von Annette Schuhmann

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1. April 2024

Eine junge Frau und ein kleines Mädchen treffen in ihrer jeweils eigenen Verzweiflung aufeinander und gehen ein Stück des Weges zusammen. Im Verlauf dieser Begegnung entstehen sämtliche Etappen der Liebe – oder weniger pathetisch das „Wir“. Dabei werden alle Schrittfolgen einer Beziehung durchdekliniert: Begegnung, Fremdheit und Misstrauen, die „Inanspruchnahme“ der anderen für den Trost angesichts der eigenen Verlorenheit und schließlich Vertrauen, Ausgelassenheit und der Wunsch, der anderen möge es gut gehen, selbst wenn man sie dafür verlassen muss.

Meltem Unel und Nursema Çepni in Adieu Tortue (By by Turtle) von Selin Öksüzoğlu Frankreich 2024, Berlinale Shorts, © Apache Film
 

Selin Öksüzoğlu erzählt in ihrem Kurzfilm ADIEU TORTUE von dieser Begegnung, die zu einer Beziehung wird. Es ist die Darstellung großer Menschlichkeit, die ohne Liebe, ohne eine Form des „Wir“ nicht möglich ist. Der 24-minütige Film ist eine berührend zart gezeichnete Skizze einer der vielen Möglichkeitsformen des „Wir“.

"Viele der Filme, die im letzten Jahr entstanden sind – einem Jahr, geprägt von Kriegen und sich verhärtenden Fronten –, widmen sich den Fragen: Wie wollen wir aufeinander zugehen, wie miteinander umgehen und füreinander da sein, wie einander verzeihen?"
(Anna Henckel-Donnersmarck, Sektionsleiterin der Berlinale Shorts)

Die Beiträge der diesjährigen Shorts verhandeln "Formen des Wir", aber es scheint ein recht mühevoller Weg dahin. Denn am Ende mündet das "Wir" immer wieder in der Vereinzelung. Und in der Tat, die Zeiten für das "Wir" sind nicht die besten, könnte man meinen. Der Zustand der Welt gilt vielen Menschen im Vergleich zur Vergangenheit als irrsinnig komplex und somit unübersichtlich, was zu diskutieren wäre. Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass die Welt zu jeder Zeit komplex und unübersichtlich war. Zum Furor der Gegenwartskritik gehört die ständige Warnung vor der Atomisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge, an deren Ende nur noch Verluste gezählt werden. Dem wäre entgegenzuhalten, dass es diese Welt längst nicht mehr gäbe ohne Formen des „Wir“. Das gilt allerdings für terroristische Gruppierungen, militärische Allianzen und zivilgesellschaftliche Aktivist*innen gleichermaßen, ohne ein "Wir" keine Bewegung, keine Entwicklung, ob destruktiv oder eben kollektiv.

Auch wenn man die abgedroschene Formel vom "Seismographen gesellschaftlicher Zustände" nicht verwenden will, zeigt sich in der Auswahl der Shorts des Jahres 2024 im Vergleich zu den Vorjahren eine große Ernüchterung. Die Filme sind weniger verspielt, die Protagonist*innen wirken entmutigt.

 

Pacific Vein von Ulu Braun, Deutschland 2024, Berlinale Shorts ©Ulu Braun

 

Der Blick der Filmemacher*innen auf die Welt hat sich offenbar verändert. Erschüttert und ratlos schauen ihre Figuren auf das Chaos, das sich ihnen bietet. PACIFIC VEIN etwa, von Ulu Braun, zeigt auf eine phantasievolle, geradezu liebenswürdige Weise eine postapokalyptische Welt. Lässt man sich jedoch auf die computeranimierten Bilder des Films ein, ist es die Realität der Gegenwart, die verstört: eine bedrohliche Welt, bevölkert von vereinsamten monologisierenden Menschen. Die soziale Frage wird nie gelöst, und die Menschen beharren auf Projekten der Selbstzerstörung, weil es schon immer so war und weil Kapitalismus und Wachstum noch immer als Erfolgskonzept gelten. Dabei geht es weder Ulu Braun noch den anderen Autor*innen um Anklage oder gar Moral, es geht nicht darum, den Feind zu lokalisieren, sondern um das, was allenthalben vorzufinden ist: Umweltzerstörung, ein krankes Verhältnis zwischen Mensch und Tier, es geht um Krieg und Pandemie, um gespaltene Gesellschaften und um eine umfassende Sprachlosigkeit angesichts all der ungelösten Probleme der Weltgemeinschaft.

Dabei sind die Darstellungsformen ungewöhnlich und laufen den Erwartungen der Zuschauerin grundsätzlich zuwider.

 

Ungewollte Verwandtschaft von Pavel Mozhar, Deutschland 2024, Berlinale Shorts ©Jonas Römmig

 

Deutlich wird dies nicht zuletzt in einem sehr aktuellen Beitrag zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine: Pavel Mozhar setzt sich in UNGEWOLLTE VERWANDTSCHAFT mit einer sehr persönlichen und schmerzhaften Frage auseinander: Trägt man allein aufgrund der eigenen Herkunft Verantwortung für das Handeln eines Staates? Diese Frage stellt sich in Deutschland seit 1945 und ist angesichts des Nahost-Konfliktes brandaktuell. Mozhars belarussische Herkunft bildet den Hintergrund für seine Zweifel, seine Scham und die Auseinandersetzung mit Themen wie Schuld, Zeugenschaft und Verantwortung. Dabei braucht er für die Veranschaulichung der von den russischen Truppen verursachten Kriegsgräuel kaum Bilder, und es ist beunruhigend zu beobachten, dass Abstraktion das Entsetzen kaum hemmen kann.
In Mozhars Film berichten zwei Überlebende, aus dem Off, von ihrer von russischen Truppen besetzten Kleinstadt, sie erzählen vom Alltag im Krieg. Das wird geradezu lakonisch abgehandelt: Leichen liegen auf den Straßen, Beerdigungen finden auf Spielplätzen statt: Der Sand dort ist so weich, dass es schnell geht. Die Zeug*innen berichten von Schein-Hinrichtungen und Folter in den Kellern der Stadt. Und sie erklären, wie wichtig es für das Überleben eines jeden Einzelnen war, die Regeln der Besatzer einzuhalten: niemals den Soldaten in die Augen schauen, kein schnelles Gehen auf der Straße, die Jacken und Mäntel offen tragen und nicht hineingreifen. Visualisiert werden die Schilderungen der Überlebenden mit Hilfe von Spielzeugpanzern und Figuren aus dem 3D-Drucker.

 

Mozhar hat dieselbe Erziehung genossen wie die russischen Invasoren des Jahres 2022. Er verspürt also jene titelgebende, unerwünschte Herkunftsnähe zu den russischen Soldaten. Dabei erinnert er sich an die militarisierte Sprache seiner Schulzeit, die Ausgrenzung von allem als "fremd" markierten und das ständig angewandte Mittel des Zwangs. Er hat, ebenso wie die Besatzer, all das internalisiert. Der Film ist sein ganz persönliches Gegenmittel gegen die Regeln, die in Diktaturen gelten, einzig gelten dürfen.

Die Fragen, die sich angesichts der diesjährigen Auswahl der Shorts unter dem Motto "Formen des Wir" stellen, münden in einem immergleichen Setting: Ist das "Wir" überhaupt gewollt oder entsteht es gezwungenermaßen aus den jeweiligen Umweltbedingungen, warum ist der Weg zum "Wir" so kompliziert?

 

In CIRCLE von Joung Yumi zeichnet ein kleines Mädchen einen Kreidekreis auf die Straße und läuft davon. Alle Passant*innen, die diesen Kreis erreichen, betreten ihn und verharren dort. Es werden immer mehr: der Zeitung lesende Mann, eine junge Frau, ein Skater, Vater und Sohn, eine alte Dame mit Hund u.a. Es wird eng. Mit jedem Neuankömmling müssen die Menschen im Kreis dichter zusammenrücken. Sie tun das nahezu zwanghaft, schauen sich dabei nicht an und haben auch sonst keinen Kontakt zueinander. Es scheint zwingend, dass sich alle im Kreis aufhalten und dessen Linie auf keinen Fall übertreten. Am Ende gibt es einen Kreis mit sehr vielen Menschen, die sich nicht mehr bewegen, kaum zu atmen scheinen, nicht in Kontakt zueinander treten. Das kleine Mädchen, die Verursacherin dieser Szenerie, kommt zurück und staunt angesichts der Wirkung ihres Kreises. Sie radiert ihn mit der Schuhspitze weg, und die Menschen geraten wieder in Bewegung, gehen grußlos auseinander, um ihren Weg fortzusetzen.

Ist der Kreis nun Symbol der Unfreiheit, die Darstellung von Willkür und Anpassung oder gar Ausdruck eines solidarischen "Wir"? 

Aus zeithistorischer Perspektive sind die Shorts ungemein wichtig und können Quelle sein für die Untersuchung von Zeitgeschichte im Film. Hier wird Jahr um Jahr die Gegenwart in Frage gestellt wie auch dargestellt. Während sich Historiker*innen mit der Vergangenheit und ihrer Interpretation beschäftigen, werfen die Autor*innen der Kurzfilme einen sehr individuellen Blick auf die Gegenwart und bieten vielfältige Interpretationen an.

In diesem Jahr wird eine geradezu existenzielle Einsamkeit vieler Protagonist*innen deutlich, also das Gegenteil eines „Wir“. Dabei entstehen vor allem Geschichten der Vereinzelung, der Entfremdung, der Suche.
Wenn etwa in THE MOON ALSO RISES von Yuyan Wang eine Computerstimme unablässig in die Wohnung eines älteren Ehepaars hineinspricht und eine neue Ära in der Geschichte Chinas verkündet. Das Paar richtet sich ein, wortlos werden Ringlicht, Kamera, Computer aufgebaut. Ein Equipment, das keiner Nähe bedarf. Kontaktlos kann nun Kontakt gehalten werden. Das Draußen wird nicht mehr eingelassen, die Vorhänge sind fest zugezogen. Einzig ein paar Pflanzen wirken im Vergleich zum wortlosen Paar noch organisch. Die Szenerie ist leblos und kalt. Die Kälte reicht bis hinein in den Zuschauerraum.

The Moon also Rises von Yuyan Wang, Frankreich 2024, Berlinale Shorts ©Petit Chaos

Wer wird überleben? Auf der Arche, im Plattenbau, im Wald …in der Welt? Was wird bleiben in einer Welt, die zunehmend von den Nachwirkungen ihrer Kriege gezeichnet ist? Bedrückend sind die Bilder in CITY OF POETS von Sara Rajaei. Hier wird die Chance auf ein real existierendes "Wir" durch die Folgen des Ersten Golfkrieges (1980 bis 1988) nahezu ausgelöscht. Wir sehen eine helle Stadt, in der die Straßen nach Dichter*innen benannt sind. Die Frauen tragen die bunten Kleider der siebziger Jahre und offenes Haar, sie lächeln auf jedem Foto, sind umringt von Kindern und Freund*innen. Als der Krieg beginnt, kommen mehr und mehr Geflüchtete in die Stadt. Die Straßen tragen nun nicht mehr die Namen der Dichter*innen, sondern Namen der "Märtyrer". Knapp 1,4 Millionen Menschen werden in diesem Ersten Golfkrieg zwischen Iran und Irak sterben. Es wird keinen Sieger geben. Ein Waffenstillstandsabkommen beendete den Krieg. Mit dem Nachkrieg sollte die Freiheit der Frauen enden, begannen die Vorbereitungen für den nächsten Krieg. Nun tragen die Frauen Kopftücher, sie tanzen nicht mehr, ihre Blicke sind nach innen gerichtet, ihre Körper verschwinden in den Wohnungen.

City of Poets von Sara Rajaei, Niederlande 2024, Berlinale Shorts ©near by/film

 

Sara Rajaei erzählt die Geschichte des Verschwindens des "Wir" als eine Visual History mit Bildern aus dem Fotoalbum ihrer Mutter. Es sind beeindruckende Bildquellen. Vor dem Hintergrund der heutigen Situation im Iran wirken sie völlig fern.

Das Grauen wird in vielen Filmen mit berückend schönen Bildern dargestellt. Einer dieser wunderschönen, traurigen Filme ist KAWAUSO von Akihito Izuhara. Es herrscht Sprachlosigkeit zwischen dem legendenumwobenen längst ausgestorbenen Fischotter (Kawauso) und dem Mädchen, mit der er durch die Welt zieht. Sie laufen durch grau gezeichnete entleerte Gegenden. Sie können sich nur mit Gesten verständigen. Am Ende wird das Mädchen im niedergehenden Regen sämtlicher Symbole der Zivilisation verschwinden. Der Fischotter wird bleiben in einer Welt voll menschengemachtem Schrott.

Kawauso von Akihito Izuhara, Japan 2023, Berlinale Shorts ©Studio Mangosteen

Wie man sich all der menschengemachten Probleme entledigen kann zeigt der ironisch-traurige Animationsfilm TAKO TSUBO  von Fanny Sorgo und Eva Pedroza. Die Lösung wäre demnach alles was schmerzt wegzuschneiden, raus zu operieren. In TAKO TSUBO kein Problem: die Liebe will nicht gelingen, raus mit dem Herzen. Die Raucherlunge wird immer schwärzer, der Bauch tut weh, kann alles weg. Nur leider obsiegt dann doch die Melancholie angesichts all dessen, was damit noch alles weggeschnitten wurde. Der Mensch bleibt unvollkommen. 

 

Anna Henckel-Donnersmarck fragt in Ihrem Einleitungstext zu den Shorts nach der Möglichkeit eines gegenseitigen Verzeihens. Davon kann derzeit kaum die Rede sein. Wer sich je mit Gewaltgeschichte beschäftigt hat, wird wissen, dass es Generationen braucht, damit sich Konfliktparteien wieder aufeinander zubewegen. Die Shorts, wie die Realität des Jahres 2024 bieten wenig Hoffnung. Hoffnungslosigkeit jedoch können wir uns nicht leisten.

 

Weitere Texte zum Thema Berlinale/Shorts 2020 bis 2023:

Annette Schuhmann, Don‘t predict the future, shape it*. Über die Berlinale Shorts 2020 und die Freiheit, die in der kurzen Form liegen kann, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2020.

Daniel Bosch, „War Cannot Be Played“. Der Kurzfilm „How to Disappear“ und die Überschreitung digitaler Grenzen, in: Zeitgeschichte-online, Juli 2020.

Annette Schuhmann, Erzähl mir von Dir, damit ich die Welt verstehe. Ein Interview mit Anna Henkel-Donnersmarck, Kuratorin der Berlinale-Shorts , in: Zeitgeschichte-online, März 2021.

 

Ann-Kathrin Mogge, Erinnerung im Niemandsland. Der Kurzfilm „Deine Straße“ besucht einen Gedenkort für Opfer rechten Terrors in der Bundesrepublik, in: Zeitgeschichte-online, Juni 2021.

Annette Schuhmann, Die große Lüge. Olga Lucovnicova gewinnt mit ihrem Dokumentarfilm „Nanu Tudor“ (My Uncle Tudor) den goldenen Bären der Berlinale- Shorts, in: Zeitgeschichte-online, Juni 2021.

 

 

Kateryna Chernii , Gefangen im System: Trap . Ein Film über das Jungsein in Russland in der Sektion Berlinale Shorts, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2022.

Svea Hammerle, Amintiri de pe Frontul de Est/ Erinnerungen an die Ostfront . Ein Fotoalbum als Stummfilm in den Berlinale Shorts, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2022.

 

 

Annette Schuhmann, Die Abwesenheit des Mängelwesens . „Agrilogistics“ von Gerard Ortín Castellvi im Programm der Berlinale Shorts 2022, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2022.

 

 

Annette Schuhmann, Fiktionen vor realem Hintergrund. Ein Gespräch mit Anna Henckel-Donnersmarck über die Shorts der Berlinale 73, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2023.

 

 

Kateryna Chernii , Eine rasende Fahrt durch Kyjiw im Morgengrauen. It’s a Date – Ein Film der ukrainischen Regisseurin Nadia Parfan in den Berlinale-Shorts, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2023.