Sechsundvierzig Jahre nach seinem Tod erlebt Fritz Bauer, der ehemalige Generalstaatsanwalt von Hessen und Initiator des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, eine gewisse Renaissance in Deutschland. Nach dem Dokumentarfilm Tod auf Raten von Ilona Ziok 2011, in dem diese in vielen Interviews mit Freunden und Weggefährten von Fritz Bauer seinem Leben und dem nie aufgeklärten Tod nachgeht und dabei auch den Frankfurter Auschwitz-Prozess noch einmal beleuchtet, wurden gleich zwei Biografien über Fritz Bauer veröffentlicht, die erste von Irmtrud Wojak (2009), ehemalige langjährige Mitarbeiterin am Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt, die zweite von Ronen Steinke (2013), einem jungen Historiker und Journalisten, der auch mit dem Fritz-Bauer-Institut verbunden ist. Darüber hinaus gab es nach der 2004 von Irmtrud Wojak kuratierten Ausstellung über Fritz Bauer eine weitere 2014 vom Fritz Bauer-Institut ausgerichtete Ausstellung, die nach ihrer Eröffnung in Frankfurt in verschiedenen deutschen Städten gezeigt wird. Ende 2014 kam dann Im Labyrinth des Schweigens in die deutschen Kinos, ein Film von Giulio Ricciarelli und Elisabeth Bartel (Drehbuch), in dem Gert Voss in seiner letzten Filmrolle als Fritz Bauer zu sehen ist. Für 2015 ist noch ein Spielfilm über Fritz Bauer mit Burkhard Klaußner in der Hauptrolle angekündigt. Außerdem hat Christian Petzold seinen letzten Film Phoenix dem bis vor kurzem noch fast vergessenen Fritz Bauer gewidmet, auch wenn es keinen direkt ersichtlichen Zusammenhang der Filmhandlung mit dessen Leben und Wirken gibt.
Während der Dokumentarfilm, die beiden Biografien und die beiden Ausstellungen auf historische Korrektheit setzen – wobei es hier Streit zwischen diversen Positionen und Ansprüchen gibt –, nimmt sich der Spielfilm Im Labyrinth des Schweigens die Freiheit, die Geschichte auf der Basis der historischen Fakten fiktiv zu erzählen, denn er möchte sein Publikum nicht nur aufklären, sondern auch unterhalten. Das Credo der Filmemacher war, wie in dem zum Film erschienenen Flyer zu lesen, „nicht mit einer brav bebilderten Geschichtsstunde“ wider das Vergessen anzugehen, „sondern mit einer spannenden Heldenreise“. Vielleicht glaubten die Filmemacher auch nur, die Geschichte Fritz Bauers sei ohne eine dramatische und romantische Spielfilmhandlung nicht spannend genug darzustellen.
Geschichte fiktiv umzudichten, ist ein häufiges und durchaus probates Mittel, um Geschichte zu erzählen, entscheidend ist jedoch, die Historie dabei nicht zu verfälschen, zu entstellen oder sie den gerade angesagten Weltsichten oder Ideologien unterzuordnen.
Im Folgenden möchte ich zeigen, auf welche Weise die Geschichte in Im Labyrinth des Schweigens verändert wurde und welche Folgen das hat. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass dieser Film nicht nur als Spielfilm in die deutschen Kinos kommt, sondern in einem Paket mit Lehrmaterialien für den Unterricht an deutschen Oberschulen empfohlen wird. (Interessanterweise wird dagegen nicht der sehr gut recherchierte Dokumentarfilm über Fritz Bauer empfohlen.)
Fritz Bauer tritt in Im Labyrinth des Schweigens erst spät in Erscheinung, und insgesamt kommt er in dem eineinhalb Stunden dauernden Film vergleichsweise wenig vor. Er ist der „General“(staatsanwalt) im Hintergrund. Nun hat sich Bauer im Auschwitz-Prozess selbst tatsächlich im Hintergrund gehalten, auch wenn er ihn in Wirklichkeit initiiert und gelenkt hat. Der Hintergrund, in den er im Film gerät, ist jedoch ein anderer. Im Zentrum des Films steht ein erfundener junger Staatsanwalt, Johann Radmann, der nur entfernt den drei „wirklichen“ Staatsanwälten Kügler, Vogel und Wiese nachempfunden ist. In der Filmerzählung ist es Radmann, der mit seiner naiven Neugier den Auschwitz-Prozess ins Rollen bringt, wobei ihn Fritz Bauer väterlich wohlwollend leitet und unterstützt. Es ist Radmann, der zusammen mit dem historisch verbürgten Journalisten Thomas Gnielka die ersten für den Prozess notwendigen Auschwitz-Dokumente beschafft. Fritz Bauer hält zwar letztlich die Fäden in der Hand, wird aber im Film nur bei der Erfassung Eichmanns sichtbar aktiv, als er dem Mossad bei dessen Ergreifung in Argentinien hilft, da Deutschland nicht an seiner Auslieferung interessiert ist. Bauer ist meist in seinem Büro mit der berühmten Tapete zu sehen oder in einem kleinen Reihenhaus, wo Radmann ihn aufsucht und einmal auch auf die Männer vom Mossad trifft.
In der „wahren“ Geschichte aber hat Fritz Bauer den Frankfurter Auschwitz-Prozess initiiert und mit ungeheurer Willenskraft gegen die immensen Widerstände in der von ehemaligen Nazis durchtränkten deutschen Justiz und Politik durchgesetzt. Es war Bauer, den Thomas Gnielka kontaktierte und dem dieser die Liste mit einer Reihe von Auschwitz-Mördern übergab, und es war Bauer, der die ersten Ermittlungen gegen die Verbrecher von Auschwitz führte und den ganzen Prozess überhaupt nach Frankfurt brachte. Erst dann betraute er zwei Staatsanwälte mit den weiteren Ermittlungsarbeiten, wobei er im Unterschied zum Film jedoch großen Wert darauf legte, für den Prozess junge Anwälte zu gewinnen, die nicht durch eine NS-Vergangenheit ihrer Eltern vorbelastet waren.
Der Frankfurter Auschwitz-Prozess sowie der Kampf für die Ergreifung Eichmanns war Bauers Lebenswerk. Dabei ging es ihm nicht primär um Rache, sondern um den Aufbau einer neuen Bundesrepublik und die dafür notwendige Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Dass dann unmittelbar nach dem Auschwitz-Prozess im Deutschen Bundestag ein Gesetz klammheimlich eingebracht und verabschiedet wurde, das die Strafverfolgung der Nazi-Mörder, wie sie gerade in Frankfurt vorgeführt worden war, zukünftig so gut wie unmöglich machte, muss Bauer tief getroffen haben. Kurz darauf ist er unter ungeklärten Umständen gestorben.
Nun könnte man meinen, dass es nicht so wichtig ist, ob sich ein Spielfilm über Fritz Bauer ganz nah an die historischen Fakten hält. Dass es viel entscheidender ist, überhaupt einen Film über diesen großen Staatsanwalt und Mahner zu drehen und ihn damit einem Publikum und vor allem jungen Menschen zugänglich zu machen, für die Bauer bis dahin ein Unbekannter war. Und dass es dem Film gut gelungen ist, das stickige Nachkriegsdeutschland und dessen Verschweigen der NS-Vergangenheit abzubilden, auch wenn es den eigentlichen Protagonisten Fritz Bauer dabei sehr an den Rand rückt. Besser ergeht es da dem Journalisten Gnielka, der sich vielleicht aufgrund seines Alters und seines temperamentvollen Aufbegehrens mehr zur Identifikationsfigur eines jungen Publikums eignet.
Doch Einspruch.
Auch wenn es bestimmt nicht böse gemeint ist, die Geschichte des Auschwitz-Prozesses über die Figur des Helden Johann Radmann zu erzählen und ihm vieles anzudichten, was eigentlich dem Verdienst Bauers zuzuschreiben ist, so geschieht damit doch eine Ungeheuerlichkeit: Fritz Bauer, der Protagonist des Auschwitz-Prozesses, wird aus seiner eigenen Geschichte geworfen! Ihm wird eine Nebenrolle zugedacht, wenn auch eine prominente, und er muss zusehen, wie auch in der Erinnerung sein Platz von anderen eingenommen wird.
Fritz Bauer wurde vertrieben, verdrängt und vergessen, und nun, 50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess, wird er in einem Spielfilm, der sein Lebenswerk zum Thema hat, in eine Nebenrolle gedrängt. Er wird stattdessen zur Vaterfigur stilisiert und darf Johann Radmanns Vater ersetzen, den dieser erst idealisiert und dann im Lauf des Films als NS-Mitläufer enttarnt hatte. Bauer ist der väterliche Chef im Hintergrund, der seinen Zögling lenkt, ihn auf seine Naivität hinweist, seine Arbeit gutheißt und ihm sein Vertrauen schenkt. Vielleicht lässt sich sogar behaupten, dass Fritz Bauer als Jude dem jungen Staatsanwalt gewissermaßen die Absolution erteilt.
Nun könnte man noch als Gegenargument anführen, dass der Film Im Labyrinth des Schweigens gar nicht so sehr als Film über Fritz Bauer gedacht sei, sondern vielmehr als Film über die bleierne Zeit vor dem Auschwitz-Prozess. Und genau das ist der Skandal: Der Auschwitz-Prozess und seine Vorbereitung ist ohne Fritz Bauer nicht zu denken, und ein Film darüber kann nur mit ihm als Protagonisten gemacht werden.
Besonders schlimm wird es, wenn dann auch noch Film und historische Realität verschwimmen und der Film für die Realität genommen wird. So ging es bei der Sendung von Günther Jauch vom 25.1.2015, an der anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz die zwei Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer und Eva Erben sowie der letzte noch lebende Staatsanwalt des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Gerhard Wiese, teilnahmen, auch um Fritz Bauer. Doch wurde in einem kleinen Filmbeitrag nicht Bauer selbst eingeblendet, obwohl es viele Filmbilder von dem auch in seiner Rhetorik beeindruckend charismatischen Staatsanwalt gibt, sondern stattdessen wurde sein Interpret Gert Voss gezeigt und „zitiert“.
Oder, wie es auf der Rückseite des vierseitigen Flyers zum Film in historisch anmutender Schreibmaschinenschrift heißt:
„Der Spielfilm IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS erzählt die Geschichte des Journalisten Thomas Gnielka (1928–1965), des Auschwitz-Überlebenden Hermann Langbein (1912–1995) und der beiden Juristen Fritz Bauer (1903–1968) und Johann Radmann, die Ende der 1950er Jahre gegen viele Widerstände in Politik, Justiz und Sicherheitsbehörden den mühevollen Versuch machten, den weißen Fleck Auschwitz aufzuklären, die deutsche Gesellschaft mit den NS-Verbrechen zu konfrontieren.“
Hier ist der fiktive Staatsanwalt zur historischen Figur avanciert, es fehlen nur noch das Geburts- und Todesjahr. Wenn schon den Filmemachern eine solche Vermischung „unterläuft“, wie können dann deutsche Filmzuschauer und Oberstufen-Schüler noch zwischen historischer Realität und Fiktion unterscheiden?
Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de