von Thomas Vordermayer, Annette Schuhmann

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1. Januar 2016

Am 8. Januar 2016 stellt das Institut für Zeitgeschichte in München die kommentierte Gesamtausgabe: „Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition" vor. 
Gut drei Jahre haben Historiker*innen des Instituts unter Leitung von Christian Hartmann an einer, im wörtlichen Sinne zu verstehenden, vollständigen Kommentierung dieser Kampfschrift gearbeitet. Der Zeitdruck, unter dem sie dabei standen, war enorm, schließlich erlosch das Urheberrecht im Besitz des Freistaates Bayern am 1. Januar 2016. 
Die Arbeiten an der Kommentierung wurden von großem öffentlichen Interesse und nicht selten kontrovers begleitet. Dies ist ein durchaus seltener Glücksfall für unsere Profession, der aber ebenfalls für Anspannung sorgte und die Mitarbeiter*innen des IfZ wiederholt mit Forderungen nach der Legitimation des Projektes konfrontierte.
 In unserem Interview sollte es jedoch nicht um den Sinn der Edition gehen, den wir ohnehin nicht bezweifeln. Wichtiger waren für uns Fragen nach der Organisation des Forschungsprozesses, nach den persönlichen Eindrücken und dem "Leseerlebnis", nach einer möglichen ironischen Distanz, die eine solche Arbeit begleiten kann, und danach, wie man als Wissenschaftler damit umgeht, auf ewig mit dem Titel "Mein Kampf" in Verbindung gebracht zu werden.


Annette Schuhmann

 

A.S: Ich kann mir vorstellen, dass es für das gesamte Herausgeber-Team inzwischen ein wenig nervend ist, wenn eine Interview-Anfrage kommt, und dass Sie sich vielleicht sagen: „Och nicht schon wieder“!?

Thomas Vordermayer:

(lacht) Es kommt natürlich auch darauf an, wer fragt und was gefragt wird. Freilich werden häufig sehr ähnliche Fragen gestellt, und das kann dann durchaus etwas ermüden. Andererseits ist das enorme öffentliche Interesse an dem Editionsprojekt natürlich ein Glücksfall. Wann bearbeitet man als Historiker schon einmal ein Thema, das von einem derart großen Interesse begleitet wird? Insofern ist jede Interview-Anfrage immer auch ein Grund zur Freude.

A.S.: Gibt es einen regionalen Schwerpunkt der Anfragen? Sind etwa vor allem die Bayern daran interessiert?

Thomas Vordermayer:

Mein Eindruck ist, dass das Interesse bislang in Süddeutschland tatsächlich etwas überwogen hat, gerade bei kleineren Zeitungen wurde das deutlich. Von einem Desinteresse im Norden kann aber sicher keine Rede sein.

A.S.: Wer wird dieses Buch verlegen, und was wird es kosten?

Thomas Vordermayer:

Das IfZ veröffentlicht die Edition im Selbstverlag, es ist also kein Verlag involviert. Die Edition wird zum Selbstkostenpreis verkauft. Hieraus erklärt sich auch der für eine aufwendige, zweibändige Edition sehr niedrige Preis von 59 Euro.

A.S.: Also verdient niemand am Buch? Und das heißt auch, dass die Bücher nicht bei Dussmann in der Nähe der Eingangstür aufgestapelt liegen werden?

Thomas Vordermayer:

Vermutlich nicht, allerdings deuten die bisherigen Vorbestellungen auf ein sehr reges öffentliches Interesse hin. Das ist auch nicht überraschend, angesichts der sehr großen Aufmerksamkeit, die das Projekt in der Presse genossen hat. Auch das Interesse seitens der Wissenschaft war in den letzten Jahren stets sehr groß.

A.S.: Vermutlich werden vor allem Forschungsinstitute und Fachbibliotheken das Buch bestellen.

Thomas Vordermayer:

Davon ist auszugehen. Wir stellen uns aber auch vor, dass etwa Lehrer*innen Interesse an der Edition haben. Die vielen Informationen unserer intensiven Kommentierung können jedenfalls auch als Handreichungen für die Unterrichtsvorbereitung dienen. Doch auch jenseits von Wissenschaft und Lehrerverbänden war die Aufmerksamkeit groß, und wir versuchen, auch diese Interessenten zu erreichen.

A.S.: Gibt es Abbildungen im Buch?

Thomas Vordermayer:
Es gibt einen kleinen Anhang mit Bildern und Karten, etwa vom Obersalzberg, wo das sogenannte "Kampfhäusl"[1]lag, vom Aufbau des Gefängnisses in Landsberg von Hitlers Gefängniszelle sowie von Personen in Hitlers Umkreis. Für die Entstehungsgeschichte von "Mein Kampf" ist dieser Kreis natürlich von großem Interesse. Zudem gibt es unter anderem Einzelbilder aus dem Werbefilm für "Mein Kampf", der im "Dritten Reich" unter dem Titel "Das Buch der Deutschen" produziert wurde. Darin ist unter anderem zu sehen, wie "Mein Kampf" vom Himmel kommend zur Erde schwebt, wo es die beflissenen "Volksgenossen" lesen. Das ist schon Irrsinn.

 

A.S.: Wurde das Buch nicht nach der "Machtergreifung" zu allen möglichen Anlässen verteilt?

Thomas Vordermayer:
Da ist auf die Forschungen von Othmar Plöckinger[2] zu verweisen. Er hat die Entstehung und Rezeption von „Mein Kampf“ kritisch geprüft und etwa festgestellt, dass es zahlreiche Städte und Gemeinden gab, die sich der Verteilung der viel zitierten „Hochzeitsausgaben“ verweigert haben. Es ließ sich also nicht überall durchsetzen, dass Paare bei der Trauung statt der Bibel „Mein Kampf“ überreicht bekamen. Hier muss man sich hüten, die großspurigen Behauptungen der NS-Propaganda unkritisch zu übernehmen.

A.S.: Insgesamt wurden 12,5 Millionen Exemplare von „Mein Kampf“ gedruckt. Müsste da nicht auf vielen Dachböden noch eine Ausgabe zu finden sein?

Thomas Vordermayer:

Mit Sicherheit. Auch in Antiquariaten ist „Mein Kampf“ keine Rarität, höchstens einzelne Ausgaben. Es gibt allerdings durchaus Antiquare, die sagen, wir handeln damit nicht. Auch ebay und Amazon haben diese Linie verfolgt. Gleichwohl gab es kürzlich ein dubioses Amazon-Angebot unter dem Titel „Sein Kampf oder 60 Millionen Tote“, hinter dem sich eine ungekürzte digitalisierte Ausgabe von „Mein Kampf“ verbarg. Das Angebot wurde erst nach einigen Wochen gelöscht. Bleibt die Frage, was nach dem Erlöschen des Urheberrechtes geschieht und ob dann irgendein Verlag eine unkommentierte Neuauflage in die Welt bringt.[3]

A.S.: Gab es im Verlauf der sehr kurzen Zeit der Entnazifizierung eine Form der Waffenabgabe für „Mein Kampf“?

Thomas Vordermayer:
Es sind viele Publikationen, nicht nur „Mein Kampf“, eingesammelt und vernichtet worden, allerdings nicht mit allerletzter Konsequenz. Natürlich haben viele Deutsche ihre Exemplare auch aus eigenem Antrieb vernichtet. Trotzdem ist „Mein Kampf“ heute keine wirkliche Rarität.

A.S.: Seit wann arbeiten Sie an dieser Edition?

 

Thomas Vordermayer:
Seit August 2012. Es gab damals jedoch bereits Vorarbeiten. Allerdings wurde das Projekt im Sommer 2012 durch Christian Hartmann, den Projektleiter, komplett neu konzipiert. Realistisch betrachtet, ist das Projekt daher 2012 nahezu bei Null gestartet. Seitdem haben die Arbeiten an der Kommentierung, der Einleitung und den umfangreichen Anhängen erst richtig begonnen.

 

A.S.: Wie viele Personen haben an dieser Ausgabe gearbeitet?

 

Thomas Vordermayer:
Die Zahl der Mitarbeiter an der Edition hat stark geschwankt. Zwischenzeitlich waren es sechs Wissenschaftler, am Ende waren wir noch zu zweit. Hinzu kamen aber viele Hilfskräfte sowie unsere Kolleginnen Angelika Reizle[4] und Martina Seewald-Mooser[5], die das Projekt über lange Zeit begleitet haben und ohne die der Textabgleich und das Sachregister kaum rechtzeitig fertig geworden wären. Wir haben hier eine große Dankesschuld.

 

A.S.: Was meint „Textabgleich“?

 

Thomas Vordermayer:
Wir arbeiteten mit der Originalausgabe von „Mein Kampf“ der Jahre 1925/26. Der Text wurde allerdings bis zum Ende des „Dritten Reichs“ immer wieder sprachlich und stilistisch verändert. Je nachdem, welche Ausgabe man zur Hand nimmt, ist der Text also immer ein wenig anders. Das heißt auch, dass je nach Ausgabe die sprachliche Qualität des Buchs variiert. Es lässt sich an vielen Beispielen zeigen, dass, tendenziell, je näher man an die Erstausgabe herankommt, umso schlechter der Text in stilistischer Hinsicht ist. Allerdings wurde nie die inhaltliche Grundkonzeption verändert, mit einer Ausnahme. Diese Ausnahme betrifft eine Frage der inneren Parteiorganisation. Hitler spricht am Ende des ersten Bands der Originalausgabe von einer „germanischen Demokratie“ und stellt damit seinen Parteigenossen die Wahl des Vorsitzenden in Aussicht. Bald aber widersprach diese Passage dem Führerprinzip, sodass sie bereits 1930 bei Veröffentlichung der ersten „Volksausgabe“ restlos getilgt wurde.

 

A.S.: Das heißt, Sie beziehen sich mit Ihren Kommentaren durchgängig auf die Erstausgabe des Buches?

 

Thomas Vordermayer:
Ja. Für den Textvergleich haben wir mehrere Vergleichsausgaben verwendet, es gibt ja über 1.000 Ausgaben. Nach aufwendiger Vergleichsarbeit wurden insgesamt sieben Ausgaben identifiziert, in denen besonders viele Eingriffe in den originalen Wortlaut nachgewiesen werden konnten. Diese sieben Ausgaben wurden mit digitaler Texterkennung abgeglichen. Die dabei zutage getretenen Abweichungen vom Wortlaut der Erstausgabe werden in der Edition dokumentiert. Das ist eine ungeheuer aufwändige Arbeit gewesen. Die Detailänderungen in den verschiedenen Ausgaben sind mitunter sehr aufschlussreich. So wurden etwa auch Übertreibungen von Hitler korrigiert sowie, und das fand ich persönlich sehr interessant, diverse Stilblüten Hitlers überarbeitet.

 

A.S.: Wurde Hitler die jeweilige Bearbeitung vorgelegt oder wurde still und heimlich korrigiert?

 

Thomas Vordermayer:
Die wichtigsten Änderungen wurden im Vorfeld der Volksausgabe von 1930 vorgenommen. Damals wurde Rudolf Heß von Hitler damit betraut, „Mein Kampf“ zu redigieren. Diese Arbeit hat er zusammen mit seiner Frau Ilse geleitet. Wir wissen allerdings nicht im Detail, inwieweit Heß seine zum Teil recht gravierenden Eingriffe dann mit Hitler besprochen hat. Für die genannte Änderung bezüglich der „germanischen Demokratie“ ist das zwar sehr wahrscheinlich, ansonsten bleibt das aber im Bereich der Spekulation. Für die Unzahl der kleinen späteren Eingriffe, zumal in der Zeit nach 1933, dürfte Hitler kaum mehr konsultiert worden sein.

 

A.S.: Noch einmal zum Arbeitsprozess: Die Zahl der Mitarbeiter/innen an der jetzt vorliegenden kommentierten Ausgabe schwankte zwischen sechs und zwei. Die ganze Bearbeitung, sprich Kommentierung dauerte drei Jahre. Das klingt nach Tag- und Nachtschicht?

 

Thomas Vordermayer:
Von Anfang an war die Zeit der größte Druckfaktor, schließlich ließ sich der Termin der Veröffentlichung, der an das Ende des Urheberrechts gebunden war, nicht verschieben. Es war immer klar, in dem Moment, wo das Urheberrecht ausläuft, muss das Produkt, muss eine wissenschaftlich kommentierte Referenzausgabe, fertig sein. Keinesfalls sollte die Edition erst im Herbst auf den Markt kommen, wenn die öffentliche Debatte bereits vorbei oder stark abgeflaut sein wird.

 

A.S.: Wie haben Sie den Arbeitsablauf organisiert?

 

Thomas Vordermayer:
Die 27 Kapitel des Buches wurden auf die Mitarbeiter als Erstbearbeiter verteilt. War die Erstkommentierung eines Kapitels fertig, kam sie in einen Korrekturkreislauf, wurde also von allen Mitarbeitern durchgearbeitet. Daraufhin wurden Ergänzungen und Diskussionspunkte festgelegt, die dann, falls nötig, in den regelmäßigen Besprechungen diskutiert und entschieden wurden.

 

A.S.: Wenn 27 Kapitel an verschiedene Mitarbeiter*innen verteilt werden, entstehen dann nicht große Schwankungen im Sprachstil und Unterschiede in der Form der Kommentierung? Schließlich haben wir alle unterschiedliche Interessen, die uns durch die Forschung leiten und uns motivieren. Wie sah der Verständigungsprozess im Hinblick auf die inhaltlichen Fragen aus?

Thomas Vordermayer:
Christian Hartmann gab als Projektleiter in all diesen Fragen eine klare Linie vor. Der Anspruch war stets, Hitler beim Wort zu nehmen, Zeile für Zeile kritisch zu prüfen und jeder Behauptung nachzugehen, unabhängig vom Rechercheaufwand. Wir haben uns also nicht nur einige wenige zentrale Abschnitte angesehen und diese kommentiert. Das wäre aus unserer Sicht ein falsches Signal gewesen, auch wenn zu Beginn der Arbeit von einem externen Wissenschaftler durchaus die Forderung kam, lediglich eine solche Textauswahl zu kommentieren. Alles andere lohne den Aufwand nicht. Wir fanden diese Idee aber sehr problematisch, dadurch wäre der Mythos um das Buch nur weiter genährt worden. Sicher wäre die Frage aufgetaucht, ob sich die Herausgeber nicht getraut bzw. zugetraut hätten, die eine oder andere Passage zu kommentieren. Die konsequente Kommentierung des kompletten Textes war daher Konsens unter allen beteiligten Wissenschaftlern. Wobei es in „Mein Kampf“ natürlich sehr unterschiedliche Kapitel gibt, nicht nur was den Umfang betrifft. Manche Kapitel sind äußerst kommentierungs- und erläuterungsbedürftig, andere hingegen sehr viel stärker repetitiv, sodass man oft auf bereits bestehende Anmerkungen verweisen konnte.

 

A.S.: Wie habe ich mir das Layout vorzustellen? Vor allem: Wie gestalten Sie die Kommentare?

 

Thomas Vordermayer:
Wir wollten unbedingt die klassische „Bleiwüste“ vermeiden. Einige Zeilen von Hitlers Text und darunter dann kleingedruckte Anmerkungen, das kam für uns nicht infrage. In der Edition ist die Erstausgabe von „Mein Kampf“ im originalen Seitenumbruch abgebildet. Daneben und darunter steht unsere Kommentierung, in etwas kleinerer Schrift und anderer Schriftart. Unsere Anmerkungen haben eine narrative Form, sie sollen als in sich geschlossene Texte funktionieren. Diese Herangehensweise erforderte einen sehr viel größeren Aufwand als die klassische Form des Anmerkungsapparats.

 

A.S.: Gibt es nun, am Ende Ihrer Arbeit, neue Erkenntnisse zur Biographie Hitlers? War er lediglich ein geschickter Plagiator, der sich bei seinen Vorbildern einfach nur bediente, deren Thesen kompilierte?

 

Thomas Vordermayer:
Für die frühen Jahre Hitlers in Österreich gibt es kaum etwas Neues, da sind alle wichtigen Quellen bereits bekannt. Die herausragende Arbeit von Brigitte Hamann bleibt hier die Referenz.[6] Anders sieht es für die Frühgeschichte der NSDAP aus, hier würde ich sogar ein klares Forschungsdesiderat sehen. Gerade für die Jahre 1920 bis 1923 haben wir einiges Neues herausgefunden, etwa bezüglich Hitlers Behauptung, er allein habe die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) modernisiert und in der NSDAP alle wichtigen Hebel bedient. Wir zeigen, welche Personen in Wirklichkeit noch eine wichtige, ja teilweise wichtigere Rolle gespielt haben als Hitler. Wir haben zudem Hitlers Äußerungen gegenüber seinen frühen Gegnern eingehend analysiert. Dazu wurde unter anderem in aufwändiger Sichtungsarbeit die sozialdemokratische Münchener Post", Hitler nannte sie „Münchener Pest“, durchgearbeitet. Wir haben die Zeitung Ausgabe für Ausgabe ausgewertet, da Hitler in einem Kapitel sehr ausführlich auf sie eingeht und sie heftig attackiert. Es war sehr spannend nachzuzeichnen, wie die sozialdemokratische Presse schon sehr früh die Aktivitäten der NSDAP beobachtet und kommentiert hat, zum Teil sehr hellsichtig, zum Teil aber auch polemisch.

 

A.S.: Ich möchte noch einmal auf die Sprache Hitlers zurückkommen. Christian Hartmann hat in einem Interview im Magazin der Süddeutschen Zeitung" erwähnt, dass ihn die Gewalttätigkeit der Sprache sehr erstaunt und abgestoßen habe.[7] Ich dachte, das sei inzwischen bekannt, zumindest unter Experten. Ist diese Sprachform auch im zeithistorischen Kontext auffallend gewalttätig? Oder erscheint sie uns im Rückblick so erschreckend?

 

Thomas Vordermayer:
Hitler schreibt einen Text, der weder stilistisch noch inhaltlich originär ist. Dazu nutzt er die sprachlichen, auch massenpsychologisch inspirierten Stilmittel seiner Zeit. Es gibt viele Redundanzen und eine brachiale, gewalttätige Sprache. Das ist natürlich schlechter Stil, ein Stil jedoch, der viele politische Kampfschriften der Zeit prägte. Das gilt auch für den rigiden Nominalstil von „Mein Kampf“. Was Christian Hartmann vielleicht meinte, ist die Tatsache, dass in „Mein Kampf“ ganz konkrete Gewalttaten angekündigt werden. Das ist durchaus überraschend, wenn man sich den biografischen Hintergrund Hitlers während der Arbeit an seinem Buch vor Augen führt. Hitler war damals als österreichischer Staatsbürger von Ausweisung bedroht, was seine politische Karriere sehr wahrscheinlich beendet hätte. Vor diesem Hintergrund hält sich Hitler in „Mein Kampf“ oft sogar zurück und spart etwa die Ereignisse um den Novemberputsch komplett aus. Ganz entgegen der Lesererwartung übrigens. Die Zeitgenossen kannten Hitler vor allem als gescheiterten Putschisten. Doch das Bedürfnis, etwas über den November 1923 aus der Perspektive des Haupttäters zu erfahren, wird in „Mein Kampf“ nicht befriedigt. Und dennoch gibt es auch Textstellen, in denen politischer Mord konkret angekündigt wird. So wird deutlich gesagt, dass ein künftiger „Nationalgerichtshof“ die „Novemberverbrecher“ von 1918 zum Tode verurteilen und hinrichten müsse. Solche Textstellen haben es in sich, nicht nur in der Rückschau.

 

A.S.: Aber wie originär und neu ist Hitlers Text? Er bezieht sich ja, siehe Eugenik, auf Ideen, auf Texte, die schon vorhanden waren, er hatte Vorbilder. Ist er derjenige, der konsequent den Schritt geht, den seine Vorbilder zunächst nur gedacht haben? Oder fasst er aus der Eugenik-Diskussion zusammen, was für ihn am passendsten erschien?

 

Thomas Vordermayer:
Beides, würde ich sagen. Wenn man danach fragt‚ was originär an dem Text ist, dann ist es wohl die Art und Weise, wie Hitler verschiedene Ideologeme, die in der völkischen Bewegung längst kursierten, zusammenbringt und auch zuspitzt. Die Arbeit an „Mein Kampf“ war für Hitler ein Prozess der Selbstfindung. Er führte alles, was er sich angelesen hatte, zusammen in ein für ihn schlüssiges Weltbild. Hitler nahm für sich in Anspruch, etwas völlig Neues in die Welt zu bringen, also ohne Vorbilder, allein aus sich selbst heraus zu seinen „Erkenntnissen“ gekommen zu sein. Hier zeigt sich der Geniekult, den Hitler um seine eigene Person pflegte. Er distanziert sich voller Hohn von älteren Völkischen, die es nicht geschafft hatten, massenwirksam zu agieren und der Kaiserreichsgesellschaft ihren Stempel aufzudrücken. Gleichwohl basiert seine ganze Weltanschauung natürlich auf deren Ideen. Hitler wollte aber partout den Anschein erwecken, dass er etwas völlig Neues kreiert habe, und er ging dabei zum Teil durchaus geschickt vor. Er verdunkelt in „Mein Kampf“ systematisch seine Quellen und erwähnt nur wenige Vorbilder. Dazu gehören etwa Gottfried Feder und Houston Stewart Chamberlain. Häufig hatten wir es während unserer Arbeit mit Aussagen zu tun, für die wir zahlreiche ältere Texte identifizieren konnten, in denen inhaltlich dasselbe steht, ohne jedoch genau sagen zu können, auf welche Schriften sich Hitler genau stützte. Ein Plagiat im engeren Sinne ist „Mein Kampf“ also nicht. Die Frage nach Hitlers Quellen ist natürlich schon sehr alt. Letztlich ist es für die historische Bewertung aber sekundär, ob Agitator A oder Agitator B bei Hitler Pate stand. Bei dieser Frage stehen zu bleiben wäre zu simpel.

 

A.S.: Ausgehend von Ihrem ersten Leseerlebnis mit dem Buch, haben Sie persönlich heute ein neues Verständnis von der Person Hitlers und seiner Biografie?

 

Thomas Vordermayer:
Ein völlig neues nicht, aber ein ungleich tieferes. Natürlich waren mir die Grundzüge von Hitlers Biografie zu Projektbeginn bereits bekannt. Dasselbe gilt für den Text von „Mein Kampf“, auch wenn ich ihn vor 2012 noch nicht komplett gelesen hatte. Was mich überrascht hat, war die Breite und Vielfalt der Themen, über die Hitler glaubte, Auskunft geben zu können. Sein anmaßender Anspruch, die ganze Welt erklären zu können, ist umso frappierender, wenn man bedenkt, dass er nie den deutschsprachigen Raum verlassen hat, nimmt man einmal seine Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs aus. Auch die slawischen Reichsteile der Habsburgermonarchie, von denen er wie selbstverständlich spricht, hat er nie kennengelernt. Hier versucht also jemand, die Welt zu erklären, der kaum etwas von ihr gesehen hat. So kommt es etwa zu langen Ausführungen zur japanischen Marinegeschichte sowie zum antiken und modernen Städtebau. Seitenlang redet Hitler auch über die Syphilis, ein Thema, das ihn offensichtlich beschäftigt hat. Und wem ist heute schon bekannt, dass es in „Mein Kampf“ ein eigenes Kapitel über den Föderalismus gibt und eines zur „Gewerkschaftsfrage“? Ich wusste zu Projektbeginn nicht, dass dies damals so wichtige Fragen für Hitler waren.

 

A.S.: Warum war Hitler von der japanischen Marine derart fasziniert?

 

Thomas Vordermayer:
Das bleibt offen. Ausführungen zu diesem Thema besitzen schließlich auch kaum propagandistischen Mehrwert. Man erfährt in „Mein Kampf“ viel mehr und viel Detaillierteres über Hitlers Weltbild, als ich ursprünglich angenommen habe. Ich hätte jedenfalls nicht gedacht, dass für die Edition eine Beschäftigung mit japanischer Marinegeschichte notwendig sein würde. Aber sie kommt in „Mein Kampf“ eben auch vor. Selbst ein so redundanter Agitator wie Hitler konnte auf 750 Seiten nicht immer nur über die „Judenfrage“ oder die „Dolchstoßlegende“ reden.

 

A.S: Man wird Ihren Namen von jetzt an mit dem Titel „Mein Kampf“ in Verbindung bringen. In jedem Bibliothekskatalog wird Thomas Vordermayer unter „Mein Kampf“- Kommentierte Ausgabe stehen. Wie fühlt sich das an?

 

Thomas Vordermayer:
Wenn mein Name mit der kritischen Edition assoziiert wird, dann ist mir das natürlich sehr recht. Ich bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis, das wir erarbeitet haben, ein Stück weit auch stolz, zumal angesichts des enormen Zeitdrucks, unter dem wir arbeiten mussten. Die Erleichterung darüber, dass es mit dem Zeitplan geklappt hat, ist sehr groß.

 

A.S.: Auch die Erleichterung, dass es vorbei ist?

 

Thomas Vordermayer:
Ja, auch das. Die letzte große kreative Anstrengung war die Einleitung, die wir innerhalb weniger Wochen fertigstellen mussten. Aus dem eher kleinräumigen Rahmen der Kommentierung zurückzufinden in die Vogelperspektive und auf die großen Linien, das war eine anstrengende, aber auch sehr schöne Arbeit.

 

A.S.: Ich habe versucht mir vorzustellen, ich gehe morgens zur Arbeit und kommentiere Hitlers „Mein Kampf“, das kann sehr anstrengend sein. Gibt es so etwas wie eine ironische Distanz, die Sie im Laufe der Arbeit entwickelt haben?

 

Thomas Vordermayer:
Nein, eigentlich nicht. Man muss da auch die Kirche im Dorf lassen. Letztendlich scheint es mir sehr viel schwieriger, eine Arbeit emotional zu bewältigen, die sich tagein-tagaus etwa mit dem Holocaust und anderen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Das dürfte ungleich belastender sein als die Kommentierung von „Mein Kampf“.

 

A.S.: Diese Frage wurde mit Sicherheit schon oft gestellt. Trotzdem interessiert mich Ihre Meinung: Gab es im Verlauf Ihrer Arbeit einen Bezug zu gegenwärtigen Problemen? Gibt es etwa Alarmsignale, die bei Ihnen nun anders schrillen, wenn Sie die Tagespresse lesen?

 

Thomas Vordermayer:
Natürlich gibt es Überschneidungen. Ein harter Ideologiekern hat in der extremen Rechten bis heute überdauert, nicht nur wenn man an die rigide Xenophobie und den Rassismus denkt. Auch die pauschale Verunglimpfung der Presse als „Lügenpresse“ wäre hier zu nennen. Synonym dazu ist bei Hitler immer wieder von der „Judenpresse“ die Rede, die ausschließlich Lügen verbreite und der man grundsätzlich nicht trauen dürfe. Zu denken ist auch an die Figur des feigen bürgerlichen Politikers, der sich nicht traut durchzugreifen. Hitler beschwört sie in „Mein Kampf“ permanent. Dasselbe gilt für den Vorwurf an gemäßigte und linke Politiker, die Nation verraten zu haben, und die daher beseitigt werden müssten. Wenn man dann an den Galgen der Pegida-Demonstration denkt, muss man die Frage nach der Aktualität von „Mein Kampf“ schon ernst nehmen. Dennoch: „Mein Kampf“ wurde vor neunzig Jahren in einem vollkommen anderen historischen Kontext geschrieben. Man sollte sich daher vor allzu einfachen Verbindungen hüten. Gegenwartsbezüge spielen in der Edition auch keine Rolle, das wäre ein falsches Signal. „Mein Kampf“ ist in erster Linie als historische Quelle zu behandeln.

 

A.S.: …das ist klar. Aber Sie sind nicht nur Historiker, sondern auch Staatsbürger.

 

Thomas Vordermayer:
Nun, die rigiden Islamfeinde unserer Gegenwart finden in „Mein Kampf“ keine Munition, das ist kein Thema. Fremdenhass dagegen spricht freilich aus jeder Zeile, Ähnliches gilt für die extreme Gewaltbereitschaft. Wer politische Texte aus dem Umfeld der NPD mit denen des historischen Nationalsozialismus aus der „Kampfzeit“ vergleicht, wird auf einige frappierende Überschneidungen stoßen.

 

A.S.: Ich erinnere mich an eine Schlagzeile des"Tagesspiegel" vom Oktober 2015, die lautete: "Er ist wieder da". Zu sehen war ein Bild des Hitler-Darstellers aus dem gleichnamigen Film auf dem Titelfoto. Die erste Überschrift darunter lautete "Flüchtlingskrise ist Chefsache". Der Tagesspiegel musste sich dafür entschuldigen.[8] Eine Frage, die sich angesichts dieser Gedankenlosigkeit stellt und die schon geraume Zeit diskutiert wird: Können, dürfen, sollten wir inzwischen über Hitler lachen? Was meinen Sie dazu?

Thomas Vordermayer:

Natürlich gibt es in „Mein Kampf“ Textstellen, die unfreiwillig komisch sind. Etwa dann, wenn sich Hitler detailliert über Dinge auslässt, von denen er nachweislich keine Ahnung hat. Die vielen sprachlich missratenen Formulierungen tun ihr Übriges. Ich denke, das unfreiwillig Komische ist hier evident, auch wenn es grundfalsch wäre, Hitlers Text als eine Ansammlung singulärer Stilblüten oder lächerlicher Aussagen zu begreifen und damit abzutun. Das wäre zu billig. Diese Unterschätzung begleitet von Anbeginn die Geschichte des Nationalsozialismus. Außerdem bleibt einem beim Lesen das Lachen sehr bald im Halse stecken, zumal mit dem Wissen der Nachgeborenen. Hitlers Ankündigungen und Absichtserklärungen in „Mein Kampf“ beschränken sich ja nicht nur auf den unbedingten, völlig offen formulierten Willen zum Krieg gegen Russland. Wer genau liest, findet etwa auch Passagen, in denen Hitler systematische Zwangssterilisationen fordert, sich positiv zur Kinder-„Euthanasie“ äußert sowie Passagen, die auf Bestimmungen der späteren „Nürnberger Gesetze“ vorausdeuten.

A.S.: Eine letzte Frage: Wollen Sie sich in Zukunft weiterhin der NS-Forschung widmen? Oder reicht es jetzt?

Thomas Vordermayer:
Als Zeithistoriker kommt man natürlich nie ganz weg von der NS-Zeit, und den einen oder anderen Aufsatz möchte ich sicher noch schreiben. Monografien sind hingegen eine andere Sache, da habe ich meine Zweifel. Ich habe vor dem „Mein Kampf“-Projekt bereits drei Jahre an einer Arbeit geschrieben, die sich mit der völkischen Bewegung zwischen den 1920er und 1950er Jahren beschäftigt.[9] Das dabei gewonnene Wissen war natürlich für die Arbeit an der Edition sehr wertvoll, und somit war die Mitarbeit an diesem Projekt eine glückliche Fügung für mich. Nun, nach über sechs Jahren der Beschäftigung mit der völkischen Bewegung und mit dem Nationalsozialismus, neige ich aber eher dazu, mich neuen Themen zuzuwenden.

A.S.: Vielen Dank für dieses Gespräch.

 

* Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, München 2016. Hg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel, unter Mitarbeit von Edith Raim, Pascal Trees, Angelika Reizle, Martina Seewald-Mooser. BUGRIM Verlagsauslieferung, ISBN 978-3-9814052-3-1. 

Das Interview führte Annette Schuhmann am 9. Dezember 2015 im Historicum der LMU München. Den etwa einstündigen Mitschnitt des Gesprächs transkribierten Constanze Seifert, Johannes Dickel und Simon Lengemann. Die vorliegende Fassung des Interviews wurde von Thomas Vordermayer autorisiert.

 

[1] Das „Kampfhäusl“ gehörte zum Gebirgskurhaus Obersalzberg. Die Holzhütte lag in der Nähe der Pension Moritz, später Platterhof genannt. [6.1.2016].
[2] Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922–1945. Zweite aktualisierte Auflage, München 2011. Zum Thema „Mein Kampf“ als Hochzeitgeschenk, in der Ausgabe von 2006, Abschnitt: Ein Geschenk als Herrschaftsinstrument, S. 435 und 429 ff.

[3] Inzwischen wird gemeldet, dass ein Nachdruck von Mein Kampf" auch nach dem Erlöschen des Urheberrechts wegen Volksverhetzung verboten bleibt, mit Ausnahme der kommentierten Edition des IfZ. Siehe dazu: Christian Bommarius, Hitlers „Mein Kampf“ bleibt verboten, in: Frankfurter Rundschau (online) vom 17.12.2015.
[4] Angelika Reizle arbeitet in der Abteilung Forschung des IfZ und ist Assistentin in der Redaktion der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte und der Studien zur Zeitgeschichte.
[5] Martina Seewald-Mooser ist Bibliothekarin und innerhalb des IfZ zuständige Sachbearbeiterin für die Amts-, Partei- und Verbandsdruckschriften.
[6] Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1996.

[7]Hitler zu widersprechen, ist eine gewaltige Freude“. Till Krause und Meike Mai im Interview mit Christian Hartmann, in: SZ-Magazin, Heft 25/2015.
[8] "Wir bitten, die geschmacklose Verbindung von Bild und Text zu entschuldigen". Der Tagesspiegel ist am Mittwoch in Berlin mit einer missverständlichen Titelseite erschienen. Das sagt die Chefredaktion. In: Tagesspiegel, online, vom 7.10.2015.

[9] Thomas Vordermayer, Bildungsbürgertum und völkische Ideologie. Konstitution und gesellschaftliche Tiefenwirkung eines Netzwerks völkischer Autoren (1919-1959), Berlin 2016.