von Robert Langer

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9. September 2018

Die 1596 gegründete Stadtbibliothek Bautzen ist die größte und zweitälteste öffentliche Bibliothek der Lausitz, jener Region, die sich über das südliche Brandenburg, das östliche Sachsen und das westliche Polen erstreckt. Aufgrund ihrer weit zurückreichenden Geschichte gehört sie zu denjenigen kommunal getragenen Bibliotheken, die neben einem auf Aktualität ausgerichteten Ausleihbestand auch einen nennenswerten Altbestand historischer Bücher besitzen. In einem separaten Lesesaal können die Nutzer die Bücher mit Erscheinungsjahren vor 1945 einsehen. Als 2016 ein Forschungsprojekt erstmals nachwies, dass sich darunter auch unrechtmäßig erworbene Bücher befinden, und zwar NS-Raubgut, waren die Bautzener sehr überrascht. Wie kam es hierher? Weshalb konnte es so lange unerkannt bleiben?

Den Ausgangspunkt der Forschung in Bautzen bildete ein Gespräch des Autors mit der Dresdener Provenienzforscherin Jana Kocourek. Wie könnte es möglich sein, in einer Stadtbibliothek ein Forschungsprojekt zu NS-Raubgut durchzuführen? Mit dem komplizierten Antragsprozedere sind öffentliche Bibliotheken komplett überfordert, und eine Kommune als Träger funktioniert nun einmal anders als ein Ministerium. Man brauchte also einen Wissenschaftler, der die Einrichtung und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter persönlich kannte und sich ohne weitergehende institutionelle Anbindung allein auf das Wagnis einließ. Aus einem ersten „Wir schauen mal, ob wir auf Raubgut stoßen“, wurde, auch durch die finanzielle Förderung der Bundesregierung, ein erfolgreiches Forschungsprojekt, gekrönt von einem spektakulären Fund – der Büchersammlung von Edith und Georg Tietz, der ehemaligen Inhaber der Hermann Tietz Warenhäuser (HERTIE).

 

Kolorierte Fotografie:  Das 1900 gebaute Warenhaus Tietz in der Leipziger Straße in Berlin. Diese erste der bald zehn Berliner Filialen, zu denen auch das KaDeWe auf dem Tauentzien gehörte, wurde 1944 zerstört. Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: Gemeinfrei.
 

 

Die Bibliothek von Edith und Georg Tietz umfasste einst über 4.000 Bände. Bibliophile Sammlerfreude, Kunstgenuss, aber auch ökonomisches, religiöses und schöngeistiges Interesse sprechen aus der im Berliner Bildungsbürgertum entstandenen Büchersammlung. Beide Eheleute waren mosaischen Glaubens und kamen aus großen Unternehmerfamilien, deren Firmenstammsitze sich auf der Leipziger Straße befanden. Edith (1894–1984) wurde in die Textilunternehmerfamilie F. V. Grünfeld geboren, Georg (1889–1953) war der älteste Spross von Oscar Tietz, dem Begründer der „Hermann Tietz Warenhäuser“. Die bekannte Abkürzung HERTIE, den bereits in den zwanziger Jahren entwickelten Spartennamen, nutzten dann die Nationalsozialisten, um die Wurzeln des Unternehmens im Zuge seiner „Arisierung“ zu verschleiern. Nach der Verdrängung aus dem Geschäftsleben entschloss sich die Familie zur Emigration, lagerte ihr Hab und Gut bei einer Speditionsfirma ein, um es sich, nach der Festsetzung der sogenannten Reichsfluchtsteuer, später nachsenden zu lassen. Dazu kam es jedoch nie. Ihr gesamter Besitz und sämtlicher Hausrat samt Kunst- und Büchersammlung wurden für das Deutsche Reich eingezogen und „verwertet“. Die beweglichen Güter lagerten in der Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidiums Berlin-Brandenburg in der Skalitzer Straße in Berlin-Kreuzberg, bis der Hauptteil bei einem verheerenden Luftangriff am 30. Januar 1944 zerstört wurde.

Schon früh hatten sich Beamte bemüht, die Bibliothek und die Kunstsammlung der Familie Tietz den Beständen öffentlicher Einrichtungen einzuverleiben. So wurden unter anderem das Berliner Kupferstichkabinett und die für den wissenschaftlichen Buchtausch zuständige Reichstauschstelle Besitzer des Tietz’schen Eigentums. Die Spuren wurden jedoch gut getarnt, was ein wesentlicher Grund dafür ist, dass man über 70 Jahre nach dem Untergang des „Tausendjährigen Reiches“ noch NS-Raubgut in öffentlichen Einrichtungen in Deutschland finden kann. Deren oftmals mangelnder Willen, Unkenntnis oder schlicht Desinteresse an der Herkunft der eigenen Bestände, Verlustangst sowie fehlende finanzielle Ressourcen und Fachexpertise machen Bibliotheken, Museen und Archiven auch heute noch zu potentiellen Raubgutdepots. Dass viele Verfolgte entweder umgebracht wurden oder nicht damit rechneten, im bombenzerstörten Nachkriegsdeutschland etwas von ihrer einstigen Habe wiederfinden zu können, tat sein Übriges.

 

NS-Raubgutforschung in Bibliotheken

Die NS-Raubgutforschung in Bibliotheken hat es noch immer schwer, sich gegenüber der NS-Raubkunstforschung zu behaupten, die ungleich größere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Beide berufen sich auf die gleichen Grundlagen, nämlich die Washingtoner Prinzipien und die Selbstverpflichtung von Bund, Ländern und Kommunen. Während es auf der 1998 abgehaltenen, international besetzten Washingtoner Konferenz hauptsächlich um Kunstwerke ging, weitete die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Selbstverpflichtung, der sogenannten Gemeinsamen Erklärung, den Begriff „Raubgut“ auf jegliches Kulturgut aus. In beiden Erklärungen geht es darum, während der NS-Zeit entzogenes Kulturgut zu identifizieren, Eigentümer oder deren Erben ausfindig zu machen und zu einer angemessenen Lösung zu gelangen. Die Gemeinsame Erklärung, die die Washingtoner Prinzipien auf den deutschen Fall anwendet, fordert die Träger öffentlicher Einrichtungen (Archive, Museen, Bibliotheken) auf, die allgemein erklärten Grundsätze konkret zu beschließen. Die praktische Umsetzung obliegt jedoch den Trägern, also den für die Einrichtungen zuständigen Ministerien auf Bundes- und Landesebene und den Stadt- und Landräten für die Kommunen. Finanzielle Unterstützung erfolgt über die im Januar 2015 gegründete Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste (DZK), in die ihre Vorgängerin, die Arbeitsstelle für Provenienzforschung (AfP), überführt wurde. Die der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien zugeordnete Stiftung ist Ansprechpartnerin für alle Einrichtungen, die ihre Bestände auf NS-Raubgut untersuchen wollen und dabei auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind.

 
Video: „Geraubte Bücher in deutschen Bibliotheken: Eine unerledigte Aufgabe? Diskussion über den Umgang öffentlicher und wissenschaftlicher Bibliotheken mit Büchern aus jüdischem Besitz“, 2. März 2017. Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Barbara Lison (Vorsitzende des Deutschen Bibliotheksverbandes),Volker Cirsovius-Ratzlaff (Staats- und Universitätsbibliothek Bremen) und Robert Langer (Stadtbibliothek Bautzen). Moderation: Henning Bleyl (Heinrich Böll Stiftung Bremen).

 

Die Stadtbibliothek Bautzen

Die erste kommunale Einrichtung im Bereich der öffentlichen Bibliotheken, deren Bemühungen zur Klärung der Herkunft ihrer Altbestände vom DZK gefördert wurde, ist die Stadtbibliothek Bautzen. Bis zum Zeitpunkt der Antragstellung im Jahr 2013 waren ausschließlich wissenschaftliche, d. h. Staats-, Landes- und Universitätsbibliotheken gefördert worden. Wegen der im Förderzeitraum gemachten Funde wurde der Bautzener Stadtbibliothek nach der Erstförderung, abermals als erster kommunaler Einrichtung, ein Anschlussprojekt bewilligt. Wie sich hier zeigte, verfügen auch Stadtbibliotheken über forschungsrelevante Bestände, gleichwohl müssen sie ohne das entsprechend nötige wissenschaftliche Personal auskommen, denn dieses ist in öffentlichen Bibliotheken nicht vorgesehen. Trotz eines Altbestandes, der knapp die Hälfte der 180.000 Medieneinheiten ausmacht, gab und gibt es in Bautzen keinen einzigen wissenschaftlichen Bibliothekar. Damit fehlt der Provenienzforschung vor Ort die unabdingbare fachliche Grundlage. Ohne die von dritter Seite zur Verfügung gestellten zusätzlichen Finanzmittel sind die in Bautzen geleisteten Recherchearbeiten und ihre Ergebnisse, die für die bis heute reichende Nachgeschichte des Nationalsozialismus bedeutsam sind, undenkbar.

Blick in den Altbestand der Stadtbiliothek Bautzen. Foto: Robert Langer, 2016.

 

Bevor die Forschung Mitte 2014 beginnen konnte, hatte der Provenienzforscher, der zugleich Autor dieses Beitrags ist, jedoch die Sachgebietsleitung des Altbestandes, die Bibliotheksleitung und gemeinsam mit diesen den Träger in Person des Oberbürgermeisters von der Projektidee zu überzeugen. Dann galt es, mit einem Projektantrag die Finanzierung durch das DZK zu erreichen. Als dies schließlich geschafft war, begann neben der eigentlichen Forschung ein weiterer wesentlicher Teil der Arbeit – das Aufräumen mit Vorbehalten. Dazu zählen der Unglaube, dass es NS-Raubgut in der beschaulichen Provinz geben könne, der lähmende Respekt vor dem wissenschaftlichen Bibliothekswesen, die Unflexibilität kommunaler Dienstwege, die Unkenntnis der Gemeinsamen Erklärung sowie die in öffentlichen Bibliotheken im Bereich Personal, Öffnungszeiten, Aussonderung und Altbestand gesetzten unvorteilhaften Prioritäten. Dazu kommen eine unaufgearbeitete Institutionsgeschichte, eine unübersichtliche und lückenhafte Aktenlage sowie oft fehlende historische Sensibilität, die den Zugang zur eigenen Geschichte erschweren. Dies aufzuarbeiten und vorsichtig in die Wahrnehmung zu führen, gehört zu den ersten Aufgaben eines Provenienzforschers in einer kleinen kommunalen Bibliothek.

 

NS-Raubgut in der Stadtbibliothek Bautzen

Die insgesamt vierjährige NS-Raubgutforschung in Bautzen erbrachte nicht nur neue Erkenntnisse über die Bestände der Stadtbibliothek, sondern erweitert auch das gesicherte Wissen um die Bibliothekspolitik in der Zeit des Nationalsozialismus.[1] Anhand bis dahin unerforschter, da noch unerschlossener Akten, wurde das Agieren des Bautzeners Büchereidirektors untersucht, was tiefe Einblicke in die alltägliche Bibliotheksarbeit in der NS-Diktatur verschafft. Wenn die Archivalien auch nicht explizit über den Eingang von Raubgut sprechen, so berichten sie doch von ihrem Gegenteil, nämlich der Aussonderung von verbotener und unerwünschter Literatur. Dazu gehört auch die Entfernung des wendischen/sorbischen Schriftguts aus den Bibliotheken der auch heute noch zweisprachigen Lausitz. Unmittelbar praktische Relevanz besitzt das Wissen um das NS-Raubgut, das im Zuge der systematischen Inaugenscheinnahme der Bücher des Altbestandes identifiziert werden konnte. In ungefähr einem Drittel der überprüften über 12.000 Bücher, das entspricht ungefähr einem Fünftel des Altbestandes der Bibliothek, konnten Provenienzspuren gefunden werden. Diese zeigen sich in verschiedener Weise, wie zum Beispiel als Exlibris, Stempel, Etiketten, handschriftliche Einträge oder Prägungen, die man nicht selten versuchte zu tilgen. Mit ihrer Hilfe konnte der Eingang von Büchern aus jüdischem Privatbesitz belegt werden, die nach ihrer Einziehung „verwertet“ wurden und über den Umweg der Reichstauschstelle und den nach Kriegsende im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands durchgeführten Schlossbergungen in die Stadtbibliothek gelangten. Aber auch Bücher von Gewerkschaften und ihren Vertretern konnten nachgewiesen werden.[2]

 
 
Video: „Auf der Spur geraubter Bücher“ (2018)

 

Der Fall Tietz

Während Provenienzforscher in Museen nach der Herkunft von meist nur einmal vorhandenen Kunstgegenständen forschen, arbeiten Forscher in Bibliotheken mit dem Massenartikel Buch. Beide suchen und entschlüsseln Spuren – die einen beispielsweise auf Rückseiten von Gemälden, die anderen zwischen zwei Buchdeckeln. Anhand dieser versuchen sie, die Person oder Institution des Eigentümers oder der Eigentümerin ausfindig zu machen. Je nachdem, was über diese bereits bekannt ist, folgen weitere Recherchen und die Sicherung der Erkenntnisse in verschiedenen Datenbanken. Dies geschah auch bei dem spektakulärsten Fund in Bautzen – der Büchersammlung von Edith und Georg Tietz.

Deren Buchbesitzzeichen „ETG“ fand sich in verschiedenen Büchern in Form eines Etiketts oder als Stempelabdruck. Da jedoch weder Akten noch Bestandsbücher über die Vorbesitzer Auskunft gaben, blieben die drei Buchstaben kryptische Zeichen. Bis zu dem Tag, als in den Bautzener Beständen bei der gezielten Suche nach Judaica für eine Ausstellung die hebräische Lesefibel von Hans Herrmann Tietz auftauchte. Hans Herrmann (1920–2007) war der Sohn von Edith und Georg und hatte in dem Jahr, als seinem Vater das Unternehmen entzogen wurde, seine Bar Mizwa. Vielleicht erhielt er anlässlich dieser Feier den Stempel mit seinem Namen und seiner Adresse, den er in seine Fibel drückte. Diese Fibel, die sich später auch auf der im Brandenburgischen Landeshauptarchiv überlieferten Bücherliste der Tietz’schen Bibliothek fand, lieferte den Schlüssel, die Buchstabenkombination „ETG“ aufzulösen und damit die Büchersammlung nach 70 Jahren zu identifizieren. Daran schloss sich die Forschung zu den Eigentümern, den Verlustumständen, dem Zugangsweg und den Erben an.

Mit dem Buchbesitzzeichen „ETG“ kennzeichneten Edith und Georg Tietz die Bücher ihrer Sammlung. Foto: Robert Langer.

„Hans Herrmann Tietz, Berlin-Grunewald, Königsallee 71“: Dieser Stempel, der nur in einem einzigen Buch vorhanden ist, ermöglichte die Identifizierung der Büchersammlung Edith und Georg Tietz. Foto: Robert Langer.

 

Am 17. Februar 1945 schrieb der Leiter der Reichstauschstelle,[3] Adolf Jürgens, dem Oberfinanzpräsidenten: „Die Reichstauschstelle hat am 12.2.45 die Reichshauptkasse beauftragt, den Betrag von RM 21.070,– auf Ihr Postscheckkonto zu überweisen.“ Dem Kaufpreis lag die Schätzung des von der Industrie- und Handelskammer vereidigten Sachverständigen für den wissenschaftlichen Buchhandel und des wissenschaftlichen Antiquariats, Max Niederlechner, zugrunde. Niederlechner berichtete der Oberfinanzbehörde am 5. November 1943, dass die Bibliothek Georg Tietz eine der schönsten sei, die er je für den Oberfinanzpräsidenten geprüft habe, und er dringend empfehle, sie der Reichstauschstelle zu verkaufen. Ende 1943 übernahm sie die Büchersammlung Tietz aus den Lagerräumen der Vermögensverwertungsstelle in der Skalitzer Straße. Da durch die zunehmenden Bombardierungen die für den Wiederaufbau von Bibliotheken vorgesehenen, in Berlin lagernden Buchbestände nicht mehr sicher waren, beschloss die Behörde, die Sammlung Tietz nach Sachsen auszulagern. Zum Schutz der Bücher mietete die Reichstauschstelle geeignete Lagermöglichkeiten, sogenannte Depots, an. Knapp eine Million Bände befanden „sich bei Kriegsende in mehr als dreißig von der Reichstauschstelle unterhaltenen, absichtlich dezentral in Deutschland und den annektierten Gebieten angelegten Depots“.[4]

Schon im März 1943 mietete die Reichstauschstelle Räume im Schloss Baruth bei Bautzen an. Baruth war bereits vor der Zerstörung der Diensträume am Schiffbauerdamm in Berlin als Ausweichquartier vorgesehen. Von der Dienststelle Baruth aus wurden ab November 1943 die Arbeiten für den Wiederaufbau der zerstörten Bibliotheken durchgeführt. Die Leitung wurde dem wissenschaftlichen Mitarbeiter der Reichstauschstelle Theophil Will übertragen, der auch für die meisten anderen Depotstandorte verantwortlich zeichnete. Im Juni 1944 arbeiteten 17 Mitarbeiter der Reichstauschstelle, des Beschaffungsamtes der Deutschen Bibliotheken und des Deutsch-Ausländischen Buchtauschs in Baruth.[5]

Wenige Kilometer Luftlinie von Baruth entfernt liegt das Dorf Drehsa. Auch dort befindet sich ein Schloss, um das sich die Reichstauschstelle seit 1943 als Depotstandort bemühte. Interessenskonflikte mit dem zuständigen Kreisleiter der NSDAP Bautzen, der sächsische Schlösser nur noch Bombengeschädigten zur Verfügung stellen wollte, machte die Anmietung des Objektes unmöglich. Jedoch befand sich auf dem Schlossgelände eine Kegelbahn mit 90 Quadratmetern potenzieller Stellfläche. Um wenigstens die Kegelbahn als Depot nutzen zu können, bestimmte Jürgens sie als Lager für die Tietz-Sammlung, die er mittlerweile für die nahezu vollständig zerstörte Stadtbibliothek Leipzig vorgesehen hatte. Daraufhin genehmigte die sächsische Landesregierung im April 1944 die Nutzung als Depot. Ende 1943 traf die Büchersammlung Tietz in Baruth ein. Sie bestand aus 20 Kisten und wurde vorerst im Schloss eingelagert. Im August 1944 zogen die Kisten dann in das Depot Kegelbahn Drehsa um. Von Ende Oktober bis Anfang Dezember 1944 folgten weitere 160 Kisten vornehmlich mit Literatur von Behörden und Institutionen. Die Sammlung Tietz blieb die einzige, die laut Signierung für den Wiederaufbau angekauft worden war.

Nachdem das im ausgehenden 19. Jahrhundert errichtete Schloss Drehsa Ende der 2000er-Jahre saniert wurde, erstrahlt es wieder in neuem Glanz. Die Kegelbahn, die zu Ende des Krieges als Bücherlager diente, existiert heute nicht mehr (Foto von 2017). Foto: Robert Langer.

 

Kurz nach Kriegsende, im Juni 1945, befanden sich von den einst 180 Kisten nur noch 132 im Depot Kegelbahn Drehsa. Daraufhin ließ Theophil Will diese verbliebenen Kisten durch den Bautzener Landrat beschlagnahmen. Bei der am 10. Oktober durch die russische Verwaltung genehmigten eingehenden Prüfung stellte Will fest, dass sämtliche 20 Kisten, die die Bibliothek Tietz beinhalteten, fehlten. Im Oktober 1945 wurde das Depot geräumt und die restlichen Kisten nach Baruth transportiert.

Ist die Büchersammlung Tietz also einer Plünderung zu Kriegsende zum Opfer gefallen? Oder gelangte sie durch die Beschlagnahme des Landratsamts Bautzen in die Stadtbibliothek? Oder wurde sie im Zuge einer der Schlossbergungen gesichert? Vor allem: Wussten die Beteiligten, um welche Sammlung es sich handelte? Wenn auch nicht endgültig geklärt werden kann, auf welchen Wegen die Büchersammlung Tietz die wenigen Kilometer von Drehsa nach Bautzen gelangt war, so steht doch fest, dass zumindest Teile von ihr sich heute im Altbestand der Stadtbibliothek befinden. Auffällig ist die versuchte Entfernung der Provenienzmerkmale, denn dies deutet darauf hin, dass man sich bewusst war, nicht (völlig) rechtmäßig zu den Büchern gekommen zu sein. Ob das Etikett „ETG“ den damaligen einarbeitenden Bibliothekaren als Provenienzmerkmal der Eheleute Tietz bekannt war, bleibt eine der offenen Fragen. Die Entfernung beziehungsweise Tilgung der Besitzermerkmale teilt die Sammlung jedenfalls mit den zahlreichen Adels- und Schlossbibliotheken.

Die 1952 in New York geborene June Jasen, eine Enkeltochter von Edith und Georg Tietz, im Dezember 2016 in Berlin. In der Hand hält sie ein in Bautzen aufgefundenes Buch ihrer Großmutter. Foto: Robert Langer.

 

Wie weiter?

Einer öffentlichen Bibliothek droht ungleich mehr als einer wissenschaftlichen das Versiegen der notwendigen Forschungsarbeit nach dem Auslaufen der Finanzierung eines zeitlich begrenzten Provenienzforschungsprojekts. Neben der eigentlichen Recherche bedarf die unverzichtbare Lobby-, Öffentlichkeits- und Pressearbeit einiger Anstrengung. Nur im Verbund mit den Verantwortlichen bei der betroffenen Einrichtung und ihrem Träger, bei Politik, in Verbänden und der Zivilgesellschaft lässt sich NS-Raubgutforschung als Teilgebiet der Provenienzforschung in Bibliotheken dauerhaft ansiedeln. Sie ist und bleibt eine moralische Verantwortung und eine sittliche Aufgabe, der wir uns durch unsere Geschichte, den Taten und Untaten unserer Vorfahren, stellen müssen.

Die Erben von Edith und Georg Tietz, ihre Tochter, ihre vier Enkelkinder und fünf Urenkel, leben heute in den USA. Sie ziehen in Erwägung, ihr Eigentum – die wiedergefundenen Teile der Büchersammlung ihrer Vorfahren – der Stadtbibliothek Bautzen dauerhaft zu überlassen. Die Bücher sollen dort aufgearbeitet und als Sammlung bewahrt werden, der Forschung zur Verfügung stehen und über die Vorbesitzer informieren. Wenn es zu dieser Vereinbarung kommt, würde keiner der insgesamt 665 aufgeklärten Raubgutfälle in der Bautzener Bibliothek das Haus verlassen müssen; mit allen anderen identifizierbaren Rechtsnachfolgern wurden bereits Überlassungsvereinbarungen geschlossen. So führt Offenheit und Transparenz nicht nur dazu, einer Stadtbibliothek ihre Bestände zu erhalten. Die Provenienzforschung bereichert zudem das städtische Büchereiwesen um die Geschichte ihrer Bücher.

 

Weiterführende Links:

 

[1] Von Mai 2014 bis April 2017 förderte das DZK, vormals AfP, das Projekt „Systematische Recherche nach NS-Raubgut in den Beständen der Stadtbibliothek Bautzen, SG Altbestand/Regionalkunde“. Begründet durch den Fund der Sammlung Tietz wurde ein Folgeprojekt von Mai 2017 bis April 2018 genehmigt. Ab dem zweiten Projektjahr unterstützte eine Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste (FaMI) auf geringfügig entlohnter Basis das Projekt. Zu den Ergebnissen im Detail: Robert Langer, Die Wege der geraubten Bücher. Die Stadtbibliothek Bautzen und die HERTIE-Sammlung. Dresden 2018. Dort auch die folgenden Zitatnachweise.

[2] Im Online-Katalog der Stadtbibliothek wurden die Exemplardaten der Bücher, deren Herkunft ermittelt werden konnte, mit dem Begriff „Provenienz“ gekennzeichnet. Wurden diese auch als „NS-Raubgut“ eingestuft, informiert dieses Feld über den Eigentümer, den Entzug und den Stand der Restitution.

[3] Ab 1943 war die Reichstauschstelle als „Reichsbeirat für Bibliotheksangelegenheiten – Reichstauschstelle – Abt. III Wiederaufbau von Bibliotheken“ für die Betreuung der kriegsgeschädigten wissenschaftlichen Bibliotheken zuständig, zu denen auch die sogenannten wissenschaftlichen Stadtbibliotheken gezählt wurden. Vgl. Briel, Cornelia: Die Bücher der Warenhausunternehmer Georg und Martin Tietz und die Leipziger Stadtbibliothek. Zur Verstrickung von kulturellen Einrichtungen in die NS-staatliche Verwertung jüdischen Eigentums. In: Monika Gibas (Hg.): „Arisierung“ in Leipzig. Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte der Jahre 1933 bis 1945. Leipzig 2007, S. 169.

[4] Briel, Cornelia: Die Bücherlager der Reichstauschstelle. Frankfurt am Main 2016, S. 13.

[5] Vgl. ebd., S. 134-136. Die 1926 gegründete Reichstauschstelle organisierte zuerst die Verteilung ausländischer Druckschriften und war Sammelstelle für die Sendungen deutscher Reichs- und Staatsbehörden, öffentlicher Institute und gelehrter Gesellschaften. Ab 1927 war sie hauptsächlich mit der Erfassung und Verteilung von Dubletten unter den deutschen Bibliotheken befasst. Ab 1943 hatte sie zusätzlich die gezielte Neuanschaffung von Büchern im In- und Ausland vorzunehmen. Das Beschaffungsamt der Deutschen Bibliotheken versorgte die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken mit der wissenschaftlichen Literatur des Auslandes. Der Deutsch-Ausländische Buchtausch regelte den zwischenstaatlichen Tausch von Neuerscheinungen. Vgl. Briel: Die Bücher der Warenhausunternehmer Georg und Martin Tietz, S. 168f.