quelle, die Historiker*innen quellenkritisch hinsichtlich ihrer Inszenierung, Intention und Rezeptionslenkung hinterfragen sollten. Besonders kritisch sind die Szenen zu betrachten, in denen Überlebende ihre Erfahrungen vor laufender Kamera reenacten. In vielen Szenen ist die Inszenierung transparent, Lanzmann ist im Bild präsent. Seine Fragen und Anweisungen an Personen sind Teil der Inszenierung, vielfach sind sie für das Publikum nachvollziehbar und erschließbar.
„Shoah verfolgt [.] ein Authentizitätsprinzip, das nicht darin besteht, Vergangenheit authentisch zu repräsentieren, sondern ihre Gegenwärtigkeit an den Orten der Shoah und in der Sprache (verbal und nonverbal) der ZeugInnen aufzuspüren.“[21]
Trotz alle dem ist der Film ein einzigartiges Meisterwerk, von dem gegenwärtige wie zukünftige Historiker*innen etwas lernen können. Zuschauer*innen bietet Lanzmanns Shoah bis heute die Möglichkeit, sich 556 Minuten mit den NS-Verbrechen und ihrer gegenwärtigen Bedeutung auseinander zu setzen.
Während der 75. Berliner Filmfestspiele wird Claude Lanzmanns Shoah am 16. Februar 2025 ab 10:30 Uhr in der Akademie der Künste in voller Länge gezeigt.
[1] Martina Thiele: Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film. Göttingen 2001. S.396.
[2] Eine Übersicht über Holocaust-Filme im englischen Sprachraum geben Gerd Bayer und Oleksandr Kobrynskyy in ihrem Band Cinema in the Twenty-First Century. Images, Memory, and the Ethics of Representation; sowie das von Robert C. und Carol J. Reimer herausgegebene Historical Dictionary of Holocaust Cinema. Vgl. Gerd Bayer und Oleksandr Kobrynskyy (Hrsg.): Cinema in the Twenty-First Century. Images, Memory, and the Ethics of Representation. New York. 2015. Robert C. Reimer und Carol J. Reimer (Hrsg.): Historical Dictionary of Holocaust Cinema. Historical Dictionaries of Literature and the Arts. Lanham 2012. Filme zum Dritten Reich: vgl. Anson Rabinbach, Stefanos Geroulanos und Dagmar Herzog (Hrsg.): Staging the Third Reich. Essays in Cultural and Intellectual History. New York 2020. Pendant für den deutschen Sprachraum vgl. Sonja M. Schultz: Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglourious Basterds. Berlin 2012.
[3] Zum Begriff des Kompilationsfilms siehe Jörg Frieß: Filme aus Filmen, Filme über Filme. Zur Rhetorik historischen Bildmaterials in Filmen über die Shoah. In: Die Shoah im Bild. Hrsg. von Sven Kramer. München 2003. S.204.
[4] Vgl. Koert Broersma und Gerard Rossing: Kamp Westerbork gefilmd. Het verhaal over een unieke film uit 1944. Assen 2021, und vgl. Anja Horstmann: Das Filmfragment "Ghetto" – erzwungene Realität und vorgeformte Bilder. In: Geheimsache Ghettofilm. Hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung. 8. Mai 2013, [zuletzt abgerufen am 16.02.2025].
[5] Marc Chevrie et Hervé La Roux: Le lieu et la parole. Entretien avec Claude Lanzmann. In: Les Cahiers du Cinéma 374, 1985. S.20.
[6] Vgl. Angeliki Tseti: In the Absence of Ruins: The “Non-sites of Memory” in Claude Lanzmann’s Shoah and Daniel Mendelsohn’s Lost: A Search for Six of Six Million. In: Ruins in the Literary and Cultural Imagination. Hrsg. Von Efterpi Mitsi, Anna Despotopoulou, Stamatina Dimakopoulou und Emmanouil Aretoulakis. Cham 2019. S.213.
[7] Ebd. S.214.
[8] Lanzmann: Le lieu et la parole. S.19.
[9] Ebd. S.21.
[10] Ebd. S.18.
[11] Ebd.
[12] Barbara Distel: Shoah. Dokumentarfilm von Claude Lanzmann, 1985. In: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Hrsg. von Wolfgang Benz in Zusammenarbeit mit Werner Bergmann, Rainer Kampling, Juliane Wetzel und Ulrich Wyrwa. Band 7. Literatur, Film, Theater und Kunst. S.454.
[13] Vgl. Lanzmann: Le lieu et la parole. S.18.
[14] Ebd. S.20.
[15] Zum Begriff des »bystander« vgl. Raul Hilberg: The Destruction of the European Jews; Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945. Frankfurt am Main 2. Auflage 1992, sowie Christina Morina und Krijn Thijs (Hrsg.): Probing the Limits of Categorization. The Bystander in Holocaust History. New York 2019.
[16] Sendetermine der Rundfunkanstalten vgl. Thiele: Publizistische Kontroversen. S.397.
[17] Ebd.
[18] Vgl. Martina Thiele: Trauma wahrnehmbar werden lassen. Zeigen und Nicht-Zeigen, Reden und Schweigen in Claude Lanzmanns Film ›Shoah‹. In: Psychologie & Gesellschaftskritik, 39 (4) (2015). S.89-91.
[19] Ute Janssen: Shoah. In: Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hrsg. Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld zweite Auflage 2009. S.244.
[20] Pia Bowinkelmann: Schattenwelt. Die Vernichtung der Juden, dargestellt im französischen Dokumentarfilm. Offizin, Hannover 2008. S.139.
[21] Andreas Schmoller: Vergangenheit, die nicht vergeht. Das Gedächtnis der Shoah in Frankreich seit 1945 im Medium Film. Innsbruck 2010. S.163.