von Tobias Ebbrecht-Hartmann

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29. September 2021

In seinem beim Filmfestival in Cannes ausgezeichneten Film für das ukrainische Babyn Yar Holocaust Memorial Center hat Regisseur Sergei Loznitsa zahlreiche Filmarchive durchgesehen, um die Ereignisse vor und nach dem Massaker von 1941 zu rekonstruieren.
 

Bereits die ersten Bilder von Sergei Loznitsas filmischer Chronik der Vor- und Nachgeschichte des grausamen Massakers an mehr als 33.000 Juden Ende September 1941 in Babi Yar wirken verstörend. Weite Panoramaaufnahmen zeigen brennende Felder, Häuser und Fabriken. Sie visualisieren den brutalen Vernichtungskrieg, mit dem die deutsche Wehrmacht seit Ende Juni 1941 die Sowjetunion überzog. Im Zusammenspiel mit einer detailgetreuen Geräuschkulisse aus Explosionen, Rufen, den Stimmen von Vögeln, wirkt diese Exposition eher wie der Beginn eines Kriegsfilms. Das Setting ist aus zahlreichen Spielfilmen bekannt, ebenso wie der ikonische Kameraschwenk über das von Zerstörung gezeichnete Land. Der Kontrast zwischen friedlicher Landschaft und schwarzem Rauch bekommt eine geradezu metaphorische Dimension.

Kaum zu glauben also, dass es sich bei diesen Aufnahmen um Bilder aus Archiven handeln soll. Aber genau das ist Babi Yar. Context, ein Archivfilm, der die dort aufbewahrten visuellen Dokumente wieder aufführt, in zahlreichen Fällen sogar erstmals der Öffentlichkeit zugänglich macht. Kunstvoll montiert Loznitsa in den ersten Minuten seines Films die sowjetischen Kriegsaufnahmen. Lange Einstellungen wechseln sich ab und schaffen von Beginn an eine intensive Atmosphäre, deren wichtigstes Merkmal, wie in vielen Filmen Loznitsas, die Dauer ist.
In diesem Film wird das Publikum keine reißerisch zusammengeschnittenen Archivfilmsequenzen zu sehen bekommen, keinen Klangteppich aus Musik, nachvertontem Sound, Zeitzeug*innenaussagen und Voice-Over Kommentaren. Dieser Film positioniert sich von Beginn an als ein Panorama des Krieges, nicht nur ganz allgemein des Zweiten Weltkrieges, sondern als Panorama des Krieges in der Sowjet-Ukraine. Und trotz der kunstvollen Montage der vorgefundenen und in vielen Fällen sorgfältig restaurierten Archivaufnahmen, betont Babi Yar. Context auch von Anfang an seine episodische Struktur, mit der die Archivbildmontage wiederum an die typische narrative Struktur zahlreicher in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren entstandener sowjetischer Spielfilme über den Zweiten Weltkrieg anknüpft. Zwischentitel mit informierenden Texttafeln strukturieren die Abschnitte dieser filmischen Chronik, in deren Zentrum das eigentliche titelgebende Ereignis steht: das zweitägige Massaker in der Schlucht von Babi Yar bei Kiew. Auch das trägt zur Verstörung bei. Obwohl der Titel eine Dokumentation über dieses lange Zeit vergessene und doch mittlerweile weit über die Ukraine hinaus das Bild des Vernichtungskrieges prägende Verbrechen nahelegt, liegt der Schwerpunkt des Films eher auf dessen zweiten Teil, dem Kontext der historischen Ereignisse.

Damit erweitert der für das ukrainische Babyn Yar Holocaust Memorial Center entstandene Film den Blick über das Verbrechen hinaus, das heute sinnbildlich für den „Holocaust by bullets“ steht. Loznitsa interessiert sich für den Alltag, aus dem heraus diese Tat möglich wurde: für die Einnahme Kiews, für den Jubel, mit dem Ukrainer*innen die Deutschen willkommen hießen, für den Blick der deutschen Soldaten auf die lokale Bevölkerung. Verschiedene Perspektiven wechseln sich ab und zeigen teilweise kurz nacheinander dieselben Orte. Wir sehen sowjetische Filmaufnahmen, gefolgt von Bildern deutscher Propagandakompanien und Privataufnahmen deutscher Soldaten. Bis nach knapp einer Stunde der Film zum Stillstand kommt und bei Farbfotografien verweilt, die kurz nach dem Massaker von einem deutschen Fotografen aufgenommen worden waren.

 

Ein Ereignis ohne Bilder

Von der Erschießung der 33.771 Jüdinnen und Juden am 19. und 30. September 1941 durch Mitglieder des Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C, die von zwei Bataillonen des Polizei-Regiments Süd und von der ukrainischen Hilfspolizei unterstützt wurden, gibt es keine Bilder. Wir kennen Aufnahmen, die wenige Monate später im lettischen Skede gemacht worden waren, wo zwischen dem 15. und 17. Dezember 1941 2.749 Menschen erschossen wurden. SS-Scharführer Karl-Emil Strott fotografierte mit seiner Kamera jüdische Frauen, die gezwungen worden waren, sich zu entkleiden und positionierte sich sogar an der Stelle der ansonsten unsichtbar bleibenden deutschen Schützen, eine Perspektive, von der aus er mit dem Rücken zu ihm stehende Frauen ein letztes Mal vor ihrem gewaltsamen Tod fotografierte.

Die Verbrechen in Babi Yar wurden allerdings von keiner Kamera erfasst. Dies veranlasste unter anderem den deutsch-jüdischen Produzenten Artur Brauner, selbst Überlebender des Holocaust, 2003 einen Spielfilm über das „vergessene Verbrechen“ zu machen. Die nachgestellten Aufnahmen in der Schlucht sollten das zeigen, was sich der Vorstellungskraft entzog. Den zigtausendfachen Massenmord durch Erschießen, die zu unkenntlichen Ornamenten toter Körper gewordenen Ermordeten mit ihren individuellen Geschichten und Schicksalen. Doch das filmische Reenactment konnte die Leerstelle der fehlenden Bilder nicht ersetzen.

Um diese Leerstelle kreist auch Loznitsas Film. Obwohl er detailliert anhand einer Fülle von Archivaufnahmen die Ereignisse in Kiew und der Ukraine rekonstruiert, bleibt das Verbrechen selbst in seinem Film ein gleichzeitig monströser wie flüchtiger Moment. Was wir sehen, und was für die Tat einstehen muss, sind die Fotografien, die Johannes Hähle von der 637. Propagandakompanie zwischen dem 1. und 9. Oktober 1941 in der Schlucht aufnahm: Kleiderhaufen, persönliche Gegenstände, herumstehende SS-Leute, in Farbe und im Licht der Oktobersonne. Zwei Aufnahmen stechen besonders hervor. Sie wirken eigenartig arrangiert. Die eine arbeitet mit Kontrasten. Wir sehen einen teuren Fellmantel neben einer Handtasche, und daneben einen Kinderschuh und eine Wollmütze. Im Zentrum ein Notizbuch. Aus heutiger Sicht wollen wir Spuren der ehemaligen Besitzer*innen darin erkennen. Für den Fotografen handelte es sich wohl eher um ein „starkes Motiv“. Die Besitztümer der Ermordeten auf diese Weise fotografisch auszustellen – die den Menschen systematisch abgenommen, erfasst und abtransportiert wurden, um sie dem Großunternehmen der „Arisierung“ zuzuführen – legt auch den unangenehmen Eindruck eines antisemitischen Blicks nahe. Das zweite Bild ist ein ungeordnetes Arrangement von Kleidern, Schuhen und Gegenständen. Im Zentrum liegen zwei Fotos. Was immer Hähle motiviert hat, dieses Motiv für seine Kamera zu arrangieren, die mise-en-abyme der Fotografien im Foto ermöglicht tatsächlich den Blick durch die Täterfotografie hindurch auf die Vorgeschichte derer, die in Babi Yar zu Opfern der Shoah wurden.

Hähle war kein unbeteiligter Zeuge. Bereits Anfang der 1930er Jahre wurde er Mitglied der NSDAP. Er fiel 1944 als Kriegsberichterstatter in Frankreich. Die Diapositive seiner Aufnahmen aus Babi Yar kaufte 2000 das Hamburger Institut für Sozialforschung. Sie wurden Teil der zweiten Wehrmachtsausstellung. In Babi Yar. Context fungieren die Aufnahmen stellvertretend für ein bilderloses Verbrechen.

 

Mit Worten nicht auszudrücken

Loznitsas Film ist strickt zweigeteilt. Es gibt die Zeit vor und die Zeit nach dem Massaker. Während der Regisseur in den für den ersten Teil ausgewählten Archivbildern zu lesen versucht, was zu dem Verbrechen führte, und welche Rolle dabei auch die lokale Zivilbevölkerung gespielt hatte, dreht sich die zweite Stunde des Film hauptsächlich um die Frage, wie Babi Yar auszudrücken, wie die Verbrechen dokumentiert werden könnten. Immer wieder kehrt der Film dabei mit und durch verschiedene Archivfunde in die Schlucht zurück. Wir sehen Aufnahmen einer sowjetischen Untersuchungskommission, die nach dem Rückzug der Deutschen die in Babi Yar begangenen Verbrechen dokumentiert hatte, von denen nach der Rückkehr von SS-Standartenführer Paul Blobel und der SS-Sondereinheit „Kommando 1005“ im Sommer 1943 kaum noch sichtbare Spuren erhalten waren. Damals wurden sowjetische Gefangene gezwungen, die Leichen wieder auszugraben und auf großen Scheiterhaufen zu verbrennen. Eindrücklich sind Filmaufnahmen, die westliche Journalisten in Babi Yar zeigen, die von einem der wenigen Zeugen dieser Aktion, einem entflohenen Zwangsarbeiter, die Ereignisse geschildert bekommen. Sowjetische Kameras haben diesen einzigartigen Besuch und das eindrückliche Zeugnis in Bild und Ton festgehalten. In Babi Yar. Context eröffnet diese Aussage eine neue Quellengattung, den Zeug*innenbericht, durch den sich der Film den bilderlosen Verbrechen weiter annähert.

Dazu dienen vor allem sowjetische Prozessaufnahmen, die den im Januar 1946 verhandelten Fall Nr. 1679 dokumentieren. Sie zeigen Zeug*innen und Angeklagte, die im Prozess „On the atrocities committed by fascist invadors on the territory of the Ukranian SSR“ vor Gericht aussagen. Die Aussage des Zeugen Professor Vladimir Mikhailovich Artobolevsky fasst dabei die Essenz des auch in Babi Yar. Context geführten Diskurses über die Darstellbarkeit der Verbrechen zusammen. Artobolevsky berichtet von der Begegnung mit einer alten Jüdin kurz vor dem Massaker, die ihre Arme erhebt und in Yiddisch ihr Leid herausschreit. Zu dieser Szene (Artobolevsky spricht nicht zufällig von einer „Figur“) erklärt der Zeuge: 

„Ihr ganzer Körper brachte solch einen Schrecken zum Ausdruck, solch extreme Verzweiflung, dass es schwer ist, sich dieses Ausmaß menschlichen Leids vorzustellen. Man kann das nicht mit Worten ausdrücken. Es kann nicht beschrieben und erzählt werden. Vielleicht könnte ein begabter Bildhauer ihren Körper und ihren Ausdruck erfassen. Ihre Trauer und ihr Leid waren unvorstellbar.“

Sein verweis auf den Bildhauer, der vielleicht als einziger in der Lage sein könnte, zumindest den Ausdruck der Verzweiflung zu erfassen, lässt an einen der eher unbekannten Filme des in der Sowjetunion sozialisierten und in der DDR tätigen Filmemacher Konrad Wolf denken. In seinem Film Der nackte Mann auf dem Sportplatz (DEFA 1974) findet sich ein impliziter aber dennoch wirkmächtiger Diskurs über das Massaker in Babi Yar, der die im Film am Beispiel eines Bildhauers thematisierten Grenzen des künstlerischen Ausdrucks kommentiert und in einer Sequenz kulminiert, die von Babi Yar zu einem Besuch der Skulptur „Die Tragende“ im ehemaligen Frauenkonzentrationslager Ravensbrück hinleitet.

In Loznitsas Babi Yar. Context sind es die aus gegenläufigen Perspektiven geschilderten Erinnerungen an Babi Yar, die nun zum Ort des Verbrechens zurückführen und durch das im Prozess aufgenommene Wort eine andere Unmittelbarkeit herstellen, als es die nach der Tat fotografierten Propagandaaufnahmen vermochten. Aus heutiger Sicht einzigartig erscheint die Aussage des deutschen Obergefreiten Hans Isenmann, Mitglied der SS-Division „Viking“, der am 19. Januar 1946 die Ereignisse in der Schlucht von Babi Yar aus der Sicht der Täter schildert. Offen und direkt berichtet der junge Mann die Dimension der von ihm und seinen Kameraden begangenen Verbrechen. Später werden wir erfahren, dass er mit mehreren anderen Deutschen öffentlich in Kiew erhängt wurde.

Isenmanns Zeugnis wird komplettiert von der schier unvorstellbaren Aussage der Jüdin Dina Pronicheva, die wie durch ein Wunder das Massaker überlebt hatte. Nachdem sie sich als Ukrainerin ausgegeben und von einem Hilfspolizisten an den Rand der Schlucht geführt worden war, musste Pronicheva mit ansehen wie sich ihre Familie und Nachbar*innen entkleiden mussten und gruppenweise unter Schlägen in die Schlucht getrieben wurden. Als es bereits dunkel wurde, befahl ein Deutscher, dass auch diese ukrainischen Zeug*innen erschossen werden sollten. Beherzt sprang Pronicheva in die Grube bevor sie von den tödlichen Kugeln getroffen wurde. In der Dunkelheit konnte sie sich erfolgreich totstellen, bis sie sich aus der über die Toten geschütteten Erde befreien und in den nahegelegenen Wald flüchten konnte. 1946 sagte sie vor dem sowjetischen Militärtribunal aus. Zwei Jahrzehnte später wiederholte sie ihre Aussage noch einmal vor dem Darmstädter Schwurgericht, vor dem sich zehn Angehörige des Sonderkommandos 4a für ihre Verbrechen verantworten mussten.

 

Filmische Erforschung von „deep history“

Als „deep history“, eine tiefliegende Geschichte, bezeichnete Regisseur Loznitsa nach der Uraufführung in Cannes das Verbrechen von Babi Yar. Nur wenn man seine Geschichte kenne, könne man diese Tiefenschichten der Geschichte erreichen. Filme könnten dazu ein Mittel sein, wenn es ihnen gelänge, Interesse an dieser Geschichte hervorzurufen. Babi Yar.Context kann als eine solche Tiefenbohrung verstanden werden. Der Film versucht sich an der Kontextualisierung eines singulären Ereignisses, das heute längst prototypisch für die erste Phase des organisierten Massenmordes an den europäischen Juden und Jüdinnen einsteht. Die bisher wenig genutzten oder zumeist aus ihrem historischen wie Überlieferungskontext herausgelösten Filmaufnahmen sollen dazu beitragen, das Massaker in Babi Yar neu zu verorten. Eine Vielzahl von filmischen Perspektiven erzählt diese Geschichte als eine multiperspektivische und europäische, ohne dabei den Blick vor der Beteiligung der lokalen Zivilbevölkerung zu verschließen.

Die Aufnahmen selbst aber bleiben weitgehend kontextlos. Wir erfahren nichts über ihre Entstehung oder ihre Urheber. Teilweise provoziert der Film aufmerksames Hinschauen, um die jeweilige Perspektive der Bilder zu entschlüsseln. Teilweise regen die Aufnahmen zusätzliche Recherchen an, wie im Fall der Fotografien von Johannes Hähle. Statt filmhistorischer Kontextualisierung sind es daher zumeist die visuellen Kompositionen der Aufnahmen selbst, die in ihrer Zusammenstellung neue Einsichten vermitteln. Besonders auffallend sind dabei die langen Schwenks, die den dokumentierenden Blick der sowjetischen Kriegsberichterstattung mit dem umherstreifenden „touristischen“ Blick der deutschen Soldatenkameras verbindet.

So betont gerade die im Film vorherrschende Ästhetik der Dauer die filmische Kraft der Archivdokumente, die hier ohne die Beigabe von Musik oder Kommentar „für sich selbst“ sprechen. Das aber führt dazu, dass das Ereignis, von dem es keine Bilder gibt, in den Hintergrund tritt. Trotz seiner Präsenz ist das Verbrechen von Babi Yar visuell abwesend. Es erscheint wenig greifbar, und bis zum Auftreten der Zeug*innen im letzten Drittel des Films bleibt es weitgehend eine Leerstelle. Über die fehlenden Bilder des nationalsozialistischen Verbrechens an den ukrainischen Juden in Babi Yar drohen sich schließlich ganz andere Aufnahmen eines grausamen Spektakels zu legen. Loznitsa hatte im Archiv einen Film entdeckt, der die Hinrichtung der von dem sowjetischen Militärtribunal in Kiew zum Tode verurteilten SS-Männer dokumentiert, unter ihnen auch der Obergefreite Isenmann. Die Kamera schwenkt langsam über die schaulustige Menge, eine wabernde Masse, hinter ihr die Ruinen von Kiew. Aber hier ist der Film noch nicht zu Ende. In langen, 1952 aufgenommenen, Einstellungen, sehen wir die von Bäumen bewachsene Schlucht von Babi Yar, wie sie mit Industrieabfällen und Abwässern aufgefüllt wird. Die Freilegung der Tiefenschichten der Geschichte, wie ihrer vergessenen Verbrechen, so scheint der Film zu erzählen, bleibt auch in der Zukunft ein mühevolles Unterfangen.